Joseph Ratzinger saß noch nicht lange auf dem Stuhl Petri, als die ersten KolumnistInnen schon verkündeten, der ehemalige Chef der Glaubenskongregation (also der Nachfolgeorganisation der Heiligen Inquisition) sei als Papst ein ganz anderer geworden.
Als Oberster Glaubenswächter hatte sich Ratzinger als durch und durch orthodoxer Denker erwiesen, hatte Befreiungstheologen gemaßregelt und dafür gesorgt, dass akademische Theologen nicht allzu eigenständig zu denken wagten, wenn sie ihren Lehrstuhl behalten wollten. Den erzkonservativen Kurs seines Vorgängers Johannes Paul II. hatte er vorbehaltlos unterstützt, ob es um gesellschaftliche Streitfragen ging (Schwangerenberatung, Empfängnisverhütung) oder um innerkirchliche Belange (Zölibat, Priesterinnen).
Doch kaum winkte er als Benedikt XVI. vom Balkon der vatikanischen Gemächer, wurde er anders wahrgenommen. Ein beinharter Dogmatiker mutierte zum intellektuellen Feingeist. Im deutschen Papst blitzte scheinbar wieder der junge Konzilstheologe auf, der seinerzeit das Zweite Vatikanische Konzil und seine Ergebnisse begrüßt hatte. (1)
Sein Auftritt beim Weltjugendtag in Köln 2005 und sein Besuch in der bayerischen Heimat wurden volksnah und publikumswirksam inszeniert und dass die Mehrzahl der Medien sich in Hofberichterstattung erging, tat ein übriges. Alle konnten sehen: Aus dem Hütehund, der jedes Schäfchen, das vom rechten Kurs abkam, zurück in die Herde biss, hatte sich ein kluger, gütiger, weltoffener Hirte entwickelt.
Und dann, Ende Januar 2009, verstand die Welt (oder zumindest die Medienwelt) den Papst nicht mehr. Wie konnte er, klug, gütig und weltoffen, einen Holocaust-Leugner zurück in den Schoß der katholischen Kirche holen?
Aber auch der Papst verstand die Welt nicht mehr. Was, um Gottes Willen, war denn falsch daran, um die Einheit der Kirche wieder herzustellen, nach einigen Verhandlungen die Exkommunikation von vier Bischöfen der traditionalistischen Pius-Bruderschaft aufzuheben?
In dieser Weise wurde erst mal ein paar Tage lang aneinander vorbei geredet. Im Vatikan war es wohl eine Mischung aus Unfehlbarkeitsallüren und formalistischem Denken (2), die dazu führte, dass sich die Einsicht, dass Richard Williamson mit der Leugnung der industriemäßigen Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden eine rote Linie überschritten hatte, nur sehr zögerlich durchsetzte.
Die weltliche Öffentlichkeit brauchte ihrerseits einen Moment, um sich darüber klar zu werden, dass es sich bei der Affäre nicht um ein Missverständnis handelte, das schnell ausgeräumt werden könne. Das Missverständnis lag vielmehr im Bild des Papstes, das bis dahin vorgeherrscht hatte.
Denn Joseph Ratzinger hat sich – jenseits medialer Inszenierungen – nicht geändert, auch als Papst Benedikt XVI. steht er für eine konservative Auslegung des Katholizismus. Schon kurz nach seiner Wahl bezog er gegen gleichgeschlechtliche Partnerschaften Stellung (zugleich auch gegen jede Form von „offener Beziehung“); homosexuelle Liebe sei ein Verstoß gegen das „Naturgesetz“.
Im Juli 2008 bekräftigte er die 40 Jahre alte „Pillen-Enzyklika“, Kondome bleiben weiterhin verboten, künstliche Befruchtung ebenfalls.
Ein Jahr zuvor hatte es einigen Wirbel gegeben, als der Vatikan seinen Alleinseligmachungsanspruch hervorkehrte und verkündete, die protestantischen Glaubensgemeinschaften seien allesamt keine richtigen Kirchen.
Auch die Befreiungstheologen warten vergeblich auf Rehabilitierung, im Gegenteil werden sogar neue Lehrverbote ausgesprochen (zuletzt gegen den Jesuitenpater Jon Sobrino aus San Salvador, dem vorgeworfen wird, zu sehr die Solidarität mit den Armen und Unterdrückten in der Welt zu betonen).
