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Eindrücke aus dem (anderen) Haschemitischen Königreich

| Sebastian Kalicha

Jordanien ist ein Land, von dem nur selten etwas in westlichen Medien zu hören oder zu lesen ist. Das liegt vermutlich daran, dass es aus den Nachbarstaaten Jordaniens wie Irak, Israel/Palästina, Syrien und Saudi-Arabien in Zeiten wie diesen offensichtlich mehr zu berichten gibt als aus dem gemeinhin als "stabil" und "ruhig" bewerteten Haschemitischen Königreich. Dafür, dass der neoliberale, repressive und monarchistische "Frieden" im Land nicht unwidersprochen bleibt, sorgt u.a. eine aktive, große, linke und emanzipatorische Bewegung im Land - in der auch AnarchistInnen mitwirken.

Das Jordanische Herrscherhaus mit seinem Regenten König Abdullah II. steht im Ausland, vergleicht man es mit anderen arabischen Ländern, ziemlich gut da. Das hat Gründe. Politisch gesehen war und ist Jordanien dem israelischen Staat wohlwollend gesonnen, und auch mit sog. „Terrorcamps“ und anderen reißerischen Meldungen kann es nicht aufwarten. Selbst die jordanischen Muslimbrüder, unter dem Namen Islamische Aktionsfront aktiv, sind im Vergleich zu ihren palästinensischen und ägyptischen Pendants kaum eine Meldung wert, lassen sie doch das jordanische Königshaus aufgrund dessen angeblich direkten familiären Linie zum Propheten Mohammed unangetastet. Betrachtet man die Region jedoch ohne die „War on Terror“-Brille, sieht man Erstaunliches.

Die Social Left

Die Social Left ist eine Organisation, in der sich verschiedene dissidente Kräfte Jordaniens zusammengeschlossen haben. Das Spektrum reicht von MarxistInnen (die aus der offiziellen Kommunistischen Partei ausgetreten sind) über KünstlerInnen, MusikerInnen, Intellektuelle, GewerkschafterInnen (die den staatsnahen Gewerkschaften den Rücken gekehrt haben, um neue Basisgewerkschaften ins Leben zu rufen), StudentInnen, kritische JournalistInnen bis hin zu AnarchistInnen.

Im Dezember 2007 wurden die ersten Treffen – u.a. vom Jordan Social Forum – organisiert, um Pläne, eine neue, größere Organisation ins Leben zu rufen, zu diskutieren. Im März 2008 wurde die Social Left gegründet. Ideologisch gibt es keine strikte Ausrichtung. Sie ist links und pluralistisch, so dass marxistische AktivistInnen ebenso Platz finden wie AnarchistInnen und Menschen, die sich keiner politischen Fraktion verbunden fühlen, sondern lediglich das Bedürfnis haben, etwas zu verändern. Die Social Left fühlt sich den globalen, emanzipatorischen Bewegungen gegen eine neoliberale Globalisierung verbunden. Themen, die behandelt werden, sind die verbreitete Korruption der politischen Elite und die Repression, die von dem herrschenden Regime ausgeht, der Widerstand gegen neoliberale Reformen des Staates, die auch in Jordanien vor allem die ärmeren Schichten am härtesten treffen, sowie die kriegerischen Auseinandersetzungen in der Region.

Die Größe der Organisation ist der Faktor, der Sicherheit und Stärke gibt. Die laut AktivistInnen in kurzer Zeit auf über 1.000 AktivistInnen angewachsene Social Left ist stets zur Stelle, wenn jemand aus der Organisation verhaftet, bedroht oder von seinem/ihrem Chef gekündigt wird.

Organisatorisch steckt die Social Left in einem Dilemma: Bis dato ist man noch keine offiziell registrierte Organisation.

