Die Preisverleihung der Internationalen Liga für Menschenrechte traf auf ein großes Medieninteresse. Unter anderem "Die Welt", die "Süddeutsche Zeitung", "Der Tagesspiegel" und das Fernsehen berichteten am 7.12.2008. (1)
Deutsche Presseagentur und epd meldeten:
„Für ihren gewaltfreien Widerstand sind gestern in Berlin eine israelische und eine palästinensische Initiative mit der Carl-von-Ossietzky-Medaille der Internationalen Liga für Menschenrechte ausgezeichnet worden. Die Vereinigung ‚Anarchisten gegen die Mauer‘ in Israel und das ‚Bürgerkomitee des Dorfes Bil’in‘ in Palästina setzten sich ‚gemeinsam und gewaltfrei‘ für eine Zukunft ohne Ausgrenzung, Unterdrückung und Krieg ein, sagte Liga-Präsidentin Fanny-Michaela Reisin bei der Übergabe der Medaillen.
Die Gruppe ‚Anarchists Against the Wall‘ entstand 2003 als Reaktion auf die von Israel errichtete Sperranlage zwischen Israel und dem Westjordanland. Das Bil’iner Bürgerkomitee wurde im Dezember 2004 gegründet. Der Sperrzaun trennt das Dorf von 60 % seiner Felder und Olivenhaine und nimmt ihm einen wesentlichen Teil seiner Lebensgrundlage.
Mit der Medaille erinnert die Liga für Menschenrechte an den Friedensnobelpreisträger und Pazifisten Carl von Ossietzky, der 1938 an den Folgen seiner Haft im Konzentrationslager gestorben ist. Die undotierte Auszeichnung wird seit 1962 jährlich zum Internationalen Tag der Menschenrechte am 10. Dezember verliehen.“ (2)
Wir möchten von dem berichten, was in den Massenmedien nicht erwähnt wurde, insbesondere von anarchistischen Hintergründen. (3)
Teilweise wurde in den Medien der Name der israelischen Gruppe „Anarchisten gegen die Mauer“ (AATW) nicht genannt, vermutlich, weil für viele eine Ehrung von AnarchistInnen ein Widerspruch ist. Im Gegenteil dazu hat die Internationale Liga für Menschenrechte eine anarchistische Gruppe ins Rampenlicht gestellt.
„Ein wahrer Friedensprozess kann nur zwischen Menschen und nicht zwischen Regierungen stattfinden“ Adi Winter (AATW) (4)
Adi Winter (28) ist eine Anarchistin aus Israel, die nach Berlin kam, um als AATW-Mitglied die Auszeichnung der Internationalen Liga für Menschenrechte in Empfang zu nehmen. Sie begann ihr Engagement als politische Aktivistin im Alter von 15 Jahren in der Tierschutzbewegung in Israel, die sich überwiegend aus jungen AnarchistInnen zusammensetzte. Im Alter von 18 Jahren verweigerte sie den Kriegsdienst. In Israel ist der Kriegsdienst für Frauen obligatorisch, und es gibt kein allgemeines Recht auf Kriegsdienstverweigerung (5), sondern nur wenige Ausnahmen für diesen staatlichen Zwangsdienst.
Adi Winter ist beteiligt an verschiedenen Kämpfen für Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Gleichheit, Befreiung der Tiere, Frauenrechte, Anti-Globalisierung. Dieser Kampf ist gerichtet gegen Apartheid in Israel und gegen Militarismus. Sie ist Veganerin und an den Schriften des russischen gewaltfreien Anarchisten Leo Tolstoi orientiert. Danach soll im täglichen Leben und Handeln auch persönliches Verhalten reflektiert werden.
Aus ihrer Rede zur Preisverleihung:
„Ich stehe hier auf diesem Podium als Anarchistin, obwohl diese Situation in mir und meinen Genossinnen und Genossen gemischte Gefühle hervorruft. Wir sträuben uns dagegen, mit Preisen für politischen Aktivismus ausgezeichnet zu werden. Wir würden es vorziehen, nicht zum Ruhme hervorgehoben zu werden und dafür Dank zu empfangen, dass wir tun, was wir für unsere Pflicht halten. Trotz unserer anarchistischen Bedenken, die unter normalen Umständen die Oberhand behalten hätten, sind wir als Israelis – Nutznießer der ungerechten Taten unseres Landes gegenüber den PalästinenserInnen – sehr dankbar für Ihre Unterstützung des palästinensischen Kampfes gegen die israelische Apartheid. … Wir sind uns der Bedeutung des Sammelns internationaler Unterstützung für den noch andauernden Kampf bewusst und der großen Bedeutung dieser Auszeichnung. …
Hier, ebenso wie in den Oliven-Hainen, möchte ich jedoch betonen, dass wir keine gleichrangigen Partner sind, sondern eher Besatzer, die sich den Besetzten in deren Kampf angeschlossen haben. Uns ist klar, viele verstehen die Beteiligung von Israelis an einem palästinensischen Kampf wie ein Siegel der Zustimmung; in unseren Augen geht es in dieser Partnerschaft nicht darum, dem palästinensischen Kampf seine Legitimität zu verschaffen – denn die hat er, mit oder ohne uns – sie bietet uns eher eine Gelegenheit, mit Aktionen eher als mit Worten, die Schranken nationaler Zugehörigkeit zu überwinden.
