Die Situation im Nahostkonflikt hat sich mit dem jüngsten Krieg in Gaza wieder erheblich zugespitzt.
Nachdem die Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen aufgekündigt wurde, leiteten heftige Bombardements der israelischen Luftwaffe eine Bodenoffensive der israelischen Armee (IDF) ein, deren offizielles Ziel es war, den Beschuss israelischer Städte durch selbstgebaute Qassam-Raketen aus dem Gazastreifen zu unterbinden. Jedoch zeigt der Krieg eines zum wiederholten Male ganz deutlich: Es gibt keine militärische Lösung.
Wie in Kriegen üblich, gibt es auch bei diesem unterschiedliche Versionen dessen, weshalb es zu dieser Eskalation gekommen ist. Die offizielle Sichtweise ist relativ banal: Die Hamas hat sich geweigert, das Waffenstillstandsabkommen zu verlängern, und schoss prompt wieder Qassam-Raketen auf Israel. Um dies zu unterbinden, wurde die Operation „Gegossenes Blei“ durchgeführt, die bis zu dem bei GWR 336-Redaktionsschluss noch bestehenden Waffenstillstand 13 Israelis und über 1.300 PalästinenserInnen das Leben gekostet hat. 5.300 PalästinenserInnen wurden verletzt. Nach Angaben von amnesty international hat das israelische Militär auch Phosphorgranaten gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt.
Der Sachschaden liegt alleine bei den Gebäuden in Gaza bei ca. 1,5 Milliarden US-Dollar.
Libanon 2006, Gaza 2008/09
Selten kommt zur Sprache, dass die Vereinbarungen zu einer Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas an zwei Bedingungen gekoppelt waren: Israel verlangte von der Hamas, dass der Raketenbeschuss auf israelische ZivilistInnen – der alle Kriterien des Terminus „Terrorismus“ erfüllt – eingestellt werden müsse.
Und die Hamas verlangte von Israel im Gegenzug, dass die Blockade des Gazastreifens aufgehoben bzw. gelockert werden müsse, die seit der Machtübernahme der Hamas im Gazastreifen im Juni 2007 aufrechterhalten wird.
Der bewaffnete Arm der Hamas – die Qassam-Brigaden – hielt sich weitgehend an das Abkommen (1), die Blockade blieb jedoch bestehen. Vor allem deshalb kündigte die Hamas den Waffenstillstand auf.
Uri Avnery von Gush Shalom schrieb in einem Kommentar: „Was den Zusammenbruch der Feuerpause betrifft, so gab es nie eine wirkliche Feuerpause. Das Wichtigste an der Feuerpause im Gazastreifen hätte die Öffnung der Grenzübergänge sein müssen. Die Blockade […] ist ein Kriegsakt, genauso, wie wenn Bomben fallen und Raketen abgefeuert werden.“ (2)
Die Blockade des Gazastreifens – ein Akt der kollektiven Bestrafung, die nach internationalem Recht illegal ist – kann im Grunde genommen als der erste Anlauf verstanden werden, die Hamas zu schwächen bzw. zu stürzen. Die „Regierung der nationalen Einheit“, die die Hamas 2006 gemeinsam mit der unterlegenen Fatah bildete, wurde durch das Nichtanerkennen des Wahlergebnisses durch Israel, EU und USA verhindert, was schließlich in den blutigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Fraktionen im Gazastreifen gipfelte. Auch dieses Ereignis wird immer wieder ins Feld geführt, wenn es darum geht, den Krieg zu rechtfertigen. Weniger bekannt ist jedoch die Vorgeschichte.
„Die Ereignisse, die […] zum Staatsstreich der Hamas führten, lesen sich heute etwa so, wie im Sommer 2007 schon vermutet wurde“, schreibt Norman Paech in Ossietzky. „Die USA […] drängten den Palästinenser-Präsidenten Abbas […], die Situation in Gaza zu bereinigen. Ihr Mann war der damalige Abbas-Vertraute und Sicherheitsberater Mohammad Dahlan.