Diesen Schritt hat man deshalb noch nicht getätigt, da er von vielen als Zugeständnis an die herrschenden Verhältnisse gesehen wird, die man bekämpft. So löblich diese Geradlinigkeit auch ist, so ist sie mit dem Problem verbunden, dass für AktivistInnen der Organisation politische Tätigkeit – vom Verteilen von Flugzetteln bis hin zu Kundgebungen und Demos – illegal ist. AktivistInnen wurden bereits wegen des Verteilens von Flugblättern eingesperrt.

All diese Sorgen würden sich minimieren, wäre man eine vom Staat anerkannte Organisation, was jedoch wiederum mit Bedingungen einhergeht, die für viele – z.B. für die AnarchistInnen – nicht akzeptabel sind.

Alternative Gewerkschaften

Fernab der vom Staat gesteuerten Gewerkschaften hat sich am 1. Mai 2006 eine neue, unabhängige Gewerkschaft in Jordanien gegründet, in der sich die „daily workers“ organisiert haben, die in der Regel sehr wenig verdienen, schlecht versichert sind und leicht gekündigt werden können. Laut einem Gründungsmitglied der Gewerkschaft haben sich in ihr 13.000 ArbeiterInnen organisiert. Die meisten von ihnen leben unter der Armutsgrenze. Die vom Staat gesteuerte Gewerkschaft zählt rund 50.000 Mitglieder.

Die alternative Gewerkschaft ist mit der Social Left assoziiert und ist ebenfalls vom Staat nicht anerkannt, weshalb viele ArbeiterInnen Angst haben, sich in ihr zu organisieren, da es immer wieder zu Schikanen gegenüber ihren AktivistInnen kommt. Trotzdem kämpfen die ArbeiterInnen für die Legitimität ihrer Gewerkschaft. Sie tun dies vorwiegend mit wilden Streiks, von denen es seit ihrer Gründung bereits 16 gab.

„Das sind aber nur die großen. Die kleineren Streiks, wie jener vor wenigen Tagen, an dem sich 90 ArbeiterInnen beteiligten, sind hier nicht mitgezählt“, (1) berichtet ein Gewerkschaftsaktivist. Auch Demos werden organisiert und fanden teilweise direkt vor dem Palast des Königs statt, was mehrfach zu Auseinandersetzungen mit der Polizei geführt hat.

Die AnarchistInnen

Innerhalb der Social Left gibt es eine anarchistische Gruppe, der sich zwei Dutzend AktivistInnen angehörig fühlen. Weit mehr AktivistInnen sympathisieren mit den Positionen der AnarchistInnen, auch, wenn sie sich nicht als solche bezeichnen. Häufig kamen AnarchistInnen über kommunistische Strömungen oder über die Kunstszene in Kontakt mit libertären Theorien. Vor allem arabische Publikationen über den Spanischen Bürgerkrieg und eine Übersetzung von Daniel Guérins Buch Anarchismus. Begriff und Praxis inspirierte viele, sich näher mit dem Anarchismus zu beschäftigen.

Mittlerweile übersetzt die Gruppe selbst anarchistische Texte ins Arabische und stellt sie auf ihren Blog ins Internet. U.a. wurden Teile aus What Is Communist Anarchism? (2) von Alexander Berkman sowie ein Text von Sébastien Faure übersetzt.

Der angesprochene Pluralismus in der Social Left führt natürlich auch zu Unstimmigkeiten. Es tun sich z.B. in Fragen der internen Organisationsstrukturen Widersprüche auf zwischen den libertären AktivistInnen und den oft älteren Ex-Mitgliedern der KP. Letztere befürworten die klassischen Organisationsmuster einer Partei, mit GeneralsekretärIn, Mehrheitsprinzip und „demokratischen Zentralismus“.

Die AnarchistInnen und viele der jüngeren AktivistInnen der Social Left sprechen sich jedoch für eine dezentrale, auf konsensualer Entscheidungsfindung basierende Organisationsform aus.

