Sebastian Kalicha (Hg.), Barrieren durchbrechen! Israel/Palästina: Gewaltfreiheit, Kriegsdienstverweigerung, Anarchismus, Verlag Graswurzelrevolution, Nettersheim 2008, ISBN 978-3-939045-08-3, 19,80 Euro
Wenn man die aktuellen Bilder aus dem Gazastreifen sieht, wird man es nicht für möglich halten, und doch gibt es ihn: den gewaltfreien Widerstand gegen die nun schon über 40 Jahre währende Besatzung der palästinensischen Gebiete.
Darauf aufmerksam macht das von Sebastian Kalicha herausgegebene Buch Barrieren durchbrechen!, das im Oktober 2008 im Verlag Graswurzelrevolution erschienen ist. Auf 277 Seiten sind Beiträge israelischer, palästinensischer und internationaler AktivistInnen versammelt, die den Israel-Palästina-Konflikt von gewaltfreien, antimilitaristischen und libertären Standpunkten aus betrachten und beurteilen. Das Besondere dabei ist, dass ihre gewaltfreien Initiativen nicht losgelöst voneinander handeln. Es gibt ein kleines, aber dichtes Netzwerk von palästinensischen und israelischen AktivistInnen, die seit einigen Jahren gemeinsam den strikt gewaltfreien Aufstand gegen die israelische Besatzung proben.
Wir müssen etwas in die Geschichte zurückgehen, um zu verstehen, dass gewaltfreie Aktionen im Israel-Palästina-Konflikt eine Tradition haben.
Die Lehren von Mahatma Gandhi und Martin Luther King haben die erste Intifada der PalästinenserInnen beeinflusst.
Die israelische Führung war und ist sich bewusst, welche Macht eine gewaltfreie Widerstandsbewegung entwickelt, an der sich nicht nur wenige junge Kämpfer sondern alle Schichten der Bevölkerung beteiligen können. Mubarak Awad propagierte bereits 1983 in seiner Schrift „Nonviolence in the Occupied Territories“ den gewaltfreien Widerstand und wurde gleich zu Beginn der ersten Intifada für immer des Landes verwiesen. Er hatte eine Reihe ziviler Widerstandsformen beschrieben, die während der ersten Intifada zum Einsatz kamen: Zahlreiche Gemeinden in den palästinensischen Gebieten weigerten sich, Steuern an den israelischen Staat zu bezahlen. Die PalästinenserInnen boykottierten Waren aus Israel und bauten eigene Versorgungsstrukturen auf. Nach Israel selbst sind die besetzten Gebiete bis heute für israelische Konsumwaren der wichtigste Absatzmarkt. Sari Nusseibeh, einer der bedeutendsten Vertreter der palästinensischen Zivilgesellschaft, beschreibt in seiner Biographie „Es war einmal ein Land“ seine eigene Überraschung: Wie wenig ein hoch gerüsteter militärischer Apparat einer voller Überzeugung geführten gewaltfreien Kampagne zivilen Ungehorsams entgegensetzen kann.
Die erste Intifada führte zu Friedensverhandlungen in Madrid und Oslo, doch die hochgesteckten Erwartungen erfüllten sich in den 90er Jahren nicht. Trotz gegenteiliger Erklärungen erhöhte Israel das Tempo beim Ausbau der Siedlungen in den besetzten Gebieten. Die Bewegungsfreiheit der PalästinenserInnen wurde immer mehr eingeschränkt und ihre ökonomische Situation verschlechterte sich dramatisch. Die Gewalt nahm wieder zu. Dabei spielte das Erstarken der islamistischen Bewegung eine Rolle. Die wechselnden israelischen Regierungen hatten in den islamistischen Gruppen die willkommenen Widersacher der säkularen NationalistInnen um Arafat gesehen. Bereits zu Beginn der 70er Jahre finanzierte der israelische Militärgouverneur im Gazastreifen die Gemeinde der Muslime aus Jordanien und Palästina, aus der die Hamas hervorging, – als Gegengewicht zur PLO und zu den KommunistInnen. Lange Jahre glaubten die Israelis, den Islam für den Kampf gegen den palästinensischen Nationalismus instrumentalisieren zu können, ein „fataler Irrtum“, wie Jitzchak Rabin später bekannte.
