Die Tibet-Artikel in GWR 329 (Mai 2008) und GWR 330 (Sommer 08) regten im HerausgeberInnenkreis der Graswurzelrevolution interne Diskussionen an, die wir jetzt auch in der GWR weiter führen möchten. In dieser Ausgabe veröffentlichen wir deshalb einen Diskussionsbeitrag von Jörg Djuren (Graswurzelgruppe Hannover). Eine Erwiderung darauf von GWR-Mitherausgeber Sal Macis (Marseille) erscheint im April in der GWR 338. (GWR-Red.)
Es gibt sie nicht qua Geburt oder Schicksal. ChinesInnen, Deutsche und TibeterInnen werden produziert. Die Erfindung des Nationalstaats ist die für die Entwicklung der modernen kapitalistischen Systeme vielleicht wichtigste Innovation.
Vorher gab es BäuerInnen, Leibeigene, Adelige, Mönche, BettlerInnen, aber keine StaatsbürgerInnen, keine Deutschen, keine FranzösInnen, keine BritInnen. Und es gab keinen Kapitalismus, da Leibeigene und BäuerInnen nicht als freie Arbeitskräfte zur Verfügung standen, da durch das Zunftwesen Gebietsmonopole für Handwerker gesichert waren, da keine allgemeine Rechtssicherheit die Vertragsfreiheit garantierte, da Steuern, Abgaben und Zölle regional willkürlich festgelegt wurden.
Erst durch die Erfindung des Nationalstaates konnte sich die kapitalistische Entwicklungsdynamik entfalten.
Der Nationalstaat leistete mehr als das oben angeführte. Der französische Philosoph Michel Foucault führte, um dieses Mehr zu fassen, den Begriff Biopolitik ein. Biopolitik ist die auf den Körper des Einzelnen gerichtete Disziplinarpolitik und die auf den Bevölkerungskörper gerichtete Politik.
Biopolitik, das ist die Voraussetzung für die Produktion der Subjekte der Moderne durch die Machttechnologien des Nationalstaates, Machttechnologien, durch die dieser sich überhaupt erst als Nationalstaat konstituiert hat.
Zur auf den einzelnen Körper gerichteten Biopolitik gehören z.B.:
- die Dressur des Körpers, nach den formalen Regeln abstrakter Zeitsetzung (also der UHR) und sinnentleerter gleichförmiger Tätigkeit zu funktionieren (Arbeitshäuser),
- die Formierung der Körper im modernen Militärapparat,
- die Verschulung der Menschen.
Zu den auf den Bevölkerungskörper gerichteten Politiken gehören z.B.:
- die moderne Seuchenpolitik (Cordon Sanitaire),
- die Architektur der AbeiterInnenvorstädte,
- die staatliche Sexualpolitik,
- die Ein- und Ausreisekontrolle und Steuerung der Wanderungsbewegungen.
Erst durch die biopolitischen Eingriffe des Nationalstaates wurden die Subjekte produziert, die der Kapitalismus benötigte. Der Nationalstaat produzierte damit aber auch den Staatsbürger und die Staatsbürgerin, die zumindest formale Gleichheit vor dem Gesetz, die Arbeitsfreiheit innerhalb der nationalstaatlichen Grenzen. Der Nationalstaat produzierte ein reziprokes Anspruchsdenken, Forderungen nach sozialstaatlicher Absicherung. Diese Erfindung mit Namen Nationalstaat war eine Revolution, sie ging nicht notwendig aus dem Vorhergehenden hervor und schon gar nicht aus den Königreichen oder Fürstentümern des Mittelalters, ihr Ausgangspunkt lag in den freien Städten, eine Erfindung des BürgerInnentums.
Die nationalstaatliche Mythologie, die Erzählungen von Nationen, die schon immer existiert haben, sind eine Konstruktion legitimierender Ideologie. Die moderne Geschichtswissenschaft wurde im 19. Jahrhundert als Anstalt nationalstaatlicher Ideologieproduktion begründet.
In der Regel gibt es nicht nur eine Erzählung über die Nation, sondern mehrere konkurrierende Versionen, die für sich jeweils Gültigkeit beanspruchen und die Interessen unterschiedlicher Gruppen im Nationalstaat widerspiegeln. Real ist der Nationalstaat heterogen, auseinander strebend und widersprüchlich. Doch diese Realität wird entweder mit Gewalt oder über die Homogenisierung gegenüber einem äußeren (oder inneren – z.B. durch Rassismus -) Gegenpol übertüncht. In der Phase der Konstruktion von Nationalstaaten führt dies fast immer zu extremen Gewaltexzessen.