Zudem hatte der Vatikan italienische Bürgerinnen und Bürger immer wieder aufgefordert, sich nicht an für die katholische Kirche nicht akzeptable Gesetze zu halten, und Anfang des Jahres erklärte der Kirchenstaat, dass er zukünftig die italienischen Gesetze nicht mehr anerkenne (seit den Lateranverträgen von 1929 hatten diese auch im Vatikan Gültigkeit) – ein deutliches Signal, dass der Vatikan auf mehr Einfluss in politischen Fragen drängt.
Es wäre also einfach zu erkennen gewesen, welche Richtung Benedikt XVI. mit seinem Pontifikat eingeschlagen hat. Die Umarmung der Traditionalisten passt in dieses Bild; sie erscheint weniger als Akt der „Barmherzigkeit“ und „Versöhnung“, denn als Teil einer strategischen Neuausrichtung der Kirche, die bereits unter Johannes Paul II. begonnen hat.
Die Pius-Bruderschaft
Um die Priesterbruderschaft St. Pius X. und ihren Begründer, Erzbischof Marcel Lefebvre, sammelten sich in den 1970er Jahren jene Kräfte, die fast alle mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil eingeleiteten Veränderungen in der katholischen Kirche als „modernistisch“ ablehnten und an traditionalistischen Glaubensvorstellungen festhielten. Dies betraf einerseits Fragen des Ritus (z.B. Gottesdienste in der jeweiligen Landessprache), andererseits aber auch Positionen von politischer Bedeutung.
Im Kern geht es dabei um die gesellschaftliche Rolle der katholischen Kirche, wie sich anhand der Einstellung der Piusbrüder zur Religionsfreiheit zeigen lässt.
Dass Religionen, die für sich in Anspruch nehmen im Besitz der „Wahrheit“ zu sein, sich schwer damit tun, andere Weltanschauungen anzuerkennen, ist wenig überraschend. Doch weil sich in Europa nach der Reformation und diversen Religionskriegen verschiedene Konfessionen langfristig etablieren konnten, setzte sich mit der Aufklärung die Einsicht durch, dass für ein friedliches Zusammenleben Religionsfreiheit eine wichtige Voraussetzung ist.
In der bürgerlichen Demokratie wurde sie Bestandteil des Grundrechtekatalogs; zudem wurden zunehmend mehr Glaubensgemeinschaften einbezogen (christliche DissidentInnen, das Judentum, schließlich der Islam und nichtreligiöse Weltanschauungen).
Die katholische Kirche konnte sich besonders lange nicht damit abfinden, dass sie nur noch die gleichen Rechte und Freiheiten wie alle anderen auch haben sollte, und hielt bis weit ins 20. Jahrhundert an der Doktrin von „zweierlei Recht“ fest. Diese besagte, dass „zweierlei Gewicht und Maß“ in religiösen Fragen anzuwenden seien, „das eine für die Wahrheit, das andere für den Irrtum“ (3). Religionsfreiheit forderte die Kirche nur für Katholiken, wo diese in der Minderheit waren; wo sie es politisch durchsetzen konnte, bemühte sie sich hingegen, die Rechte der Andersgläubigen einzuschränken.
Diese Haltung wurde durch das Zweite Vatikanische Konzil korrigiert, doch eine starke konservative Fraktion hat diesen Schritt nie wirklich akzeptiert.
