ökologie

„Öffentlich, frei und wahrnehmbar“

Der Widerstand gegen den Atomstaat nimmt zu. Ein Gespräch mit Kerstin Rudek (BI Lüchow-Dannenberg)

| Interview: Bernd Drücke

Am 8. November 2008 demonstrierten 16.000 AtomgegnerInnen in Gorleben gegen den Castortransport aus der französischen Wiederaufbereitungsanlage La Hague. Maßgeblich an der Mobilisierung beteiligt war die Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg. Die 1977 gegründete Bürgerinitiative (BI) hat 900 eingetragene Mitglieder und zigtausend UnterstützerInnen. Ein Interview mit Kerstin Rudek vom Vorstand der BI. (GWR-Red.)

Graswurzelrevolution (GWR): Kerstin, was hast Du gegen die Atommülltransporte?

Kerstin Rudek: Sie sind gefährlich, teuer, überflüssig. Es wird Atommüll in Deutschland produziert, und kein Mensch weiß, wohin damit. Der Atommülltourismus, wie er zurzeit praktiziert wird, ist unsinnig. Das ist ein wahnsinnig hohes Gefährdungspotential, deshalb handeln wir dagegen.

GWR: Der radioaktive Atommüll strahlt hunderttausende Jahre lang. Länger als die Menschheit bisher existiert. Kann es überhaupt ein sicheres Endlager geben?

Kerstin Rudek: Nein. Ich finde es vermessen, wenn auf dem Endlagersymposium eine Woche vor dem letzten Castortransport in Berlin, ausgerichtet vom Bundesumweltministerium, behauptet wird, man wolle eine Lagerstätte für hochradioaktiven Atommüll finden, die wenigstens für eine Million Jahre die Radioaktivität einschließt und von der Biosphäre fern hält. Wenn man sich die Entstehungsgeschichte der Menschheit anguckt, dann kann man glatt in Demut verfallen. Wir haben da ganz andere Zeitläufe. Es ist nicht möglich über einen so langen Zeitraum, von einer sicheren Aufbewahrung zu sprechen.

Gerade die jüngsten Ergebnisse zeigen, dass die „Endlagerversuche“ gescheitert sind.

Einmal in der Asse und in Morsleben, das sind beides Salzbergwerke. Speziell die Asse diente als Versuchsendlager, um auch Schlüsse daraus für Gorleben ziehen zu können. Jetzt müssen die Schlüsse auch gezogen werden, nämlich: Die Versuche der Endlagersuche sind gescheitert. Die Asse läuft voll Wasser. Eigentlich kann man sich das ausmalen. Ich rede da ab und zu auch mit meiner achtjährigen Tochter drüber. Die weiß auch schon, wenn man Metallfässer, Salz und Wasser hat, das rostet.

GWR: Die sich in den im November nach Gorleben transportierten Castoren befindende radioaktive Strahlung entspricht in etwa der gesamten Strahlung der über 100.000 Fässer mit leichtem und mittelradioaktiven Atommüll in der Asse. Der Atommülltransport musste diesmal mit französischen Behältern transportiert werden, weil es noch keine deutschen Castorbehälter gibt, die bei einer solch starken Strahlung als „geeignet“ gelten.

Kerstin Rudek: Die Brennelemente werden länger genutzt, da wird mehr herausgeholt, als das früher der Fall war. U.a. hängt das damit zusammen, dass der Preis für Uran auf dem Weltmarkt gestiegen ist. Der hat sich potenziert in den letzten Jahren. Deshalb werden die Brennelemente länger genutzt, und das heißt, die abgebrannten Brennelemente strahlen wesentlich stärker, als das bisher schon der Fall war. Das heißt, die Gesetzgebung fordert ein „Strahlenminimierungsgebot“, die Betreiber sind angehalten, die Strahlung so gering wie möglich zu halten. Aus diesem Grund mussten neue Behälter konzipiert werden. Das ist ein bisschen gemein, aber der Widerstand gegen die Atommülltransporte trägt dazu bei, dass die Atommülltransporte sicherer werden.

Auch auf unsere Proteste hin ist da nachgerüstet worden.

Deutschland ist bisher nicht in der Lage, einen Behälter der Zulassung zuzuführen, der diesen Kriterien entspricht.