Die Tatsache, dass die Social Left aufgrund ihrer Größe und ihrer Solidarität bei Repressionen ein großer Sicherheitsfaktor ist, ist u.a. auch ein Grund, weshalb die AnarchistInnen, trotz diverser Meinungsverschiedenheiten, mit dabei sind.

„Wären wir eine eigene Gruppe, losgelöst von der Social Left, würde uns der Staat sofort zerschlagen und niemand wäre zur Stelle, der uns helfen könnte. Wir hatten eigentlich keine Wahl. Entweder, wir AnarchistInnen gehen alle geschlossen ins Gefängnis, oder wir partizipieren bei der Social Left und versuchen, sie anarchistischer zu machen“, so die Einschätzung eines Anarchisten aus Amman.

Die Repression kommt aber dennoch mit voller Härte.

Bereits vor einigen Monaten wurden AnarchistInnen wegen des Verteilens von Flugblättern anlässlich des Gedenkens an die Nakba (3) von der Polizei schikaniert und teilweise verhaftet. Vor wenigen Wochen erreichte dies einen neuen Höhepunkt: Als zwei Anarchisten politische Graffiti sprühten, wurden sie vom Inlandsgeheimdienst überrascht und verhaftet. Sie wurden misshandelt und zwei Wochen – teilweise im Gefängnis des Geheimdienstes – inhaftiert. Kurze Zeit später wurden zwei weitere Anarchisten verhaftet und für rund eine Woche – davon teilweise in Isolationshaft – eingesperrt.

Mittlerweile sind wieder alle Inhaftierten frei, jedoch war dies ein deutliches Zeichen von Seiten des Staates, dass die Aktivitäten der AnarchistInnen überwacht und bestraft werden. Viele aus der Gruppe sind aufgrund dieser Ereignisse eingeschüchtert.

Bezug auf den Sufismus

Ein weiteres Merkmal einiger AnarchistInnen in Jordanien ist ihr Bezug auf den Sufismus. (4) Einige – nicht alle, denn es gibt auch strikte AtheistInnen unter ihnen -, begannen „nach irgendeiner Form des Anarchismus in unserer eigenen Geschichte und Kultur“ (5) zu suchen, und fanden dies u.a. in dem Buch Sufi Tropics des irakischen Schriftstellers Hadi al-Alawi. Darin wird z.B. das Denken des gewaltfreien Anarchisten Leo Tolstoi gewürdigt.

Auch auf den ersten „politisch gefangenen“ Sufi, den im Iran geborenen, aber zumeist im Irak lebenden Husain ibn Mansur al-Halladsch, wird oft Bezug genommen. Er „zählte zu den größten Asketen seiner Zeit“ (6) und wurde, offiziell wegen einer umstrittenen theologischen Aussage, im Jahre 913 eingesperrt, was jedoch „eher politische Gründe gehabt haben [dürfte]“. (7) Neun Jahre später wurde er hingerichtet. Heute ist „für die progressiven Schriftsteller der modernen islamischen Welt“ Halladsch jemand, „der gegen ‚das Establishment‘ kämpfte und für seinen Freiheitswillen hingerichtet wurde“. (8)

Israel/Palästina, Libanon, Irak

Wenn in den sozialen Bewegungen Jordaniens über den Israel/Palästina-Konflikt diskutiert wird, so muss man stets in Erinnerung behalten, dass etwa 65 % der jordanischen Bevölkerung eigentlich PalästinenserInnen sind – ein Resultat der massiven Flüchtlingsströme ab 1948. Grundsätzlich werden die zwei üblichen Konzepte für einen Frieden diskutiert: zum Einen die klassische Zwei-Staaten-Lösung, zum Anderen die Ein-Staaten-Lösung, in der Israelis und PalästinenserInnen mit gleichen Rechten auf dem gesamten Gebiet des historischen Palästinas leben können. Zu Positionen, die Jüdinnen und Juden kein Recht einräumen würden, in Palästina zu leben, wird in diesen Kreisen klar Stellung bezogen. „So etwas wird als faschistisch angesehen“, meint Hamza Budeiri dazu.