Die anarchistischen und frühsozialistischen Bewegungen stellten diesem nationalstaatlichen Prinzip ein allgemeines Menschenrecht gegenüber.
Und was ist jetzt mit Tibet?
Tibet war bis zum Einmarsch der Armee der Volksrepublik China kein Nationalstaat. Tibet war ein Gebiet, das von Adelsherrschaft und Nomadenkulturen geprägt war, die lose über die buddhistischen Mönchsschulen verbunden waren.
Dabei gab es vielfältige kleinere kriegerische und gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den buddhistischen Mönchsschulen (z.B. zwischen Gelbmützen und Rotmützen im 18. Jahrhundert – die Gelbmützen, die Schule des Dalai Lama, folterten und mordeten, plünderten und zerstörten Klöster, verbrannten Bücher und machten Tempel zu Ställen), aber auch innerhalb der Orden, mit dem Adel und mit den nomadischen Reitervölkern. Von den 13 Vorgängern des jetzigen Dalai Lama starben nur drei nachweislich eines natürlichen Todes, bei den übrigen wird überwiegend Mord vermutet.
Die Mehrheit der Bevölkerung lebte entweder als Nomaden in Clanstrukturen oder in unfreien Verhältnissen gebunden an eine Adelsfamilie. Soziale Unzufriedenheit äußerte sich ähnlich dem europäischen Mittelalter in der Bildung von ‚gesetzlosen Räuberbanden‘ durch Untertanen, die sich dem Zugriff ihrer Adelsherren entzogen.
Um sich die Vormachtstellung in Tibet zu sichern, ging die Schule der Gelbmützen zuerst ein Bündnis mit den Mongolen und später mit dem chinesischen Kaiserreich ein. Diese wurden jeweils zur Schutzmacht und erhielten die formale Oberhoheit in weltlichen Fragen, im Gegenzug wurde der Dalai Lama zum spirituellen Ratgeber der Herrscher und der tibetische Buddhismus zur Quelle der spirituellen Erneuerung.
Dabei spielte für die überregionale ‚Diplomatie‘ der Mönche das Tulkusystem eine besondere Rolle. Als Tulku werden Mönche bezeichnet, die ein so reines Geiststadium erreicht haben, dass sie, nach dem u.a. in tibetischen Mönchsschulen gültigen Glauben, nach ihrem Tod in einem neuen Kind wiedergeboren werden können.
Alle hohen religiösen Würdenträger in Tibet sind Tulkus (z.B. der Dalai Lama und der Panchen Lama). Üblicherweise wurden Bündnisse dadurch von den buddhistischen Schulen gefestigt, dass Tulkus aus ihrer Schule im unmittelbaren Umfeld der Herrschaftsfamilien der Bündnispartner ‚entdeckt‘ wurden. So wurde das Bündnis mit den Mongolen dadurch befördert, dass ein Neffe des Herrschers als wiedergeborener Mönch ‚erkannt‘ wurde.
Beim Wechsel des Bündnispartners traten dann verstärkt wiedergeborene Mönche, Tulkus, im Umfeld des chinesischen Herrschaftshauses auf. Heute werden Tulkus verstärkt in den USA ‚entdeckt‘.
Im tibetischen Lhasa selbst gab es in den 1930er Jahren eine kleine nationalistische Bewegung, die vielleicht mit der Modernisierungsfraktion um Atatürk in der Türkei verglichen werden könnte.
Ausgangspunkte waren ein europäisch modernisiertes Militär und die Absolventen der einzigen nicht religiösen Ausbildungsstätte, die neu nach europäischen Vorbildern (Großbritannien über Indien) aufgebaut worden war. Die Bewegung sah in der Vorherrschaft der Mönche das zentrale Entwicklungshindernis für Tibet.
Diese Bewegung wurde aber im Keim erstickt. Die Ausbildungsstätte wurde geschlossen, Teile des Militärs wurden aufgelöst, weitere Modernisierungen unterbunden. Oppositionelle mussten ins Exil fliehen, einer der bekanntesten Oppositionellen wurde eingesperrt und ihm wurden die Augäpfel ausgerissen.