Deshalb hat man beim letzten Castortransport auf einen französischen Behältertyp zurückgegriffen, der eigentlich diese Kriterien erfüllen sollte. Aber Greenpeace hat unabhängige Messungen vorgenommen, am Verladekran, in 14 Metern Abstand zu den Behältern.

Die haben zwei Werte herausgegeben, die sehr bedenklich stimmen. Das eine ist, dass die Radioaktivität um 40% höher ist als bei dem Transport 2005.

Das nächste ist, sie haben also vorher den Platz gemessen und dann den Platz gemessen und festgestellt, dass die natürliche Hintergrundstrahlung, die sie gemessen haben, so ist, dass die Werte 500fach erhöht waren, als die Transporter da standen.

GWR: Was ist alles im Wendland gelaufen gegen den Transport?

Kerstin Rudek: Es hat wieder eine sehr breite Bewegung gegeben. Es waren viele Menschen auf den Beinen, nicht nur zu der Großdemo am 8. November, sondern auch in den folgenden Tagen sind viele hier geblieben und haben laut und wahrnehmbar ihren Protest auf die Straße getragen. Da gab es vielfältige Aktionen. Ich kann ein paar Sachen erzählen, die ich besonders schön und eindrucksvoll fand.

Es gab viele Laternenumzüge, an der Transportstrecke haben die Dörfer kleine Feste organisiert, z.B. in Langendorf eine Prozession des Heiligen St. Florian. Es gibt ja auch politisch motivierte Leute, die fragen: „Wie ist es denn bei euch im Wendland? Seid ihr nur gegen den Atommüll vor der Haustür?“

Nein, sind wir nicht, wir haben etwas gegen das St.-Florians-Prinzip, wir sind prinzipiell gegen die Atompolitik, gegen den Betrieb von Atomkraftwerken und gegen Atommülltransporte.

Alle Dörfer haben sich geschmückt. Diesmal hatten wir ein Motto, StellvertreterInnenpuppen zu bauen, das heißt lebensgroße Puppen aus Stroh. Da gab es Workshops vorher, die Leute haben sich getroffen, haben das ausprobiert, haben das weiter kultiviert und entwickelt, haben sich gegenseitig Tipps gegeben, wie man was am besten macht. Es sind mehrere hundert Strohpuppen gebastelt worden, die dann überall während dieser Zeit präsent waren. Zum Teil saßen die oben in den Bäumen oder am Straßenrand, oder es sind welche tanzender Weise auf den Feldern gruppiert, das waren schöne Geschichten drum herum, die zeigen, die Stimmung ist so, dass sich viele Leute auch an den Protesten beteiligen.

GWR: Der Transport konnte über 24 Stunden aufgehalten werden, durch direkte Ankettaktionen zum Beispiel, durch die große Massenblockade von X1000mal quer, …

Kerstin Rudek: Ja. Die BI hat für den Schienentransporttag, wo von Lüneburg nach Dannenberg der Castortransport auf der Schiene durchs Wendland stattfand, zwei Kundgebungen angemeldet, eine nördlich der Schiene, eine südlich der Schiene. Wir hatten vor, einen Anlaufpunkt bereit zu halten, für Menschen, die frei und wahrnehmbar protestieren wollen, gerade auch für Auswärtige, die sich nicht so gut auskennen, aber auch für die Einheimischen, um einen Treffpunkt zu haben, zusammen zu kommen, zusammen loszugehen, sich das zusammen vor Ort mal anzugucken. Das war toll.

Wir haben den mobilisierenden Musikkampfwagen, der legendär ist, mit Musik, mit Beleuchtung, mit der Möglichkeit, ständig Ansagen durchzugeben, also, was ist wo los an anderen Stellen, wo befindet sich der Castor, wie lange dauert die Ankettaktion in Wörth schon, und wie lange ist damit zu rechnen, dass er dort noch stehen wird, also einfach die Leute auf dem Laufenden zu halten. Wir haben eine Volxküche da gehabt und Planen ausgelegt, damit die Leute sich ausruhen können, wenn sie von einem Spaziergang, vom an den Gleisen Gucken zurückkamen. Das war eine schöne Szenerie.

