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Soziale Bewegungen in Russland

Anarchismus, Antimilitarismus und die Kriege im Kaukasus. Ein Interview mit Vadim Damier

| Interview: Bernd Drücke

Dr. hist. habil. Vadim Damier (49) ist Sozial- und Politikwissenschaftler. Er lebt in Moskau und ist aktives Mitglied der Föderation der Arbeitenden in Erziehung, Wissenschaft und Technik innerhalb der Konföderation Revolutionärer Anarchosyndikalisten (KRAS). Im Februar 2009 referierte er im Rahmen der von Connection e.V. und DFG-VK Hessen organisierten bundesweiten Veranstaltungsreihe "Machtproben im Kaukasus. Innenansichten aus Russland" bei Veranstaltungen in zehn Orten. Am 10. Februar, im Vorfeld seines Vortrags in der Münsteraner Kulturkneipe Frauenstraße 24, bot sich GWR-Redakteur Bernd Drücke die Gelegenheit zu einem Interview.

Graswurzelrevolution (GWR): Vadim, du forschst zur Geschichte sozialer Bewegungen. Kannst du die Situation und die Entwicklung sozialer Bewegungen in Russland in den letzten Jahren beschreiben?

Vadim Damier: Ja, ich habe sozusagen Glück, gleichzeitig zu sozialen Bewegungen zu forschen und an ihnen teil zu nehmen. Meine Einschätzungen in Bezug auf diese Bewegungen sind wahrscheinlich nicht ganz objektiv, sondern eher ein Blick vom Inneren dieser Bewegungen selbst.

Die russischen sozialen Bewegungen sind relativ jung. Sie entstanden in der Perestrojka-Zeit, etwa Ende der 1980er Jahre. Zuerst als ökologische Bewegung, dann als Stadtviertel-Initiativen, dann als teilweise politische Initiativen, einige Gewerkschaftsinitiativen, viele andere kamen dazu. Die Entwicklung dieser Initiativen war nicht linear. Es gab Stufen, es gab Auf und Abs bei diesen Prozessen. Leider haben diese Bewegungen im Moment keinen Aufwind, sondern sind eher in der Verteidigung. Das hat Gründe. Von den Bewegungen, die damals existierten, sind wenige übriggeblieben. Viele Initiativen sind seitdem neu entstanden. Heute sieht die Szene der politischen, sozialen Bewegungen in Russland ganz anders aus als noch vor einigen Jahren.

GWR: Wie bist du in die sozialen Bewegungen gekommen? Was hat dich motiviert?

Vadim Damier: Ich persönlich? Na ja, es war ein bisschen kompliziert, meine persönliche Geschichte war keine typische, weil ich gerade als Forscher begann – noch in der Sowjet-Zeit. Ich schrieb gerade die Dissertation, damals in den 1980er Jahren, über die Geschichte der ökologischen Bewegung in der Bundesrepublik. Und als die sozialen und ökologischen Bewegungen nach Tschernobyl auch in der Sowjetunion entstanden, verstand ich gut, dass ich für sie nützlich sein, die Erfahrungen weitergeben und die Leute informieren kann. Dann bin ich durch die Ökologiebewegung, durch die Frage der sozialen Gerechtigkeit, ökologisch und menschlich, auch in die soziale Bewegung gekommen.

GWR: Du bist aktiv in der anarchosyndikalistischen Föderation der Arbeitenden in Erziehung, Wissenschaft und Technik. Welche Ziele verfolgt eure Gruppe?

Vadim Damier: Wir sind als anarchosyndikalistische Gewerkschaftsinitiative organisiert in der KRAS, der russischen Sektion der anarchosyndikalistischen Internationale (Internationale Arbeiter Assoziation).

Die branchenspezifische Gewerkschaftsinitiative entstand 2008. Bis dahin hatten wir eine gemeinsame, interprofessionelle, interberufliche Organisation in Moskau, aber im vorigen Jahr wurde uns klar, dass wir genügend Leute haben, gerade in dieser konkreten Branche, diesem konkreten Industriemilieu. Und so wollten wir uns speziell organisieren, um eine branchenspezifische Arbeit zu machen.

Es gibt die generellen, prinzipiellen Ziele: Wir wollen eine mächtige, eine richtige russische anarchosyndikalistische Gewerkschaft, eine Gewerkschaftsbewegung organisieren. Leider sind wir noch weit von diesem Ziel entfernt. Jetzt wehen in Russland ganz andere Winde.