Der Plan war, Dahlan mit militärischen Kräften und neuen Waffen auszurüsten, um Fatah in den Stand zu versetzen, die gewählte Hamas-Regierung aus dem Amt zu jagen. Hamas bekam Wind von dem Komplott und drehte den Spieß um, bevor die zahlenmäßig weit überlegenen Fatah-Truppen die notwendige Kampfstärke erreicht hatten. Der Plan scheiterte also und konnte nur mit anderen Mitteln weitergeführt werden.“ (3)
Die Strategie, der Hamas durch Blockade und Boykott den Boden unter den Füßen wegzuziehen, ging bislang ebenfalls nicht auf. Schließlich setzte man auf das Mittel, das auch schon im Libanon 2006 eingesetzt wurde, um eine andere unliebsame (und aus libertärer Sicht nicht minder unsympathische) Bewegung – die Hisbollah – auszuschalten: Krieg. Dass die Option Krieg 2006 im Libanon kläglich gescheitert ist, 1.200 ZivilistInnen das Leben kostete und die Hisbollah im Libanon nun stärker und angesehener ist als je zuvor, ließ darauf hoffen, dass man von Seiten der israelischen Regierung von solchen Schritten in Zukunft tendenziell absehen wird. Was wir aber im Gazastreifen erleben, lässt diese Hoffnung platzen, und ebenfalls wie im Libanon 2006 dürfte auch diese Operation schon länger geplant gewesen sein. Der Journalist Jonathan Cook schreibt, dass „die PolitikerInnen und Generäle sich seit Monaten – möglicherweise Jahren – auf diese Attacke vorbereitet haben“, (4) was sich mit der Meinung der Politologin Margret Johannsen deckt, dass es möglich gewesen wäre, die Waffenruhe zu verlängern, „wenn Israel von seinem Ziel abgelassen […] hätte, die Hamas zu zerstören“. (5)
Dass Gruppierungen wie die Hamas durch Operationen dieser Art aber nicht ausgeschaltet werden können, sondern am ehesten noch weiter Zulauf erhalten, ist wenig umstritten. Doch ähnlich wie im Libanon – und auch dort ist diese Rechnung schon nicht aufgegangen – wird offensichtlich darauf spekuliert, dass ein Resultat des Krieges ist, dass die palästinensische Bevölkerung der Hamas die Schuld geben und sich von ihr abwenden wird.
Der katholische Priester von Gaza, Manuel Musallam, interpretiert die Situation jedoch so, dass es „keine einzige Stimme in ganz Gaza [gibt], die sich gegen die Hamas erhebt. Im Gegenteil: Die Bombardierung, die Toten und Verletzten führen dazu, dass mehr und mehr Jugendliche in den vergangenen Stunden sich der Bewegung angeschlossen und zu den Waffen gegriffen haben.“ (6)
Es ist zu befürchten, dass der Krieg nicht nur in den besetzten Gebieten solche Entwicklungen fördern wird. Selbst Israel freundlich gesonnene arabische Regime wie Ägypten oder Jordanien werden durch die Bevölkerung bereits verstärkt unter Druck gesetzt.
Die humanitäre Situation im Gazastreifen – das International Committee of the Red Cross (ICRC) sprach von einer „Krise humanitärer Art in großem Maßstab“ (7) – kann vor allem seit der Blockade durch Israel nur als katastrophal bezeichnet werden, wenngleich dies von der israelischen Regierung bestritten wird. „Es gibt keine humanitäre Krise“ ließ Zippi Livni bei einer Pressekonferenz verlauten, und auch die Weigerung der israelischen Regierung, internationale JournalistInnen während des Kriegs in den Gazastreifen einreisen zu lassen, spricht Bände. (8)
Selbst Organisationen wie das ICRC oder die UNO kritisierten das israelische Vorgehen in ungewohnt scharfer Art und Weise. (9)
Krieg oder Dialog mit Hamas?
Die Hamas – ein Ableger der ägyptischen Muslimbrüder – ist ein Produkt der Ersten Intifada (1987-1993), als der anfänglich primär unbewaffnete Aufstand von der IDF brutal niedergeschossen wurde und sich in Folge dessen u.a. der militante, islamisch-nationalistische Widerstand verstärkt zu organisieren begann. Paradoxerweise war Israel der Hamas zu dieser Zeit noch wohlwollend gesonnen, denn von den bis dahin noch marginalisierten Bewegungen des politischen Islam erhoffte man sich eine Schwächung des damals dominierenden säkularen, eher linken Widerstands der PLO. Die israelische Politik gegenüber der Hamas zu dieser Zeit könne, so die Politologin Helga Baumgarten, „am besten charakterisiert werden als eine Politik der freundlichen Duldung“ und in manchen Fällen als „eine Politik der direkten Unterstützung.“ (10) Das Blatt hat sich heute ins Gegenteil gewendet: War die Hamas damals opportun und die PLO der große Feind, so sieht sich Israel nun durch eine Reihe islamistischer Gruppierungen bedroht, und die in der PLO dominierende Fatah ist nach Arafats Tod 2004 zum gehätschelten Liebling avanciert.