Es hat Spaß gemacht, mit einer großen Breite verschiedener Strömungen da zusammenzukommen, gemeinsam zu protestieren, zu demonstrieren, zu zeigen, so, wir machen das nicht mit. Einige sagen: „Wow, toll, es sind ja wieder so viele.“

Ich denke, das ist erst der Anfang gewesen, die Entwicklung ist noch nicht zu Ende. Die Politik versagt massiv und die Leute registrieren das, die Bevölkerung möchte hier nicht mit sich machen lassen, was hier seit zig Jahren passiert.

Es ist auf der einen Seite immer die Rede von „Transparenz und Öffentlichkeitsbeteiligung“.

Auf der anderen Seite ist es so, wenn man jetzt diese Messwerte sieht, die bei diesem Castortransport von Greenpeace veröffentlicht wurden, und wenn dann nachgefragt wird, dann kommen keine Antworten.

Es hat im Dezember 2008 eine Atomausschusssitzung des Landkreises Lüchow-Dannenberg gegeben, dort waren VertreterInnen eingeladen vom niedersächsischen Umweltministerium, vom niedersächsischen Innenministerium, vom Eisenbahnbundesamt, der Polizeipräsident, auch weil es eine Anweisung gab für PolizeibeamtInnen, dem Transport mindestens 6 ½ Meter fern zu bleiben, und das Gewerbeaufsichtsamt, das auch für die Messungen am Kran zuständig ist. Von diesen ganzen Behörden ist keineR gekommen, um die VertreterInnen des Landkreises, die politischen Gremien hier zu informieren, was denn jetzt mit diesen Messungen ist. Das ist ein Affront.

Das eine ist, dass man uns immer erzählt, „irgendwo muss der Müll ja hin“, das stimmt schon, aber seit 50 Jahren sitzen da Wissenschaftler dran, um herauszufinden, wo wir den Atommüll lassen können, und bis heute hat niemand eine Antwort darauf. Von daher sollten jetzt Schlüsse gezogen werden. Es muss sofort Schluss sein mit der Atommüllproduktion, die Atomanlagen müssen sofort heruntergefahren werden.

GWR: Wir haben im Münsterland das Problem, dass viele gar nicht wissen, dass in Gronau eine Urananreicherungsanlage (UAA) und in Ahaus das Brennelementezwischenlager (BEZ) steht. Die meisten wissen auch nicht, dass z.B. durch den Münsteraner Hauptbahnhof regelmäßig Atomtransporte fahren, aus der UAA Gronau nach Russland, wo dann zigtausend Atommüllfässer einfach auf der grünen Wiese gelagert werden und vor sich hin rosten. Man kann sich das bei Google Earth angucken.

Kerstin Rudek: Ja, ich kenne die Bilder. Das ist furchtbar. Bei uns im Landkreis haben wir eine gut informierte Bevölkerung. Wir haben auch mehrere Infoveranstaltungen zu den Uranmülltransporten von Gronau nach Russland gemacht. Die Veranstaltungen waren immer gut besucht. Da kommen immer zwischen 40 und 80 Leute. Wir haben auch zweimal Leute von der russischen Anti-Atom-Gruppe Ecodefense eingeladen. Auch mit anderen Gruppen arbeiten wir zusammen, seien es z.B. die Initiativen aus dem Münsterland oder russische Organisationen.

Das ist ein Riesenskandal, das so etwas möglich ist: Die Urenco entledigt sich so ihres Uran-Mülls. Was nach Russland transportiert wird, erst per Eisenbahn, dann per Schiff, zum Teil über 6.000 Kilometer, davon werden nur 10 % zurückgebracht. 90 % werden, wie Du gerade sagtest, auf Fußballfeld ähnlichen Feldern gelagert. Es müsste verboten sein, seinen Atommüll in Russland zu verklappen. Es ist auch ein beliebtes Argument von Bundesumweltminister Gabriel, der sagt „na ja, aber wir brauchen ein Endlager, wir wollen das ja nicht ins Ausland bringen“. Also, z.B. der Uranmüll, der wird fortlaufend ins Ausland gebracht und dann da gelassen. Dafür zahlt dann die Urenco. Wenn sie das hier entsorgen müssten, dann wäre das so teuer, dass es sich nicht lohnen würde. Das ist ein Teil der Machenschaften, die es möglich machen, sich der Sachen zu entledigen und das Geld dann in die Kassen der Atomindustrie fließen zu lassen.