In den vergangenen vier Jahren und durch über 200 Demonstrationen ist Bil’in zu einem Symbol geworden, zu einem besonderen Brennpunkt für die Bewegung gegen Israels Mauer – eine Bewegung, die in den vergangenen sechs Jahren Tausende von Menschen in den Widerstand auf Graswurzelebene brachte und einen noch nie da gewesenen gemeinsamen palästinensisch-israelischen Kampf geschmiedet hat.
Die Tatsache, dass es sich um eine unbewaffnete Bewegung von ZivilistInnen handelt, beweist nur das Ausmaß der exzessiven und ungerechten Gewalt der Armee. Tausende sind verletzt worden. Hunderte wurden inhaftiert und für lange Zeit eingekerkert. 15 wurden umgebracht, 10 von ihnen waren Kinder und Jugendliche. Wir möchten diese Medaille gerne den letzten beiden Opfern in diesem Kampf widmen: dem zehnjährigen Ahmad Mousa und dem siebzehn Jahre alten Youssef Mirah, die vor vier Monaten von Grenzpolizisten bei deren Versuch, eine durch die Trennung entstandene Empörung militärisch niederzuschlagen, ermordet wurden …“
Diese und weitere Reden der Festveranstaltung sind auf der Homepage der Internationalen Liga für Menschenrechte dokumentiert (6). Dort gibt es die Rede der Präsidentin der Liga, von Uri Avnery, der palästinensischen Delegation und die Laudatien für die beiden ausgezeichneten Gruppen.
Die Internationale der Kriegsdienstgegner/innen (IDK) übermittelte ein Grußwort. Sie betonte die bedeutsamen Graswurzel-Aktivitäten in Israel und Palästina für die Entmilitarisierung der Gesellschaften. Die IDK sieht darin eine Verbindung ihrer Unterstützung für israelische Kriegsdienstverweigerer/innen. Ziviler Ungehorsam und gewaltfreie Aktionen sind notwendig um Barrieren zu durchbrechen. IDK und Graswurzelrevolution hatten einen gemeinsamen Büchertisch im Foyer der Veranstaltung, der Beachtung fand.
Im musikalischen Rahmenprogramm des Festaktes wurde die kulturelle Verbundenheit zur arabischen und jüdischen Kultur hergestellt: der palästinensische Musiker Abed Abu Imad improvisierte auf der orientalischen Laute, der Ud und die KlezMischpoche (7) spielte traditionelle Klezmer-Musikstücke. Der Festredner Uri Avnery betonte, dass die Grundlage des Friedens auf der friedlichen Zusammenarbeit beider Völker basieren muss, wie auch immer die politische Lösung aussehen wird. Dafür stehe die Zusammenarbeit in den gewaltfreien Aktionen und als Symbol das Dorf Bil’in. Seiner Meinung nach sei der „einzig mögliche Frieden“ die Zweistaaten-Lösung, der Staat Israel und der Staat Palästina, die friedlich als Nachbarn zusammenleben.
Die Realität gibt den AnarchistInnen recht
In dieser Region hatte die staatspolitische Orientierung im praktischen Leben der Menschen bisher wenig Erfolge. Staatsgründungen basieren meist auf militärischen oder terroristischen Aktionen. Diese gilt es aufzuheben. Ein Staat ist immer ein Gewaltgebilde, das sich konstituiert durch Bürokratie, Militär und Polizei. Die libertäre Perspektive besteht in der Überwindung der Barrieren (8). Das bedeutet die Entmilitarisierung der Gesellschaften, verbunden mit einem Friedensprozess zwischen den Menschen durch Verständigung und Menschenrechte.
(1) Videoklips der Tagesschau (ARD):
www.tagesschau.de/multimedia/video/video417842.html
www.tagesschau.de/multimedia/video/video418514.html
(2) Zit. in: Die Welt / 8. Dezember 2008 (www.welt.de)
(3) Eine Graswurzel-Radiosendung zum Thema: www.freie-radios.net/portal/content.php?id=25352
(4) Adi Winter, zit. n.: Neues Deutschland, 8.12.2008
(5) Siehe: Zur Situation der KDV in Israel, Oktober 2008, hg: IDK und Amnesty Internationael Berlin (Gruppe Israel / Besetzte Gebiete), (kostenlos) Bezug: www.zuendbuch.de
(6) Siehe: www.ilmr.de, der Internet-Auftritt der Liga: hier auch die ungekürzte Fassung der Rede von Adi Winter (in engl. u. dt. Übersetzung)
(7) vgl. GWR Nr. 334, Dezember 2008, S. 4: Beitrag der IDK / KlezMischpoche u. Rolf Gössner (Internationale Liga für Menschenrechte) zur Preisverleihung.
(8) Das Buch zum Thema: Sebastian Kalicha (Hg.): Barrieren durchbrechen! Israel/Palästina: Gewaltfreiheit, Kriegsdienstverweigerung, Anarchismus, Verlag Graswurzelrevolution, Nettersheim, Oktober 2008, ISBN 978-3-939045-08-3, Infos: www.graswurzel.net