Moshe Zuckermann (* 1949 in Tel Aviv) ist Soziologe, Autor und Professor für Geschichte an der Universität Tel Aviv. Für die Leserinnen und Leser der Graswurzelrevolution analysiert er die Wahl in Israel (GWR-Red.).
Die Parlamentswahlen in Israel haben bereits vor einer Woche stattgefunden.
Und doch ist zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Zeilen noch immer nicht klar, wer vom israelischen Staatspräsidenten mit der Regierungsbildung beauftragt werden wird.
Der prekäre Zustand ist den äußerst knappen Wahlergebnissen zuzuschreiben, denen sich beide „Sieger“ im Wahlkampf ausgesetzt sehen. Zipi Livnis Kadima verzeichnet zwar einen Parlamentssitz mehr als Benjamin Netanyahus Likud; dafür hat sie aber keine Chance, eine regierungsfähige Koalition zu bilden, wenn sich der Parteienblock rechts von der Likud-Partei, wie angekündigt, als Opposition zur Koalitionsbildung unter der Führung Kadimas konsolidieren sollte.
Dass sich aber ein solcher Block auch halten wird, ist mitnichten ausgemacht: Zu groß sind die Diskrepanzen zwischen der religiös-orthodoxen Schas-Partei unter Eli Yishai und der Partei Avigdor Liebermans, Israel Beitenu, die ihre Klientel nicht zuletzt mit einer Säkularisierung des Personenstands in Israel bedienen möchte bzw. bedienen muss. Yishai wie Lieberman reden zwar einer dezidiert rechten Politik im Nahostkonflikt das Wort, sind aber ansonsten politisch verfeindet. Die religiös-ideologischen, sich über den sektoralen Bereich hinaus erstreckenden Ansprüche der Schas-Partei sind mit den gravierenden Problemen und Belangen vieler aus der ehemaligen Sowjetunion eingewanderter Menschen, die aus religiös-orthodoxer Sicht gar nicht als Juden angesehen werden dürfen, schlechterdings unvereinbar.
So einig sich also Yishai und Lieberman in ihrer feindseligen Einstellung gegenüber „Arabern“ wissen, sind sie einander so ressentimentgeladen eingestellt, dass der geistliche Führer der Schas-Partei, Rabbiner Ovadia Josef (ohne den Eli Yishai nicht den kleinsten politischen Schritt unternehmen darf), Lieberman als „Satan“ und seine Partei als „satanisch“ apostrophiert hat, um klarzustellen, dass, wer sie wählt, eine unverzeihliche Sünde begehe.
Nicht auszuschließen ist indessen, dass sich die Gesinnungspolarisierung letztlich dem Willen zur Macht beugen, ein „Kompromiss“ gefunden und Netanjahu somit mit der Regierungsbildung beauftragt werden wird. Das dürfte ohnehin der Fall sein, denn laut Wahlausgang weist Zipi Livnis Mitte-Links-Lager in seiner „natürlichen“ ideologischen Konstellation nicht genügend Mandate auf, um sich die Bildung einer (auch nur auf Minimum gestellten) Regierungskoalition anmaßen zu dürfen. Es sei denn, man schafft es, Lieberman und seine Partei durch satte Machtversprechen und fette Herrschaftsverlockungen auf Kadimas Seite zu ziehen, was in der Woche, die seit der Wahl vergangen ist, die zentrale Verhandlungsanstrengung der Livni-Partei hinter verschlossenen Türen gewesen zu sein scheint. Dass sich Livni in diese prekäre Situation hineingezwängt sieht, ist nicht nur dem sensationellen Wahlerfolg Liebermans zuzuschreiben, sondern auch dem nicht minder eklatanten Einbruch der beiden linkszionistischen Parteien Meretz und Arbeitspartei. Der für diese Politorganisationen katastrophale Wahlausgang ist wohl unmittelbar dem Umstand geschuldet, dass viele ihrer traditionellen Wählerinnen und Wähler zu Kadima übergewechselt sind, um dem Auftrieb, den Netanjahu in den Monaten vor den Wahlen verzeichnen durfte, Einhalt zu gebieten. Weit gewichtiger scheint indes ein anderer Faktor bei ihrer schmerzlichen Niederlage gewesen zu sein: Die Arbeitspartei ist schon seit Jahren keine sozialdemokratische Arbeiterpartei mehr, hat längst ihre historische Rolle als solche ausgespielt, mithin das politische Kapital des Geschichtsverdienstes, den Staat Israel gegründet zu haben, ganz und gar verspielt. Und die Meretz-Partei verlor im auslaufenden Jahrzehnt ihre Relevanz für die parlamentarische Artikulation einer genuinen (alternativen) Friedenspolitik, als mit dem Zusammenbruch des Oslo-Prozesses und dem damit einhergehenden Ausbruch der zweiten Intifada nahezu alle ernstzunehmenden Bestrebungen in diese Richtung aus der aktuellen Tagesordnung des israelisch-palästinensischen Konflikts mit bemerkenswerter Gründlichkeit eliminiert wurden: Ariel Scharon durfte seinen alten Traum, die PLO zu zerschlagen, die palästinensische Autonomiebehörde zu neutralisieren und Arafat zu entmachten, endlich verwirklichen (und somit die Heraufkunft der Hamas als politisch-militärische Macht mutatis mutandis mitbefördern). Sein Nachfolger Ehud Olmert befleißigte sich zwar in der Endphase seiner Amtsperiode einer Rhetorik, die alles, was israelische Premierminister zu sagen pfleg(t)en, an fortschrittlich-hellsichtiger Einschätzung des Nahostkonflikts bei weitem übertraf; aber das Resümee seiner kurzen Amtszeit wird doch als das der beiden diese Amtszeit einrahmenden Kriege – des Fiaskos des zweiten Libanonkrieges am Anfang und des barbarischen Gazakrieges am Ende – in böser Erinnerung bleiben.