Wir müssen da noch vielmehr öffentlich machen, und ich hoffe, dass sich noch viel mehr Menschen darüber empören werden.

GWR: Dazu beigetragen, dass sich mehr Menschen darüber empören, das hat z.B. Cécile Lecomte, die wir in der GWR 334 interviewt haben. Sie hat mehrere Verfahren am Hals (siehe Artikel auf Seite 4). Schon im Vorfeld des Castortransportes wurde sie „vorbeugend“ inhaftiert, weil sie als Kletteraktivistin als „gefährdend“ eingeschätzt wurde. Und die BI Lüchow-Dannenberg, unterstützt Ihr sie?

Kerstin Rudek: Ja. Cécile Lecomte hat eine beeindruckende Persönlichkeit. Sie ist so toll, so nachhaltig, so effektiv, sie hat ihren Humor behalten, ist kein bisschen verbittert, obwohl der Atomstaat ihr schon soviel angetan und sie weggesperrt hat, jetzt auch „präventiv“. Nun sind sogar schon immer Kletterteams der Polizei mit unterwegs, im vorauseilenden Gehorsam, weil es sein könnte, dass Cécile Lecomte sich irgendwo aufhält. Und wenn sie sich irgendwo aufhält, dann wissen sie, dann wird es lange dauern und dann haben sie wenigstens schon ihre Kletterteams vor Ort.

Das ist eine beeindruckende Frau, sie lässt sich durch die Strafen nicht davon abhalten, ihrer Überzeugung entsprechend zu handeln. Wir kümmern uns darum, die Verfahren, die gegen sie laufen, öffentlich zu machen. Wir gehen, wenn möglich, zu den Prozessen.

Als sie während des Castortransports weggesperrt wurde, weil sie ja etwas anstellen könnte, da haben wir uns darum bemüht, herauszubekommen, in welchem Gefängnis sie sitzt. Ich habe am Abend, nachdem sie verhaftet wurde, rumtelefoniert und hatte da lauter unfreundliche Leute am Apparat, in der ein und anderen Justizvollzugsanstalt. Die behaupteten, es sei jetzt kein regulärer Dienst, es sei sowieso niemand zu sprechen, einen Vorgesetzten gäbe es auch nicht, Wir haben letztlich rausbekommen, dass sie in der JVA Braunschweig inhaftiert wurde, es hat auch eine Person mit ihr gesprochen, mir persönlich ist das nicht gelungen. Ich habe es dann am nächsten Tag gehört.

Das muss aufgearbeitet werden. Es gab im Dezember einen Ortsbesichtigungstermin der Braunschweiger Bürgerinitiative vor Ort, wo sich lokale PolitikerInnen das angesehen haben. Sie war da unter schlimmen Bedingungen untergebracht. Ein Skandal ist, dass der Staat Leute einsperrt, die sich öffentlich, frei und wahrnehmbar äußern. Was sie jetzt gemacht hat, das war nicht einmal eine Ordnungswidrigkeit. Sie hatte noch nicht einmal die Gleisanlagen betreten und ist drei Tage eingesperrt worden.

GWR: Ein Skandal. An dieser Stelle noch einmal der Aufruf an unsere LeserInnen, Cécile auch finanziell zu unterstützen (siehe Anhang).

Jetzt habe ich eine persönliche Frage: Wie wurdest Du zur Atomkraftgegnerin?

Kerstin Rudek: Das fing bei mir früh an. Ich komme hier aus dem Landkreis, bin hier geboren und aufgewachsen, das heißt, ich habe früh Kontakt zu der Szene gehabt. Meine Eltern sind eher ein bisschen spießig drauf.

Über sie hatte ich keinen Kontakt zur Anti-Atom-Bewegung, sondern das fing bei mir etwa mit 14 an, das war ein konkretes Erlebnis. Ich habe damals einen Segelflugschein gemacht und wir hatten eine Jugendgruppe, sind tagsüber geflogen und abends losgezogen, z.B. nachts baden im Gatower See, oder in die damals einzige Disco, oder dann gab es den Tanz auf dem Vulkan, das heißt, an der ehemaligen Bohrstelle 1004, 1982, ein Festival, das erinnern sollte an die Geschichte des Anti-Atom-Widerstands, wie das damals alles war; es gab die Waldbrände, es gab die Platzbesetzungen, es gab die Räumung des Hüttendorfs der Freien Republik Wendland auf der Bohrstelle 1004.