Zwar hatte sich Tibet nach dem Zusammenbruch des chinesischen Kaiserreiches für unabhängig erklärt, der Aufbau nationalstaatlicher Institutionen oder einer nationalstaatlichen Politik erfolgte aber nicht. Tibet blieb ein Territorium ohne Nationalstaat.
Als die Armee der Volksrepublik China in den 1950ern einmarschierte, wurden Teile der tibetischen Region bereits bestehenden chinesischen Teilstaaten zugeordnet. Das vom Dalai Lama beherrschte Gebiet Tibets erhielt als Autonome Region (TAR) einen Sonderstatus.
Innerhalb der Autonomen Region blieben die alten gesellschaftlichen Strukturen weitgehend unangetastet, dies wurde vertraglich festgelegt. Der Dalai Lama wurde zum Mitglied des Volkskongresses und erhielt den Status eines Vertreters von Mao. Da der jugendliche Dalai Lama Sympathien für sozialistische Ideen und für Mao hegte, war es die politische Linie, den Dalai Lama zu gewinnen.
Gleichzeitig wurde aber in den Regionen Tibets, die anderen Teilen des Staatsgebietes Chinas zugeordnet waren, rigide die Politik der Kommunistischen Partei durchgesetzt. Hier kam es zu einem Konflikt zwischen chinesischer Staatlichkeit und nichtstaatlichen Gesellschaftsorganisationen vor allem tibetisch nomadischer Bevölkerung.
Als Folge flohen Tausende von Nomaden zusammen mit Teilen der Oberschicht in die Autonome Region und lagerten in der Nähe von Lhasa. Dies führte zu einer explosiven politischen Lage.
Die Situation spitzte sich weiter zu, als die Kommunistische Partei erzwang, dass ihre tibetischen Parteikader von leibeigenschaftsähnlichen Verpflichtungen ausgenommen wurden, und verbot, sie öffentlich zu züchtigen. Damit wurden die Privilegien des Adels auch in der Autonomen Region in Frage gestellt.
Zusätzlich kam es durch ein Missverständnis in der Bevölkerung Lhasas zum Eindruck einer Bedrohungslage für den Dalai Lama. Dies alles führte 1958 zum Aufstand gegen die chinesische Armee, der schnell niedergeschlagen wurde.
Der Dalai Lama floh zusammen mit ca. 100.000 TibeterInnen nach Indien.
In der Folge versuchten die ExiltibeterInnen bis Anfang der 1970er Jahre, mit Unterstützung des CIA die chinesische Armee mit militärischen Mitteln zu bekämpfen. Dies hatte Abertausende von Toten zur Folge, aber keinen Erfolg.
Der Konflikt in Tibet in den 1950er und 1960er Jahren war kein Konflikt zwischen Staaten, sondern der typische Konflikt infolge der Durchsetzung von Nationalstaatlichkeit in einer nicht nationalstaatlich organisierten Gesellschaft. Vergleichbar z.B. den Auseinandersetzungen in Nicaragua mit der indigenen Bevölkerung. China hat in Tibet staatliche Verwaltungsstrukturen, staatliche Schulen und Gesundheitsversorgung geschaffen und durchgesetzt.
Die Ohnmacht des Dalai Lama und der Exil-Nationalismus
1958 war der 14. Dalai Lama auf Grund seines Alters (geb. 1935) und mangelnder politischer Erfahrung noch ein Spielball der politischen Akteure um ihn herum. Um seine politischen Einstellungen zu verstehen, ist es wichtig, seine langen Aufenthalte in Indien in jungen Jahren, den Aufenthalt im indischen Exil und die Kontakte zur dortigen Demokratiebewegung zu sehen. Wichtige politische ‚Lehrer‘ waren stark vom Denken Gandhis beeinflusst.
Aber erst nach dem Scheitern der militärischen Option konnte sich der Dalai Lama mit dieser Politik durchsetzen und von seinem Umfeld emanzipieren.
Die Äußerungen und politischen Handlungen des Dalai Lama der letzten drei Jahrzehnte sind klar gewaltfrei und von demokratischen Idealen getragen. Dabei steht er aber vor kaum überwindbaren Hindernissen.