Trotzdem ist uns klar, dass wir Arbeiten in diese Richtung schon jetzt beginnen wollen. Sonst riskieren wir, nie dieses prinzipielle Ziel zu erreichen. Das heißt, wir machen vor allem Agitations- und Informationsarbeit. Wir machen Monitoring der Arbeitskonflikte, versuchen uns in diese Konflikte einzumischen und Leuten zu helfen, indem wir mitgehen. Auch zur Information, wenn wir zum Beispiel helfen, Streikbulletins und ähnliches zu organisieren. Wir haben schon seit Jahren Erfahrungen damit gesammelt. Es gab noch nicht diese branchenspezifische Organisation, aber KRAS, unsere Organisation, existierte schon damals.

Wir machen die Zeitung, die die Gedanken und die praktische Erfahrung des Anarchosyndikalismus proklamiert. Nicht nur im Bezug auf Russland, sondern weltweit. Weil es auch weltweit heftige Kämpfe gibt, Arbeitskämpfe, die von Anarchosyndikalisten geführt werden. Wir versuchen den Arbeitenden bei uns klar zu machen, dass sie auch anders für ihre Rechte kämpfen können. Nicht nur durch die Gewerkschaften, sondern selbstverwaltet auf Basis der direkten Demokratie, der Vollversammlungen, der Initiative von unten, der direkten Aktion.

GWR: Für viele Menschen bedeutet Anarchie immer noch „Chaos und Terror“. Sie wissen nicht, was sich hinter diesem wunderbaren Begriff tatsächlich verbirgt. Was bedeutet Anarchie für dich?

Vadim Damier: Der Begriff war auch in der Sowjetzeit stark diskreditiert. Die Bolschewiken malten dieses schreckliche Bild eines besoffenen Matrosen mit Pistole oder eines Banditen.

In der Realität sah es ganz anders aus. In der Zeit des Bürgerkriegs in Russland war die russische anarchistische Bewegung natürlich überhaupt nicht so chaotisch und banditenorientiert, wie es die sowjetische Staatsmacht interpretierte. Für mich ist Anarchie kein Chaos und auch kein Terror, sondern eine generelle Selbstverwaltung in allen Bezügen, in allen Branchen, in allen Arten des gesellschaftlichen Lebens. Das heißt im tagtäglichen Leben, in der Arbeit, dort wo man wohnt, wo man studiert, überall dort, wo man gesellschaftliche Entscheidungen trifft. Weil die Anarchie eigentlich die Beschlussnahme der Leute von unten ist, welche an diesen Beschlüssen selbst interessiert sind. Das ist das Konzept der generellen Selbstverwaltung, das ist Anarchie. An-Archie: Fehlen der Macht von oben, Fehlen der Macht, die von der Gesellschaft getrennt ist. So verstehe ich das.

GWR: Russland ist ja gewissermaßen das Geburtsland des kollektivistischen Anarchismus. Michail Bakunin, Pjotr Kropotkin, Lew Tolstoj und Emma Goldman kamen aus Russland. Und ohne diese großartigen Figuren des Anarchismus würde es vielleicht heute gar keine libertäre Bewegung geben. Andererseits wurde in Russland der Anarchismus, wie du ja auch schon beschrieben hast, massiv unterdrückt. Die Bolschewiki haben die Anarchistinnen und Anarchisten nicht erst unter Stalin, sondern schon einige Monate nach der Oktoberrevolution 1917, ab 1918 verfolgt. Lenin schmähte 1920 in seinem Buch „Der ‚Linke Radikalismus‘, die Kinderkrankheit im Kommunismus“ die Anarchisten als „kleinbürgerliche Pseudorevolutionäre“. Der von ihm verehrte Kropotkin war allerdings in gewisser Weise unangreifbar. Nach Kropotkin ist seit den 1920er Jahren sogar ein zentraler Platz in Moskau benannt. Als dieser einflussreiche Anarchist und Wissenschaftler 1921 gestorben war, lehnte seine Familie das von Lenin angebotene Staatsbegräbnis ab und ließ das Begräbnis stattdessen von anarchistischen Gruppen organisieren, welche die Freilassung der inhaftierten Anarchistinnen und Anarchisten für diesen Tag allerdings nicht durchsetzen konnten. Kropotkins letzter Wunsch war ja, dass alle Anarchistinnen und Anarchisten frei gelassen werden. Sein Leichnam wurde nach Moskau gebracht, wo 100.000 Menschen dem Sarg folgten. Das war sozusagen die letzte anarchistische Massendemonstration in Russlands Metropole. Kannst du beschreiben, wie in den 1980er Jahren die neue anarchistische Bewegung im Zusammenhang mit der Perestrojka entstanden ist?

Vadim Damier: Die ist ganz neu. Im Prinzip ist es so, dass diese Einheit der Generationen, diese Übergabe der Erfahrungen durch die Generationen unterbrochen war. Obwohl nach der Beerdigung von Kropotkin die anarchistische Bewegung in Russland nicht endete.