Da waren wir neugierig, haben uns das angeguckt. Ich fand das faszinierend, dabei zu sein, zu gucken, das ist interessant, was wollen diese Leute eigentlich? Sich dann über das Faszinierende mit den Inhalten auseinander zu setzen, ich erinnere mich gerne daran zurück. Wir haben jetzt oft die Diskussion „Ist es eigentlich legitim, eine Demo mit einem Event-Charakter zu machen? Jetzt auf der Großdemo am 8. November hat Madsen gespielt, bei uns sind die bekannt, die machen jetzt mit den Toten Hosen eine Tour als Vorband, die kommen aus dem Landkreis, das sind drei Brüder und zwei weitere Bandmitglieder, die heißen Madsen, deshalb der Bandname.

GWR: Das ist die deutschsprachige Band, die u.a. auch Ton Steine Scherben-Stücke gespielt hat auf der Demo?

Kerstin Rudek: Ja, aber hauptsächlich haben sie eigene Stücke gespielt. Ich finde es legitim, jungen Leuten etwas anzubieten, etwas Schönes zusammen zu machen und dann zu gucken, warum treffen wir uns eigentlich. Ich finde, man darf jungen Leuten nicht zu viel abverlangen. Ich finde es gut, Sachen zu machen, die Spaß machen, darüber auch Inhalte zu vermitteln und Leute dafür zu interessieren. Es muss nicht so sein, dass Leute immer zu 150% überzeugt sind und immer nur in einem Tenor von Arbeit zusammenkommen. Auf der Demo habe ich ja gesagt: „Wenn ich nicht tanzen kann, ist es nicht meine Revolution“, das ist auch ein bisschen mein Lebensmotto.

GWR: Das ist ein Zitat von Emma Goldman, also der Anarchistin, die zu Lebzeiten vom damaligen US-Präsidenten als „gefährlichste Frau der Welt“ bezeichnet wurde. Es gibt eine Polizeiakte über sie aus dem „Verbrecher-Album für den westlichen Industriebezirk“ für 1909. Dort ist zu lesen, dass sie „im Interesse der anarchistischen Bewegung unermüdlich thätig“ (sic) sei. Gewarnt wird vor ihren „zügellosen anarchistischen Hetzreden“, die sie damals in vielen Ländern der Welt und auch in Westfalen gehalten habe. Um ihre Reden überhaupt halten zu können, hat sich Emma Goldman manchmal angekettet, damit man sie nicht abtransportieren konnte. Die Polizeiakte hat Paul Wulf, ein Münsteraner Anarchist und 1999 gestorbener Freund von mir, in den 1980ern im Dortmunder Stadtarchiv gefunden und kopiert. Emma Goldman war eine wichtige Person des Anarchismus. Hat sie Dich, haben ihre Schriften Dich beeinflusst?

Kerstin Rudek: Mein Lieblingsbuch ist ihre Autobiografie in drei Bänden: „Gelebtes Leben“. Das ist ein tolles Buch. Sie schreibt frei von der Leber weg, wie sie gelebt hat, das war so vielfältig, das hat alles verbunden. Sie war ein kluger Kopf und hat es verstanden, wirklich zu leben. Es waren schwere Bedingungen, unter denen die Menschen damals gelebt, gekämpft, gearbeitet haben. Ob es schlimmer war als jetzt, möchte ich nicht sagen. Ich habe jetzt gerade an Sachen gedacht, was es für konservative Leute gab, die einem das Leben schwer gemacht haben. Ich muss mich heute nicht anketten, um eine Rede halten zu können. Was den Punkt anbelangt, sind wir ein bisschen weiter, auch was Lebenserwartung und die Chance, gesund zu bleiben, betrifft.

Auf der anderen Seite sind wir extremen Umweltgiften ausgesetzt, am schlimmsten der Radioaktivität, die für immer da bleiben wird. Die Welt ist jetzt schon ziemlich verseucht.

Emma Goldman war eine mutige Frau, die zu ihren Überzeugungen gestanden und die Konsequenzen getragen hat.