In der Ersten Intifada noch eher im Hintergrund und zeitweise opportun, war die Hamas in der Zweiten Intifada bereits federführend und bediente sich vermehrt abscheulicher Taktiken wie Selbstmordattentate gegen israelische ZivilistInnen.
Nicht nur das israelische Friedenslager wird nicht müde, daran zu erinnern, dass es für den Konflikt keine militärische Lösung gibt und auch mit der Hamas ernsthaft verhandelt werden müsse. Die Geschichte zeigt, dass auf diesem Wege selbst aus den radikalsten Scharfmachern kompromissbereite Verhandlungspartner werden können, wie dies die Fatah schon fast tragisch (ist sie heute unter Abbas doch schon beinahe nur noch ein Befehlsempfänger von EU und USA) veranschaulicht. Auch bei der Hamas war ein solcher Transformationsprozess zu erkennen. Die Charta von 1988, in der lächerliche, verschwörungstheoretische und zutiefst antisemitische Absätze zu finden sind, ist für die Partei, wie sie sich heute präsentiert, irrelevant. (11)
Führende Persönlichkeiten der Hamas wie Khaled Meshal oder Ismail Haniyeh – und das ist besonders wichtig zu erwähnen – haben 2006 nach der Wahl angekündigt, dass sie eine Zwei-Staaten-Lösung akzeptieren würden, wovon in der Öffentlichkeit erstaunlicherweise kaum Notiz genommen wurde. (12) Bei Ismail Haniyeh klingt das so: „Wenn Israel erklärt, dass es dem palästinensischen Volk einen Staat ermöglicht und ihm seine Rechte zurückgibt, dann sind wir bereit, Israel anzuerkennen.“ (13)
Mit militärischen Aktionen und Blockaden werden diese Ansätze aber zerstört und eine weitere Radikalisierung der Bewegung gefördert, welche den reaktionären Hardlinern in der Partei beständig Rückenwind verleiht. Ähnliche Wortmeldungen zu einer Zwei-Staaten-Lösung, wie dies 2006 vermehrt zu vernehmen war, wird man von der Hamas nun vermutlich nicht mehr so schnell hören, und selbst die verheerenden Selbstmordattentate gegen die israelische Zivilbevölkerung, die seit Jahren von der Hamas nicht mehr durchgeführt wurden, sind angesichts des Krieges wieder angekündigt worden. Johannsen konstatiert dazu: „Man ist dem Frieden keinen Schritt näher gekommen […]. Die Hamas […]befand sich auf dem Weg von einer Widerstandsbewegung zu einer politischen Partei. Die Hamas ist natürlich keine einheitliche Organisation.
Sie hat Militante, Hardliner, aber auch politisch denkende Pragmatiker. Zwischen diesen Flügeln hat es immer schon Auseinandersetzungen gegeben. […] Im Krieg passiert es aber, dass sich die Hardliner durchsetzen. Israel hat die Chance nicht genutzt, dass die Hamas zu einer Partei wird, die an ihrer Regierungsarbeit gemessen, und eventuell dadurch auch entzaubert wird. Das ist meiner Meinung nach ein schwerer Fehler.“ (14)
Eine solche Entwicklung kann weder im Interesse der palästinensischen noch der israelischen Bevölkerung liegen, sie ist aber ein unvermeidbares Resultat des Krieges.
Israelische AnarchistInnen gegen den Krieg
Von Seiten israelischer AntimilitaristInnen und AnarchistInnen gab es eine Reihe von Protestaktionen gegen den Krieg, darunter z.B. eine „Critical Mass“ und ein „Die-in“ vor dem Militärflughafen Sde Dov, wo sich zwei Dutzend AktivistInnen von Anarchists Against the Wall (AATW) mit blutverschmierten weißen Overalls auf die Einfahrtstraße legten. 21 von ihnen wurden verhaftet und für einige Tage eingesperrt. Bei jeder Demonstration in Israel gegen den Krieg findet sich ein großer anarchistischer Block wieder.
Die Repression des Staates gegen AATW wird seit Ende 2008 wieder spürbar intensiviert. Es gab Hausdurchsuchungen bei AktivistInnen und Anschuldigungen, die bei der Blockade verhafteten AnarchistInnen bildeten eine „kriminelle, klandestine Organisation“, die „viel ernstzunehmendere und gefährlichere Versuche [als die Blockade] plant“, (15) um Israels Krieg zu sabotieren. Den Anzeichen zufolge ist zu befürchten, dass in näherer Zukunft wieder eine Welle der strafrechtlichen Repression über AATW hereinbrechen wird. Es kann aber davon ausgegangen werden, so AATW in einem Statement, dass „ungeachtet aller rechtlichen Manöver des israelischen Staates AnarchistInnen in Israel auch weiterhin damit fortfahren werden, Unrecht entgegenzutreten und Unterdrückung an allen Fronten zu bekämpfen“. (16)
(1) Diese Provokationen kamen nicht nur - wie man vermuten würde - von palästinensischer Seite. Am 5. November 2008 beispielsweise bombardierte die israelische Luftwaffe Ziele in Gaza und tötete dabei sechs PalästinenserInnen. Die Waffenruhe dauerte offiziell jedoch bis zum 19. Dezember. Des weiteren werden auch immer wieder Raketen von Fraktionen wie z.B. Islamischer Djihad nach Israel gefeuert, auf die die Hamas keinen Einfluss hat.