Im September 2000 marschierte Ariel Sharon mit 1.500 schwerbewaffneten Grenzsoldaten zur Al-Aksa-Moschee. Während einer Rangelei wurde dem ranghöchsten Geistlichen der Al-Aksa-Moschee der Turban vom Kopf gerissen. Das Symbol seines geistlichen Status fiel in den Staub, ein schlimmer Akt der Beleidigung. Arabische Satellitensender bauschten das Ereignis zu einem Generalangriff auf den Islam auf.
Die lang aufgestaute Wut brach sich Bahn, und der palästinensisch-israelische Konflikt versank in einem Strudel von Gewalt und Gegengewalt, der immer mehr Menschen mit sich riss und jeder Vernunft Hohn sprach. Die sogenannte zweite Intifada war, wie Sari Nusseibeh schreibt, „zumindest für die Palästinenser eine katastrophale, wild ausufernde Schlacht ohne jede Führung, hinter der weder eine Strategie noch bestimmte Ideen standen; sie war ein verheerender, blutiger Anfall von Wahnsinn“.
Auch die erste Intifada war auf Seiten der PalästinenserInnen nicht frei von Gewalt. Aber das Werfen von Steinen ist angesichts der militärischen Übermacht nur selten mehr als ein symbolischer Akt.
Mit dem Bau der Mauer ab 2002 – wobei der größte Teil der israelischen Sperranlagen aus Zäunen besteht – begann eine neue Revolte gegen die Besatzung, die an die erfolgreichen zivilen Widerstandsformen der ersten Intifada anknüpft.
Sie wurde von der Weltöffentlichkeit erst wahrgenommen, als der Versuch des israelischen Militärs, sie mit Schusswaffen im Keim zu ersticken, ihre ersten nicht-palästinensischen Opfer forderte. In kurzem Zeitabstand wurden 2003 die US-amerikanische Aktivistin Rachel Corrie von einem Militär-Bulldozer überrollt und der Brite Tom Hurndall durch einen gezielten Kopfschuss ermordet. Sie unterstützten als internationale AktivistInnen eine gewaltfreie Graswurzelbewegung, die in dem Buch „Barrieren durchbrechen“ vorgestellt wird.
Das Netzwerk fühlt sich weder auf palästinensischer noch auf israelischer Seite irgendeiner politischen Partei verpflichtet. Seine Aktionen richten sich vor allem gegen die Mauer, die tief in das Westjordanland einschneidet und tausende Menschen ihrer Existenzgrundlage beraubt. Mehrere AutorInnen des Buches weisen nach, dass das Sicherheitsbedürfnis der Israelis ein vorgeschobenes Argument ist. Der Bau der Grenzanlagen nimmt einen Verlauf, der weniger sicherheitspolitisch als geopolitisch motiviert ist.
Der größte Teil der Siedlungsblöcke wird durch die Mauer an das israelische Kernland angeschlossen. Dadurch verliert das Westjordanland weitere 10 % an Fläche. Die Mauer rund um Ost-Jerusalem schneidet den arabischen Teil der Stadt vollständig von den palästinensischen Gebieten ab.
Einer Einschätzung der Weltbank zufolge wäre Jerusalem die Quelle für 40 % der Wirtschaftskraft eines zukünftigen palästinensischen Staates. Allein der Siedlungsblock Ariel reicht 22 km in das besetzte Gebiet hinein. Darunter befinden sich die größten natürliche Wasserreserven der Westbank. Mauer- und Zaunbau schaffen „facts on the ground“, die das Entstehen eines zusammenhängenden, ökonomisch und sozio-kulturell überlebensfähigen palästinensischen Staats mit Ost-Jerusalem als geteilter oder gemeinsamer Hauptstadt unmöglich machen. Der geopolitische Aspekt des Mauerbaus wird von israelischer Seite auch nicht bestritten. Im November 2005 sagte die israelische Außenministerin Tzipi Livni, dass man kein Genie sein müsste, um zu erkennen, welche Bedeutung der Zaun für die zukünftige Grenze Israels habe.