GWR: Wir haben 2001 mit dem damals 88jährigen Helmut Kirschey u.a. eine Veranstaltung gemacht. Er war in den 1920er Jahren in der anarchistischen Jugendbewegung aktiv, ist dann 1933 nach Holland ins Exil und 1936 nach Spanien gegangen, um dort auf der Seite der anarchosyndikalistischen Massenbewegung gegen die Faschisten zu kämpfen. Er hat Emma Goldman in Spanien persönlich kennen gelernt und war begeistert. Sie habe eine beeindruckende Ausstrahlung gehabt und vielen Menschen Mut gemacht, so Helmut. Ich denke, dass es auch heute wichtig ist, dass man den Menschen zum Beispiel in der Anti-Atom-Bewegung Mut macht und auch zeigt, dass man etwas erreichen kann. Cécile ist dafür ein aktuelles Beispiel. Sie hat auch im Münsterland Kletteraktionen gegen Atomtransporte durchgeführt, wo sie sich dann über den Gleisen abgeseilt und so die Transporte für Stunden gestoppt hat. Das ist dann zum Teil im Fernsehen gezeigt worden und hat dazu beigetragen, dass mehr Druck auf die Urenco, die auch die UAA in Gronau betreibt, ausgeübt werden konnte. Daraufhin hat die Urenco eingeräumt, dass sie aufgrund der Proteste ab 2009 keine Atommülltransporte mehr nach Russland machen will. Stattdessen sollen die Transporte nun nach Frankreich gehen. Das ist nur bedingt eine Verbesserung, allerdings gibt es in Frankreich höhere Sicherheitsauflagen als in Russland. Wie Du schon gesagt hast: Die Anti-Atom-Bewegung sorgt auch dafür, dass das eigentlich Unbeherrschbare, die Atomtechnik, doch ein bisschen „sicherer“ wird. „Sicherer“ natürlich in Anführungszeichen, denn wirklich sicher kann es natürlich nie sein.

Kerstin Rudek: Ich denke auch, dass es wichtig ist, dass wir immer wieder positive Beispiele leben.

Wir haben durch unseren Widerstand schon einiges verhindert. Einige sehen das so, dass das immer nur das Verwalten einer Niederlage ist. Ich finde, das ist nicht so. Wenn ich mir angucke, was wir z.B. hier vor der Haustür stehen hätten: eine Wiederaufbereitungsanlage, die war zweimal geplant, einmal im nuklearen Entsorgungszentrum in Gorleben und, als das dann nach ein paar Jahren für gescheitert erklärt wurde, in Dragahn. Dann die Pilotkonditionierungsanlage (PKA), sie ist zwar gebaut und betriebsbereit, aber immerhin läuft sie noch nicht. Die Castorhalle, die hat 420 Stellplätze, die wären seit Jahren vollständig belegt, wenn es nicht diese massiven Proteste gegen die Castortransporte gegeben hätte.

GWR: Ohne die Anti-Atom-Bewegung hätten wir jetzt nicht 17, sondern womöglich 200 Atomkraftwerke in Deutschland am Netz. So viele waren in den 1970er Jahren von Politik und Atomindustrie angedacht. Auch hier in Münster, in den Rieselfeldern, die heute ein Naturschutzgebiet und Vogelparadies sind, war es in den 1970er Jahren geplant, ein AKW zu bauen. Das konnte durch Proteste von Anti-Atom-AktivistInnen verhindert werden.

Was wünscht Du Dir für die Zukunft?

Kerstin Rudek: Ich wünsche mir, dass die Menschen mutig genug sind, ihren Stromanbieter zu wechseln.

Das ist etwas, was jeder und jede machen kann. Da, wo es keine Nachfrage mehr gibt, da wird es auch kein Angebot mehr geben. Über den Bezug von Strom lässt sich eine Menge regeln. Es gibt einige empfehlenswerte Anbieter von Ökostrom. Ich finde die Elektrizitätswerke Schönau sehr sympathisch, Greenpeace-Energy und Lichtblick sind auch klasse. Es gibt Stromrechner im Internet, da kann man sich durchrechnen, ob der Bezug von Ökostrom einen überhaupt teurer kommt als der regionale Stromanbieter, und wenn das so ist, wieviel das wäre. Mir sind Fälle bekannt, wo Leute nachher sogar weniger bezahlt haben als bei ihrem konventionellen Stromanbieter. Ich habe eine Bitte an alle Leute, sich darüber Gedanken zu machen und da verantwortungsbewusst zu handeln. Das ist etwas, das eine Menge bewegen kann, nicht viel Kraft und nicht viel Geld kostet.