Die Pius-Bruderschaft konserviert insofern also eine Position, die vor 50 Jahren noch die verbindliche Auffassung der katholischen Kirche war. Diese vertritt sie unmissverständlich. In einem Grundsatzreferat ist die Rede davon, dass der „Alleinvertretungsanspruch in der Gesellschaft so weit wie nur möglich … geltend gemacht werden“ müsse. Nur die Wahrheit (gemeint ist: die katholischen Auffassungen) habe ein (Natur-) Recht; eine „grenzenlose Gewissens- und schrankenlose Meinungsfreiheit“ wird ebenso abgelehnt wie die „so genannte Mündigkeit“ (4) der Kirchenmitglieder. Auch die Anerkennung des Judentums wollen die Piusbrüder nicht mit vollziehen. Noch im Dezember 2008 war nach Recherchen der taz in einem Rundschreiben des deutschen Distriktoberen Franz Schmidberger zu lesen: „Die Juden unserer Tage (…) sind des Gottesmordes mitschuldig, solange sie sich nicht durch das Bekenntnis der Gottheit Christi und die Taufe von der Schuld ihrer Vorväter distanzieren.“ (5)
Die katholische Kirche hat die Vorstellung, dem nichtkatholischen Teil der Bevölkerung ihren Willen aufzwingen zu dürfen, erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil offiziell aufgegeben (also lange nachdem sie die realen Möglichkeiten dazu in den meisten europäischen Ländern schon verloren hatte). Damals sah sie sich einer Welt gegenüber, die von Aufbruch und vom Willen vieler Menschen, sich überall Mitspracherechte zu erkämpfen, geprägt war. Sie wurde insofern nicht zuletzt durch die gesellschaftlichen Umstände zu den Reformen gedrängt.
Als die Rahmenbedingungen sich zu verändern begannen, emanzipatorische Bewegungen allenthalben an Schwung verloren, leitete Johannes Paul II. eine Kurskorrektur ein: durch Personalpolitik und dogmatische Entscheidungen stärkte er den konservativen Flügel der katholischen Kirche. Benedikt XVI. führt diese Politik fort (wie die Ernennung des neuen Weihbischofs von Linz zeitnah verdeutlichte).
Wer sich die Aussagen besonders romtreuer Bischöfe wie Joachim Meisner (Köln) oder Gerhard Müller (Regensburg) aufmerksam durchliest, wird feststellen, dass beachtliche Schnittmengen zu den reaktionären Statements der Piusbruderschaft auftauchen.
Das Zweite Vatikanische Konzil war der Versuch, die katholische Kirche mit der „Moderne“ kompatibel zu machen.
Es spricht nichts dafür, dass dies ewig so bleiben muss. Die innere Logik des Katholizismus drängt geradezu darauf, anderen das Heil zu bringen, ob diese wollen oder nicht.
Der Wunsch, für alle verbindliche gesellschaftliche Vorschriften setzen zu dürfen, ist ohnehin nie verschwunden. Wenn der Vatikan sich nun seiner alten Doktrin wieder annähert, heißt das natürlich nicht, dass ihm damit sofort auch die Möglichkeiten sie umzusetzen an die Hand gegeben sind.
Dauerhaft zu verhindern ist dies jedoch nur, wenn genügend Menschen sich über Religion keine Illusionen machen.
(1) Zu Joseph Ratzingers Biographie vgl. Horst Herrmann: Benedikt XVI. Der neue Papst aus Deutschland. Berlin 2005 sowie Richard Corell / Ronald Koch: Papst ohne Heiligenschein? Joseph Ratzinger in seiner Zeit und Geschichte. Frankfurt 2006; zu Ratzingers Leistungen als Intellektueller vgl. Hans Albert: Joseph Ratzingers Rettung des Christentums. Beschränkungen des Vernunftgebrauchs im Dienste des Glaubens. Aschaffenburg 2008.
(2) In einer ersten Stellungnahme hatte ein Vatikansprecher Williamsons Äußerungen als "irrelevant" für das Verfahren bezeichnet; damit zog sich die Kurie auf die Position zurück, dass die Äußerungen des Briten zu Gaskammern, Konzentrationslagern usw. für die Entscheidung des Papstes gar keine Rolle spielten, weil darin nicht die Gründe für die Exkommunikation Williamsons lagen (sondern in den Umständen seiner Bischofsweihe).
(3) Vgl. Helmut Fox: Wieviel Freiheit für den Andersdenkenden? Die Frage der Gewissens- und Religionsfreiheit in der katholischen Kirche. In: imprimatur 23 (1990), Heft 6, S. 259-261.
(4) Franz Schmidberger: Die Zeitbomben des Zweiten Vatikanischen Konzils. Vortrag von 1989 in einer aktualisierten Fassung von Oktober 2008. (www.medrum.de/files/Zeitbomben_des%20Konzils.pdf, 11.2.2009)
(5) zit. nach Main-Echo vom 5.2.2009, S. 2.