Ayed Morrar beschreibt in seinem Beitrag am Beispiel des Grenzdorfes Budrus die Strategie der Gewaltfreiheit bei der Revolte gegen die Besatzung. Budrus hätte durch den Bau der Mauer 1.200 Dunam Land, bepflanzt mit 3.000 Olivenbäumen, verloren. Er gründete ein Komitee im Dorf, das von unten den Widerstand organisierte: „Man bedient sich der Methode der gewaltfreien direkten Aktion und setzt nur seinen Körper ein, um das Ziel, an das man gelangen will, zu erreichen, ohne Steine zu werfen. Diese Taktik gestaltet sich äußerst schwierig, denn sie erfordert ein hohes Maß an Mut und eine große Anzahl Menschen aller Generationen.“ Die Ziele des Kampfes waren die Baumaschinen und nicht die SoldatInnen. Hunderte von DorfbewohnerInnen beteiligten sich, bis schließlich der Verlauf der Mauer geändert wurde. 95 % des Gemeindelands entging der Konfiszierung.
In einem weiteren Beitrag des Buches berichtet Mohammed Kathib, wie 2005 in seinem Dorf Bil’in die gewaltfreien Proteste gegen die Mauer begannen: „Wir bevorzugen den gewaltfreien Basiswiderstand, weil alle daran teilhaben können. Er ist nicht für einen kleinen Kreis von Menschen bestimmt und schließt die Mehrheit der Bevölkerung nicht aus.“
Dass die Idee der gewaltfreien Aktion nicht schon viel breitere Bevölkerungskreise ergriffen hat, hängt, so glaubt Kathib, mit der gewalttätigen Reaktion der israelischen SoldatInnen zusammen. Daher haben sie in Bi’lin die Strategie angewendet, durch eigene Gewaltfreiheit die Gewalt der Armee aufzuzeigen. In der Weltöffentlichkeit herrscht das Bild vor, dass es sich bei dem israelisch-palästinensischen Konflikt um einen Krieg zwischen zwei Armeen handelt. Die Hamas möchte selbst daran glauben und liefert damit dem aktuellen Krieg im Gazastreifen den willkommenen Vorwand.
In Wirklichkeit handelt es sich nicht um einen ebenbürtigen Kampf. Israel begründet die Anwendung von Gewalt mit den Sicherheitsbedürfnissen seiner Bevölkerung und hat damit die Weltmeinung auf seiner Seite. Die BewohnerInnen von Bi’lin haben dieses Selbstbildnis der Israelis angekratzt.
Sie haben sich mit ihren Körpern vor die Bulldozer gestellt und an die Olivenbäume angekettet, die entwurzelt werden sollten. Die Armee sah sich mit keiner Gewalttätigkeit konfrontiert und wendete doch Gewalt an, wie Kathib beschreibt: „Das war der Punkt, an dem alle sehen konnten, wer hier die Opfer und wer die Täter waren, wer mit Gewalt auf Gewaltfreiheit reagierte. Und wenn sie keine Gewalt mehr anwendeten, würde das ebenfalls bedeuten, dass wir gewonnen haben. Wir hätten gewonnen, da wir sie davon abgehalten haben, sich so zu verhalten.“
Die palästinensische gewaltfreie Bewegung ist auf die Unterstützung von außen angewiesen. Die Teilnahme von israelischen AktivistInnen verschafft ihr mehr Öffentlichkeit und hindert die Armee daran, im Übermaß Gewalt anzuwenden. Ein Grenzpolizist sagte in einem Prozess gegen den israelischen Anarchisten Jonathan Pollak aus, dass „wir die Israelis fortschaffen, um sie aus der Schusslinie zu bekommen, um dann gegen die Palästinenser vorgehen zu können“.