Er ist gleichzeitig Religionsführer, die zentrale Identifikationsfigur und das Aushängeschild der TibeterInnen im Exil. Zerrieben zwischen „realpolitischen Anforderungen“, eigenen Idealen, einer strukturell reaktionären Mönchsbürokratie und der autoritären Fixierung weiter Teile der Exilgemeinde auf ihn als Erlösungsgestalt, muss er bei jeder politischen Äußerung viele Rücksichtnahmen treffen. Letztendlich ist es ihm nicht gelungen, seine gewaltfreien Prinzipien wirklich an der Basis allgemein zu verankern. Nur seine Autorität sichert zur Zeit noch notdürftig die Gewaltfreiheit der tibetischen Exilgruppen.
Der Nationalismus bei der zweiten und dritten Exil-Generation in Indien erinnert in vielen Punkten an die Probleme von MigrantInnen in anderen Ländern. Die Heimatvorstellungen werden ihnen zu einem Shangrila, zu einem verklärten Bild, das Erlösung verspricht. Zwar sind sich die ExiltibeterInnen der Differenz zwischen ihrem Tibetbild und dem heutigen Tibet zum Teil bewusst, sie schieben sie aber den ‚Chinesen‘ in die Schuhe. Eine Vorstellung scheint vorzuherrschen, dass ohne China alles gut wird.
Letztendlich sehen sich viele ExitibeterInnen als die BewahrerInnen der tibetischen Kultur. Dabei haben sich die Gesellschaften in der tibetisch autonomen Region (TAR) und im Exil auseinanderentwickelt. In der TAR und den angrenzenden Gebieten bestehen zudem regionsspezifisch unterschiedliche Kulturräume und eine starke Differenz zwischen Stadt und Land. Das Tibet, das sich viele im Exil imaginieren, existiert nicht.
Dies führt im Exil nicht dazu zu begreifen, dass Nation und nationale Identität Mythen sind, dass nationale Identitäten permanenten Prozessen ihrer Reproduktion, Ausdifferenzierung, Umschrift und Veränderung unterliegen. Die Erfahrung der Entfremdung führt zu einer Radikalisierung. Um Mitglied des Tibetan Youth Congress (TYC) zu werden, muss das Neumitglied die Bereitschaft erklären, für Tibet zu sterben. In den Reihen des TYC werden Stimmen lauter, die die Wideraufnahme des bewaffneten Kampfes fordern, und dabei z.B. den Widerstand in Ost-Timor als Vorbild haben.
Die Frage, ob für die nach wie vor überwiegend als Nomaden oder in Subsistenzlandwirtschaft lebende Landbevölkerung in der TAR die Frage der Nation überhaupt eine Bedeutung hat, ist dabei offensichtlich für diese exiltibetischen ‚Eliten‘ irrelevant, sehen sie sich doch schon als die zukünftige ‚Elite‘ eines tibetischen Nationalstaates.
Besonders bedenklich ist eine ideologische rassistische Formierung des tibetischen Buddhismus entlang ethnischer Linien, in der die HanchinesInnen in Tibet als eine Bedrohung der Reinheit der tibetisch-buddhistischen Kultur erscheinen und statt Religionsfreiheit die Vertreibung der HanchinesInnen, ein ethnisches ‚Cleansing‘ gefordert wird.
Es wird übersehen, dass eine lebendige Gesellschaft sich immer verändert und neu definiert.
Die Förderung des tibetischen Nationalismus durch China
Die Politik Chinas gegenüber der TAR unterliegt Schwankungen. Nach der Phase der Duldung der alten Strukturen bis 1958 folgte eine Phase der obrigkeitsstaatlichen Durchsetzung der Parteilinie bis in ländliche Regionen, mit der Folge eines Teilzusammenbruchs der landwirtschaftlichen Produktion und dadurch bedingten Hungersnöten. Dies eskalierte weiter in der Phase der Kulturrevolution.
Die Kulturrevolution in der TAR war aber keine Alleinveranstaltung der hanchinesischen Kader. Große Teile der Bevölkerung wurden von ihrer Dynamik erfasst. Antichinesische Ressentiments überlagerten sich mit Vorgaben der Kulturrevolution, mit Rache an den ehemaligen adeligen Herrschaftsfamilien Tibets, mit Bereicherungen bei der Plünderung von Klöstern, mit Widerstand gegen diese Zerstörung usw. Ein Großteil der Zerstörungen der Kulturrevolution in der TAR ging von TibeterInnen aus.
Im Nachhinein wird von tibetischer Seite die eigene Beteiligung negiert, und dies ist Teil des antichinesischen Ressentiments.