Genau besehen, bleibt es sich letztlich aber gleich, wen Israels Staatspräsident Peres in der kommenden Woche mit der Regierungskoalitionsbildung beauftragen wird. Denn weder kann Netanjahu an der rechtsextremistischen Parteienkonstellation, die ihm zur Verfügung steht, interessiert sein, wenn er eine stabile (auch in der Welt, nicht zuletzt vom neuen US-amerikanischen Präsidenten akzeptierte) Regierung anstrebt; noch kann sich Livni Hoffnung auf eine standfeste Regierung machen, ohne Lieberman von vornherein miteinzubeziehen, und zwar an prominenter Stellung ihrer künftigen Regierung. So erhebt sich denn die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass Parteien wie jene, auf die Netanjahu am rechten Rand seiner Machtmöglichkeiten bauen muss, Parteien, die noch vor wenigen Jahren zum rechtsradikalen Aussatz der israelischen Politlandschaft zählten, so erstarken konnten, dass sie zum bestimmenden Faktor der israelischen Macht- und Herrschaftskonstellation avanciert sind. Und komplementär dazu die Frage, wie ein Mann vom Schlage Liebermans, den man ungescheut als einen faschistoid und rassistisch getriebenen Politiker apostrophieren darf, ein Politiker, der mit Slogans aufwartet, die ihm vor zwanzig Jahren noch den dezidierten Ausschluss aus dem israelischen Parlament eingetragen hätten, zur solch konsensuell abgesegneten Macht aufsteigen konnte.
Die triviale Antwort lautet: Weil der Osloprozess zusammen- und die zweite Intifada ausgebrochen ist; weil die sogenannte Sicherheitslage durch Hisbollah und Hamas noch prekärer geworden ist, als sie ohnehin schon war; und weil die zionistische Linke heute nichts mehr zu bestellen hat, hat sich in der jüdisch-israelischen Gesellschaft ein quasi „natürlicher“ Rechtsruck vollzogen, der bedauerlich sein mag, aber doch auch zu verstehen ist.
Abgesehen davon, dass sich eine solche Antwort der Rechenschaft über Israels Anteil am So-Gewordenen durchgehend verweigert, mithin die Schuld am Zusammenbruch des Oslo-Prozesses ganz den Palästinensern zuschreibt, das Erstarken der Hamas als einen rein innerpalästinensischen Vorgang ohne jegliches Zutun Israels deutet, und das Versagen der zionistischen Linken als konsequente Schlussfolgerung aus alledem wahrnimmt, übersieht sie das Entscheidende: Von einem politischen Rechtsruck kann nur dann die Rede sein, wenn etwas, das vorher links oder in der Mitte angesiedelt war, nach rechts gerückt ist. Was aber soll an der heutigen Arbeitspartei noch links sein?
Und inwiefern ist Livnis Kadima (Abkömmling der Likud-Partei), die Hardliner wie Avi Dichter, Schaul Mofaz oder Zachi Hanegbi als ihre zentralen Vertreter beherbergt, für den ideologischen Gegner der Likud-Partei zu erachten? Nicht von ungefähr ging es im gesamten Wahlkampf einzig um die PR-Zubereitung Netanjahus, Livnis und Baraks als Führungspersonen; nichts Substanzielles wurde zur Disposition gestellt, kein Gesinnungskampf fand statt, keine inhaltliche Frage wurde verhandelt. Dass viele Wählerinnen und Wähler mit solch unerträglicher Leichtigkeit von Meretz und der Arbeitspartei zu Kadima, von Kadima zur Likud-Partei und von dieser zu Liebermans Israel Beitenu (und auch noch weiter rechts) überschwappen konnten, bezeugt, wie austauschbar diese politischen Gebilde letztlich sind. Was mit Liebermans Wahlerfolg indiziert ist, betrifft weniger eine rechtspolitische Neubildung, als vielmehr die Sichtbarwerdung von Grundmustern, die Israels politische Landschaft und Kultur seit gut acht Jahren – eben seit dem Versiegen der Oslo-Hoffnungen und der Etablierung der Gewalt als einzig noch akzeptierte politische Maßnahme – umtreibt: die Angst vor dem Frieden bzw. vor dem für den Frieden zu entrichtenden „Preis“. Man weiß, dass die Räumung der besetzten Gebiete im Rahmen eines finalen Friedensabkommens mit der bedrohlichen Möglichkeit von bürgerkriegsähnlichen Zuständen infolge des Räumungsaktes einhergehen wird. Man weiß auch, dass eine Nichträumung der Gebiete die objektive Entstehung einer binationalen Struktur in Israel-Palästina befördert. Und es ist eben die Unfähigkeit zur Entscheidung in diesem politisch-existentiellen Dilemma, die Ohnmacht angesichts der sich immer länger ziehenden Entscheidungslosigkeit und die aus der Ohnmacht erwachsende Angst, die den allermeisten Israelis die Illusion einer Überwindung all dessen durch Stagnation einflößt. Man verharrt im politischen Nichtstun, das sich nur dann rührt, wenn es wieder einmal darum geht, brachiale Gewalt anzuwenden und einen periodisch entflammenden Krieg durchzustehen.
Man kann dabei keine Linke gebrauchen, die der Stagnation eine genuine Alternative entgegenzusetzen vermöchte. Und so hat sich die zionistische Linke schon vor vielen Jahren in den politischen Winterschlaf begeben.
Das Handlungsfeld der Bewegungslosigkeit hat sie dabei ganz der politischen Rechten überlassen – jener Rechten, die in Israel auch dort ihre Vormacht behauptet, wo sie sich als „Mitte“ oder „links“ geriert.