Es gibt leider viele ehemalige Libertäre, die irgendwann ihr Streben nach einer herrschaftsfreien Gesellschaft aufgegeben haben. Einige haben sogar die Seite gewechselt.
Erinnert sei in diesem Zusammenhang zum Beispiel an Herbert Wehner, der 1926 als Sekretär von Erich Mühsam flammende Artikel gegen autoritäre Kommunisten und Sozialdemokraten in der anarchosyndikalistischen Wochenzeitung Der Syndikalist geschrieben hat, dann aber 1927 der KPD beitrat, später im Moskauer Exil Zenzl Mühsam und andere Ex-GenossInnen als „Konterrevolutionäre“ beim stalinistischen Geheimdienst denunzierte und nach dem Zweiten Weltkrieg Karriere als SPD-Politiker machte. Erinnert sei auch an Daniel Cohn-Bendit und Joseph Fischer, die beiden wohl bekanntesten Ex-Anarchisten, die dem 1968 und in den 1970er Jahren von ihnen noch angestrebten freiheitlichen Sozialismus adieu sagten, zu Gunsten einer Karriere in der Grünen Partei. Beide entwickelten sich zu Kriegspropagandisten und sind für die Bombardierung der jugoslawischen Bevölkerung 1999 durch die NATO mitverantwortlich.
Dass AnarchistInnen auch in Würde altern können, ohne sich in BellizistInnen und StaatsfetischistInnen zu verwandeln, das beweist dagegen Wolfgang Zucht
Am 30. Januar 2009 wird Wolfgang 80 Jahre alt.
Er ist das älteste Mitglied im HerausgeberInnenkreis der Graswurzelrevolution.
Gemeinsam mit seiner Frau Helga Weber (* 1935) betreibt er in Kassel den Verlag Weber & Zucht, der Literatur zum Anarchismus, zu libertären und gewaltfreien Bewegungen publiziert.
Wolfgang ist seit 1958 Mitglied der Internationale der Kriegsdienstgegner und war auch Mitglied im Verband der Kriegsgegner (VK).
Im Sommer 1964 lernte er während einer Studienkonferenz zum Thema Gewaltfreie Konfliktlösung der War Resisters‘ International (WRI) die große Liebe seines Lebens kennen: Helga. Bis heute sind die beiden ein glückliches Paar.
Im April 1965, als viele heutige MitarbeiterInnen und LeserInnen der GWR wie ich noch gar nicht das Licht der Welt erblickt hatten, wurde Wolfgang Mitherausgeber und Mitbegründer der in Hannover publizierten Direkten Aktion – Blätter für Gewaltfreiheit und Anarchismus, einer Vorläuferin der seit Sommer 1972 erscheinenden Graswurzelrevolution. Die 13 in den Jahren 1965/66 erschienenen Ausgaben der libertär-pazifistischen Direkten Aktion gefallen mir persönlich in Stil und Aufmachung ehrlich gesagt sogar noch besser als die ersten Ausgaben der Graswurzelrevolution. Die Direkte Aktion war trotz ihrer kleinen 500er Auflage ein Meilenstein in der Geschichte des Anarchopazifismus, der nach der Zerschlagung der anarchistischen Bewegung durch die Nazis und nach dem Zweiten Weltkrieg erst sehr langsam wieder an Bedeutung gewann.
Ende der sechziger Jahre lebten Helga und Wolfgang in London, wo sie vier bis fünf Jahre unter anderem für die 1921 gegründete War Resisters‘ International arbeiteten. 1973 kehrten sie nach Deutschland zurück, beteiligten sich an der Graswurzelrevolution und gründeten zusammen mit Leuten aus dem Kreis um die Zeitung die Graswurzelwerkstatt. Bis heute gehören beide zum GWR-HerausgeberInnenkreis.
Als Graswurzelwerkstatt-Aktive haben sie von Juli 1974 bis Dezember 1980 den Informationsdienst für gewaltfreie Organisatoren herausgegeben, der zuvor von der Gewaltfreien Aktion Betzdorf unter etwas anderem Namen veröffentlicht wurde. Wolfgang übernahm 1980/81 einmal die deutsche und dann die internationale Koordination für den Internationalen Gewaltfreien Marsch für Entmilitarisierung. 1982 schieden beide aus der Graswurzelwerkstatt aus, die in Göttingen und später in Köln weitergeführt wurde. Von 1992 bis 1995 war Wolfgang Mitherausgeber des Graswurzelrevolution-Taschenkalenders. Die internationale WRI-Konferenz 2006 in Eringerfeld bei Paderborn wurde maßgeblich von Helga und Wolfgang organisiert. Auch heute sind die beiden aktiv in den sozialen Bewegungen. Oft besuchen sie FreundInnen und GenossInnen, so auch im Dezember 2008, als sie an der berühmten Anarchist Bookfair in London teilnahmen. Im Oktober 2008 erschien in der GWR 332 eine von Wolfgang verfasste, ausführliche Rezension von „Der Intimfeind“.
Wolfgang lebt sein Leben im Sinne einer gewaltfreien, herrschaftslosen Gesellschaft. Er ist eine beeindruckende Persönlichkeit, ein warmherziger und großer Menschenfreund.
Für mich ist er in vielerlei Hinsicht ein Vorbild, Freund und Genosse, dem ich viel zu verdanken habe.
Lieber Wolfgang, die GWR-HerausgeberInnen und ich gratulieren Dir ganz herzlich. Ich wünsche Dir Gesundheit, viele weitere schöne Jahre an der Seite von Helga und Deinen Freundinnen und Freunden, Anarchie und Glück,
Literatur
Humanismus und Gewaltfreiheit (ein Interview mit Helga Weber und Wolfgang Zucht), in: Wolfram Beyer, Kriegsdienste verweigern - Pazifismus aktuell. Libertäre und humanistische Positionen. Oppo-Verlag, Berlin 2007
Für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft. Interviews mit Helga Weber und Wolfgang Zucht (Verlag Weber & Zucht), in: Bernd Drücke (Hg.): ja! Anarchismus. Gelebte Utopie im 21. Jahrhundert. Interviews und Gespräche, Karin Kramer Verlag, Berlin 2006, ISBN 3-87956-307-1, Seite 114-146
Devi Prasad: War Is A Crime Against Humanity. The Story of War Resisters' International, WRI, London 2005
Helga Weber, Wolfgang Zucht: Abrüstung oder Revolution? Positionen der WRI, in: antimilitarismus information Nr.10/1976 - Jg.VI. (Christian-Wellmann-Verlag Frankfurt/Main)
Verlag Weber & Zucht: www.zuendbuch.de