Dennoch sind auch israelische AktivistInnen gefährdet. Es hat bereits zahlreiche Schwerverletzte gegeben und nur durch Glück bisher noch keine Toten.
Durch die Mauer werden viele Dörfer in Grenzlage von ihren Olivenhainen getrennt bzw. wird den Bauern der Zugang zu ihren Feldern erschwert.
Die Rabbis for Human Rights organisieren die Begleitung der Bauern bei der Olivenernte, um sie vor den immer häufigeren Übergriffen militanter SiedlerInnen zu schützen.
Die Ernteeinsätze bieten israelischen und internationalen ErntehelferInnen die Gelegenheit, direkt mit der palästinensischen Bevölkerung in Kontakt zu kommen. Menschen, die eher aus der Mitte der israelischen Gesellschaft stammen, trauen sich zum ersten Mal in die palästinensischen Gebiete und lernen das Leben auf der anderen Seite kennen. Nur so kann Versöhnung langfristig gelingen.
Weitere Abschnitte des Buches widmen sich den gewaltfreien Gruppen auf israelischer Seite: Die Frauen von „Machsom Watch“ versuchen, an den zahlreichen Checkpoints (machsomim), PalästinenserInnen vor Übergriffen durch die Armee zu schützen. Dafür wurden sie 2008 mit dem Internationalen Aachener Friedenspreis ausgezeichnet.
New Profile analysiert, welche Folgen die zunehmende Militarisierung für die israelische Gesellschaft hat. In Sommercamps und Jugendgruppen vermittelt die Gruppe zivile Konfliktlösungsstrategien und berät junge Israelis, die den Militärdienst ablehnen. Seit Beginn der sogenannten zweiten Intifada gibt es eine neue Generation von KriegsdienstverweigerInnen, die den Militärdienst generell ablehnt und nicht nur selektiv, wie zum Beispiel den Einsatz in den besetzten Gebieten.
Die Totalverweigerung bricht mit dem herrschenden Konsens, dass das Überleben Israels nur durch eine starke Armee von Wehrpflichtigen und ReservistInnen gesichert ist. Yesh Gvul, die älteste der Verweigerungsgruppen, scheut sich nicht, israelische Militäraktionen als Kriegsverbrechen zu deklarieren und ihre Verfolgung vor einem Internationalen Gerichtshof zu fordern.
Eine der aktivsten Unterstützergruppen gewaltfreier palästinensischer Widerstandsformen sind die „Anarchists against the Wall“, die sich 2003 gegründet haben.
Ihr gemeinsamer Kampf mit den BewohnerInnen von Bi’lin hat dazu geführt, dass der oberste Gerichtshof Israels zu dem Schluss kam, dass der Verlauf des Grenzzauns bei Bi’lin nicht den israelischen Sicherheitsinteressen entspricht, sondern das Territorium einer nahe gelegenen Siedlung vergrößert.
Das Dorf-Komitee von Bi’lin und die Anarchists against the Wall erhielten gemeinsam im Dezember 2008 die von der Internationalen Liga für Menschenrechte vergebene Carl-von-Ossietzky Medaille.
Die in dem Buch Barrieren durchbrechen! vorgestellten Initiativen unterliegen nicht der Gefahr der Selbsttäuschung. Sie wissen genau, wie klein ihre Bewegung ist und wie sehr sie von den etablierten Eliten auf israelischer wie auf palästinensischer Seite abgelehnt werden. Dennoch setzen sie das ermutigende Signal, dass es auf beiden Seiten eine ernstzunehmende Perspektive für eine Zivilgesellschaft gibt, die nicht auf den Faktor Gewalt setzt, sondern auf Konsensfindung, bei der die Rechte der jeweils anderen Seite anerkannt werden.
Das macht das Buch besonders in diesen Tagen so lesenswert.
Anmerkungen
Anm. der Redaktion: Dr. phil. Robert Krieg (* 1949) ist Dokumentarfilmer, Soziologe und Autor. Siehe auch: www.krieg-nolte.de