In den 1970er und 1980er Jahren folgte eine liberale Phase, die Kollektivierung wurde zurückgenommen und die Klöster wurden wieder aufgebaut. TibeterInnen wurden gezielt in Positionen der Partei und der Verwaltung befördert. Der Lebensstandard stieg auf ein noch nie in Tibet erreichtes Niveau.
Die Lebenserwartung stieg von etwas über 30 Jahren (im alten Tibet der Lamas) auf über 60 Jahre. Tibetischsprachige Literatur, einschließlich der Übersetzungen von Werken der Weltliteratur und einige Literaturzeitschriften für junge tibetische AutorInnen, wurde vom Staat gefördert (und gleichzeitig kontrolliert und zensiert).
Dies führte zu einem Wiedererstarken der buddhistischen Mönche. Die chinesische Zentralregierung versuchte dem in den 1980er Jahren durch die Übernahme der Kontrolle über die Finanzen der Klöster zu begegnen. Dies wiederum führte Ende der 80er Jahre zu einer erneuten gewaltsamen Eskalation, diesmal zwischen Mönchen und Staat. Die Liberalisierungsphase wurde beendet und die Repression erneut verschärft.
Eine nationale Bewegung im eigentlichen Sinn existierte bis zu diesem Zeitpunkt in der TAR aber nicht.
Die 1990er Jahre bis heute sind geprägt durch eine ökonomische Neoliberalisierung, ein im Vergleich zum größten Teil Chinas hohes Repressionsniveau (Folter, Mord, Verschleppungen, Diskriminierung politisch Oppositioneller), Investitionen der chinesischen Zentralregierung in den Aufbau der tibetischen Infrastruktur und den Ausbau der Verwaltung, bei gleichzeitiger Förderung des Studiums von TibeterInnen in Hochschulen im chinesischen Tiefland.
Die Neoliberalisierung und der Staatsrückzug bedeutete für die Bevölkerung die Zerschlagung des vorher kostenfreien medizinischen Versorgungssystems und die Einführung eines impliziten Schulgeldes (offiziell sind die Schulen kostenfrei, real wird aber ein Schulgeld für Uniformen, Essen usw. erhoben, das für viele kaum bezahlbar ist).
In der Landbevölkerung wendete man sich erneut der tibetischen Medizin der Mönche und den Klosterschulen zu. Die AnalphabetInnenrate ist in den letzten Jahren rapide gestiegen, vor allem bei Mädchen. Es fand eine Entstaatlichung statt, eine Auflösung nationalstaatlicher Institutionen. Gleichzeitig wuchs auf dem Land der materielle Wohlstand (ausgehend von einem niedrigen Niveau).
Für die städtische Bevölkerung ergab sich ein anderes Bild, durch die Universitätsausbildung und staatliche Stellen bildete sich eine tibetische bürgerliche Mittelschicht heraus. Damit entstand ein Subjekt nationalstaatlicher Bewegungen.
Dies wurde durch den nationalistischen Grundton an chinesischen Unis befördert, deren Hanchauvinismus (HanchinesInnen machen ca. 90% der chinesischen Bevölkerung aus) Studierende der Minderheiten in der Interaktion selbst in den Nationalismus treibt. In den letzten Jahren führte das neoliberale Dogma zur Beendigung der gezielten Förderung tibetischer Beschäftigter in der TAR, außerdem wuchs gleichzeitig der Hanchauvinismus.
Die tibetischen Mittelschichten wurden aus den vom Staat kontrollierten Jobs verdrängt (die über 90% aller in Frage kommenden Stellen ausmachen, da in Tibet das gesamte Wachstum staatsfinanziert ist). Der Anteil der TibeterInnen sank innerhalb weniger Jahre von ca. 60% auf ca. 45 % ab. Gleichzeitig kam es in den Städten zu einem massiven Zuzug von HanchinesInnen. Es war diese städtische tibetische bürgerliche Schicht, zum Teil auch in den an die TAR angrenzenden Gebieten, die die Proteste 2008 wesentlich trug, und die nun zum Teil auch nationalistische Parolen trägt. Diese Schicht entspricht nur einem kleinen Teil der Bevölkerung.