Oft ist auch der jüngste Krieg zwischen Israel und dem Libanon bzw. der Hisbollah im Sommer 2006 Mittelpunkt der Diskussion.

Im Sommer 2006 gab es auch in Amman große Demonstrationen gegen den Krieg, die von der Polizei gewaltsam aufgelöst wurden. Der bewaffnete Widerstand gegen US-Truppen im Irak oder gegen Einheiten der israelischen Armee im Libanon und in den besetzten Gebieten wird als legitim angesehen, jedoch hat die Social Left Probleme damit, wenn dieser Widerstand von religiös motivierten Gruppen ausgeht.

Die gewaltfreien Graswurzelbewegungen in Palästina, wie jene in dem palästinensischen Dorf Bil’in (vgl. GWR 331), werden unterstützt.

Im jüngsten Gaza-Krieg waren die AnarchistInnen federführend bei der Organisation von Demonstrationen vor der israelischen Botschaft in Amman, was jedoch von Regierungsseite verboten wurde und von vielen Gruppierungen (z.B. von den jordanischen Muslimbrüdern und der PFLP) auch befolgt wurde. Für die AnarchistInnen und andere solidarische AktivistInnen hingegen war dieses Verbot irrelevant, und sie zogen direkt vor die Botschaft, um gegen den Krieg zu protestieren.

Und der König?

Die Kriege und Krisen in der Region sind nur ein Teilbereich, in dem sich die AktivistInnen der Social Left und die AnarchistInnen engagieren. Ein großer Teil der Energien wird aufgebracht, um die von außen so „stabil“ wirkende Realität dieser konstitutionellen Monarchie herauszufordern und für eine emanzipatorische Alternative zu kämpfen.

Von Regierungsseite wird versucht, Probleme z.B. mit Patriotismus und Personenkult zu übertünchen. König Abdullah II. ist überall in den verschiedensten Rollen – vom fürsorglichen Vater bis zum martialischen Kommandanten – abgebildet. Amman ist im Besitz des längsten Fahnenmasts der Welt, und die jordanische Fahne ist weit sichtbar. An einem der schönsten Aussichtsplätze der Stadt – mit direktem Blick auf die Fahne – ist ein Graffiti von den AnarchistInnen zu lesen: „Ich friere und bin obdachlos, holt die Fahne herunter, damit ich mich zudecken kann.“

König Abdullah II. hat in einer seiner regelmäßigen Ansprachen schon einmal indirekt vor den sozialen Bewegungen gewarnt. Die Ängste des Königs sind nicht unberechtigt.

(1) Sämtliche Zitate, falls nicht anders gekennzeichnet, entstammen Gesprächen, die der Autor mit Mitgliedern der Social Left und mit AnarchistInnen in Amman im Sommer 2008 geführt hat.

(2) Deutsche Übersetzung des Buches: Alexander Berkman: ABC des Anarchismus, Grafenau 1999 (Trotzdem Verlag)

(3) Als Nakba (arabisch für "Katastrophe") wird in Palästina die Flucht bzw. Vertreibung von rund 750.000 PalästinenserInnen während des Krieges von 1948 bezeichnet.

(4) Den Sufismus (die islamische Mystik) hier zu skizzieren, würde den Rahmen dieses Textes sprengen. Für eine kurze Einführung und Literaturhinweise siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Sufismus

(5) www.ainfos.ca/08/mar/ainfos00387.html, 1.12.2008

(6) Annemarie Schimmel: Sufismus. Eine Einführung in die islamische Mystik, München 2000, S. 32

(7) Ebd.

(8) Ebd., S. 34

Weitere Infos

Blogs der AnarchistInnen in Amman (Englisch und Arabisch):

http://anarchism-jordan.blogspot.com
http://1ofamany.wordpress.com

Website der Social Left (Arabisch):
www.joleft.net