(2) Uri Avnery: Molten Led, online unter: http://zope.gush-shalom.org/home/en/channels/avnery/1230937462/, übersetzt in der taz vom 5.1.2009
(3) Norman Paech: Warum kein Kontakt mit Hamas? in: Ossietzky 7/2008
(4) Jonathan Cook: Bombing to make the Gaza prison even more secure for Israel, The Electronic Intifada, 7. Januar 2009. Online unter: http://electronicintifada.net/v2/article10132.shtml
(5) Margret Johannsen: "Nicht im strategischen Interesse der Hisbollah", Interview in: Der Standard, 8. Januar 2009
(6) APA: Katholischer Priester: Israelische Angriffe bringen der Hamas hunderte neue Mitglieder, Der Standard, 2. Januar 2009
(7) ICRC Press briefing 6.1.2009: Gaza: plight of civilians traumatic in "full-blown humanitarian crisis", online unter: www.icrc.org/web/eng/siteeng0.nsf/htmlall/palestine-press-briefing-060109?opendocument
(8) Vgl.: APA/dpa: Israel verbietet Einreise von ausländischen Journalisten, Der Standard, 4. Januar 2009
(9) Am 6. Januar wurde eine Schule der UNO in Jabaliya, in dem Kriegsflüchtlinge Zuflucht gesucht hatten, von der israelischen Armee bombardiert, wobei 43 Menschen ums Leben kamen. Wenige Tage später wurde ein deutlich gekennzeichneter und mit der IDF koordinierter Hilfskonvoi der UNO unter Beschuss genommen, wobei zwei UNO-Mitarbeiter ums Leben kamen. Insgesamt wurden laut UNO 50 UN-Gebäude beschossen. Zur Kritik des ICRC, die IDF würde Hilfseinsätze verhindern, siehe: www.icrc.org/web/eng/siteeng0.nsf/html/palestine-news-080109. Des weiteren beschuldigte Human Rights Watch die IDF, international geächtete Phosphorbomben einzusetzen, wie dies auch schon im Libanon 2006 der Fall war. Siehe: www.hrw.org/en/news/2009/01/10/israel-stop-unlawful-use-white-phosphorus-gaza
(10) Helga Baumgarten: Hamas. Der politische Islam in Palästina. München 2006, S. 33
(11) Vgl.: Baumgarten, a.a.O. S. 58-68. Khaled Hroub: Hamas. A Beginner's Guide. London 2006, S. 33f
(12) Vgl. u.a.: Barak Ravid: In 2006 letter to Bush, Haniyeh offered compromise with Israel, Haaretz, 14.11.2008. Online unter: www.haaretz.com/hasen/spages/1037258.html. Avi Issacharoff: Meshal: Hamas backs Palestinian state in '67 borders, Haaretz, 2.4.2008. Online unter: www.haaretz.com/hasen/spages/970807.html
(13) Zit. nach: Baumgarten, a.a.O., S. 186
(14) Johannsen, a.a.O.
(15) AATW: Resistance to the war continues. Online unter: www.awalls.org/resistance_to_the_war_continues
(16) AATW: 2008 ends, legal harrassment intensifies. Online unter: www.awalls.org/2008_ends_legal_harrassment_intensifies
Der Autor
Sebastian Kalicha ist Herausgeber von "Barrieren durchbrechen! Israel/Palästina: Gewaltfreiheit, Kriegsdienstverweigerung, Anarchismus" (Verlag Graswurzelrevolution, Nettersheim, Oktober 2008, 277 S., 19,80 Euro, ISBN 978-3-939045-08-3). Am 27. März 2008, ab 20 Uhr wird er das Buch im Café Die Weltbühne, Breul 43, 48143 Münster und am 30. März ab 19:30 Uhr im Buchladen BiBaBuZe, Aachener Str. 1, Düsseldorf vorstellen. Weitere Lesungen sind geplant. Infos: www.graswurzel.net