GWR: Wer dazu Infos sucht, findet die z.B. auf Eurer Homepage?

Kerstin Rudek: Ja (siehe Anhang). Es gibt eine andere Seite, die heißt www.atomausstieg-selbermachen.de, da wird auch erklärt, wie man das macht. Das ist einfach, das ist eine Postkarte, die man schicken muss, neben dem Stromanbieterwechsel sich informieren und agieren, dem Gewissen entsprechend handeln.

Ich finde es unerträglich, dass wir den kommenden Generationen so eine Bürde überlassen, wie es Atommüll darstellt. Es ist jetzt an der Zeit, einen Atomausstieg zu schaffen, nicht so wie der rot-grüne „Atomkonsens“, der zumindest eine Laufzeitverlängerung in der nächsten Legislaturperiode ermöglicht, also nach den nächsten Bundestagswahlen. Wir wollen die sofortige Stilllegung.

Und dann haben wir immer noch das Problem mit dem Atommüll, den es schon gibt. Danach, wenn alle Atomanlagen abgeschaltet sind, dann sollten wir uns auch in diese Diskussionen einbringen. Die Kosten dürfen dann keine Rolle spielen. Die Energieversorgungsunternehmen haben 30 Milliarden Euro Rückstellungen, die müssen dann dafür benutzt werden, wofür sie gedacht sind, nämlich für die Erkundung von Endlagerstandorten. Das hat mehrere Hintergründe, die ich positiv finde: Zum einen wird dann der Bevölkerung klar, dass wir noch gar kein Endlager haben. Viele denken ja, die Castortransporte rollen nach Gorleben und dann werden die da im Salzstock versenkt. Die stehen aber oberirdisch in einer Halle des Zwischenlagers, hier im Volxmund „Kartoffelscheune“ genannt, überhaupt keine Sicherheitskriterien, keine Abluftfiltersysteme, nicht gegen Flugzeugabstürze gesichert, …

Es sollte eine Diskussion darüber geben, dass es kein Endlager in Deutschland gibt und weltweit auch nicht. Wenn z.B. an vier anderen Orten eine Endlagersuche stattfindet, das dürfte politisch interessant werden, wie sich die Regionen verhalten, also, ob wir dann vierfache Proteste haben und da noch mal eine andere Dynamik entsteht. Klar ist, der Salzstock in Gorleben ist als Endlager für hochradioaktiven Atommüll nicht geeignet. Das müsste endlich von der Politik eingesehen werden. Dann müsste dieses Dilemma eingestanden werden, und die Konsequenzen gezogen werden: sofortige Stilllegung aller Atomanlagen.

GWR: Das ist ein gutes Schlusswort. Da kann ich Dir nur zustimmen. Herzlichen Dank.

Anmerkungen

"Schalt Dein Radio ein":

Das hier gekürzte Interview mit der telefonisch aus dem Wendland zugeschalteten Kerstin Rudek wurde im Dezember 2008 im Studio des medienforum münster aufgezeichnet. Es wird am 1.2.08 ab 20.04 Uhr auf Antenne Münster (95,4 Mhz) als Graswurzelrevolution-Radiosendung im Bürgerfunk gesendet und anschließend auch auf www.freie-radios.net zu hören sein.

Kontakt und weitere Infos

www.bi-luechow-dannenberg.de
www.graswurzel.net

Klettern gefährdet den Atomstaat, Ein Interview mit Cécile Lecomte, von Bernd Drücke, in: GWR 334, Dezember 2008, S. 1, 8f., www.graswurzel.net/334/cecile.shtml

Solidarität

Um Cécile Lecomtes Anwalts- und Prozesskosten zu decken, wurde ein Solidaritätskonto eingerichtet:

Aktionsbündnis Münsterland
Volksbank Wettringen
BLZ 40164618
Kto. 357730701
Stichwort: "Uranaktion Steinfurt"