Der aufkommende Nationalismus an den Rändern Chinas ist wesentlich ein Effekt der Ablösung der sozialistischen Rhetorik durch nationalistische Rhetorik im Zentrum des Staates. Nationalstaatliche Identitäten sind nicht nur Aushandlungsprozesse, sondern sie entstehen auch in der Interaktion zum Teil erzwungenermaßen. In den Bereichen der Gesellschaft, die zur Stärkung der Identität als das Andere ausgegrenzt werden, bilden sich selbst nationale Identitäten heraus. Dabei führt die neoliberale Ideologie vom schlanken Staat zur strukturellen Entstaatlichung, deren Effekten der Staat mit nationalistischer Rhetorik und Repression begegnet, womit die Zerfallseffekte an den Rändern weiter verstärkt werden. Dazu kommen im Fall Tibets die Eingriffe in die buddhistische Religion.
Zuletzt wurde auch das bisher gute Verhältnis zum Umfeld des Panchen Lama belastet durch die ‚Verwaltungsmaßnahmen für die Reinkarnation lebender Buddhas des tibetischen Buddhismus‘ (in Kraft getreten am 1.9.2007), nach denen Reinkarnationen jetzt der Vorabgenehmigung durch den chinesischen Staat bedürfen.
Diese Regelung entspricht zwar älteren real praktizierten Regelungen des Kaiserreichs und der Republik China bzgl. Tibets, diese wurden aber in der Regel nicht konfrontativ, sondern in Absprache mit der tibetischen Geistlichkeit angewandt.
Ausblicke und DEUTSCHE Solidarität
Der Rückbau des Nationalstaates unter neoliberalen Vorzeichen ist nicht auf China beschränkt. In vielen Staaten führt diese Entwicklung zu ähnlichen Phänomenen.
Um die Auswirkungen der Delegitimation des Staates auf Grund seines Rückzuges aufzufangen, wird die nationalistische Propaganda verschärft.
Dazu bedarf es immer der Anderen, der nicht dazu Gehörenden, die nun wiederum selbst in neue Identitätspolitiken getrieben werden und die Spirale weitertreiben. So führt gerade die partielle Auflösung des Nationalstaates zu Tendenzen der Renationalisierung.
Aber hierbei handelt es sich nicht mehr um den paternalistischen Nationalismus, den klassischen Vater Staat – ’streng aber auch sorgend‘ -, sondern um einen Neonationalismus, der den ‚glücklichen‘ alten Nationalstaat nur noch als ein unerreichbares Shangrila beschwört, an dessen Verwirklichung uns die bösen Anderen hindern.
Auch in Deutschland geht der Rückbau einher mit einer verstärkten nationalistischen Propaganda. Und mit den ChinesInnen gibt es sogar ein gemeinsames Feindbild: die, die Shangrila zerstören.
Die deutsche Solidaritätsbewegung für Tibet gründet auch darin, dass sich dieses Land für eine unauffällige Legitimation der Renationalisierung des Politischen bestens eignet, eine Renationalisierung, die dann auch als ‚guter Nationalismus‘ auf Deutschland übertragbar ist. Nicht zufällig gehören zu dieser ‚Bewegung‘ auch die KAS (Konrad Adenauer Stiftung), Roland Koch und Angela Merkel.
Es ist falsch, diese Entwicklung zu unterstützen.
Vielmehr muss es darum gehen, die Neonationalisierungen der Politik zu unterbinden – hier, in China, in Tibet und in Shangrila.
Anmerkungen
Problem Quellenlage: Sowohl von chinesischer Seite als auch von Seiten der Free-Tibet-Bewegung wird die Realität verzerrt dargestellt, dazu kommen Verschwörungstheorien (Trimondi) und simplifizierende Kritiker (Goldner, Parenti, u.a.). Ich habe mich hier deshalb primär auf wissenschaftliche Texte (Anand, Brauen, Dreyfus, Lopez, Piltz, u.a.) und Texte tibetischer oppositioneller Exilanten (Shakya, Norbu, u.a.) gestützt. Ich habe diese Texte hier zum Teil gegen den Strich gebürstet, ausgehend von meinem Standpunkt als Anarchist und Pazifist. Das heißt, dieser Text repräsentiert meine Interpretation und setzt sich kaleidoskopartig aus den Eindrücken vieler Texte zusammen.
Die Quellenangaben findet Ihr in der ungekürzten Netzversion dieses Textes, die in den nächsten Tagen, nach Erscheinen der GWR 336, dokumentiert wird auf: http://irrliche.org/politische_kritik/tibet_widerstand.html