Es gab auch später Untergrundorganisationen der Anarchisten. Bis in die späten dreißiger Jahre versuchten Anarchisten immer wieder Untergrundaktivitäten zu organisieren. Vor kurzem sind in Russland einige Dokumente aufgetaucht, Berichte der sowjetischen Geheimpolizei an die Parteileitung über die Lage in der Sowjetunion. Und immer wieder konnte man im Laufe der 1920er und 1930er Jahre in diesen Materialien auf die Spuren der Anarchisten kommen.

Man erwähnte verschiedene anarchistische Untergrundorganisationen, welche versuchten, in den Gewerkschaften zu arbeiten, welche versuchten, die Arbeitslosen in der Zeit der neuen ökonomischen Politik zu organisieren, Versuche, dann auch später gegen die Stalin-Diktatur zu kämpfen, bis tief hinein in die Stalin-Lager.

Auch unter den Häftlingen gab es Tendenzen oder Gruppen solcher Art. Aber das alles endete allmählich, weil die älteren Aktivisten starben.

Die neueren Aktivisten arbeiteten nicht in der Zeit der stalinistischen, der bolschewistischen Diktatur. Die Bewegung entstand in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre neu.

In der Situation des Fehlens dieser Erfahrungen begann das alles merkwürdig, weil es meistens keine wirklichen Kenntnisse über die alten Erfahrungen und anarchistischen Traditionen gab. Sogar die älteren Klassiker des Anarchismus wurden nur von wenigen Leuten in der Bewegung gelesen. Es gab auch Versuche, diesen Anarchismus zu interpretieren.

Als diese erste Perestrojka-Welle vorbei war, sind von der Bewegung kleine, anarchistische Gruppen geblieben, die schon ein bisschen mehr orientiert waren und mehr Verständnis von den anarchistischen Konzeptionen hatten.

Seitdem ist die anarchistische Bewegung in diesem Zustand. Es gibt mehrere Gruppen in Moskau, St. Petersburg, Nishnij Nowgorod und anderen Städten an der Wolga, im Süden Russlands, in Sibirien, … Die sind aber verstreut und sich nicht einig. Es gibt diverse Organisationen und Tendenzen innerhalb der Bewegung. Und es gibt ein libertäres Milieu in Moskau. Man zählt in diesem Milieu wahrscheinlich 300 Leute, aber die Mehrheit sind Jugendliche. Die kommen aus einer neuen Generation, das ist nicht die Perestrojka-Generation, nicht die Generation von Leuten aus den 1990er Jahren. Die Mehrheit ist nicht organisiert. Sie nehmen aber manchmal an verschiedenen Aktivitäten, Protesten, Kundgebungen oder Kulturveranstaltungen teil. Ansonsten gibt es auch Gruppen und Organisationen wie zum Beispiel unsere.

GWR: Du hast es gerade schon erwähnt, dass ihr auch eine Zeitschrift habt. Wie hoch ist die Auflage? Gibt es noch andere Zeitungen aus der libertären Bewegung in Russland?

Vadim Damier: Ja, die Tradition der libertären Zeitungen entstand bei uns wieder neu in der Zeit von Perestrojka. Sie begannen zuerst als illegale. Jetzt sind sie nicht illegal, in dem Sinne, dass sie nicht verboten sind. Sie sind aber auch nicht erlaubt. Im russischen Pressegesetz steht, dass die Zeitungen, die Auflagen unter eintausend haben, nicht offiziell registriert oder erlaubt sein sollen. Das nannte man früher Samisdat, das, was man selbst druckte, selbst machte. Die meisten anarchistischen Zeitungen in Russland sind eben solche, selbstgemacht, also irgendwie nicht legal, nicht illegal.

Was gibt es? Unsere Zeitung heißt Prjamoje Dejstvije, das heißt Direkte Aktion, wenn ich das ins Deutsche übersetze, ein nicht ganz ungewöhnlicher Name für eine anarchosyndikalistische Zeitung [lacht]. Gut, also die erscheint seit 1994. Die Auflage war in dieser Zeit verschieden, normalerweise machen wir im Durchschnitt etwa eintausend. Wir versuchen, diese Zeitung viermal pro Jahr zu machen, manchmal erscheinen aber nur zwei oder drei pro Jahr.

Seit Ende letzten Jahres geben wir auch eine theoretische Zeitung heraus, die Libertarnaja Mysl („Libertäre Gedanken“).

Es gibt noch andere anarchistische Zeitungen. Die überregionale libertäre Organisation Autonome Aktion macht die Zeitschrift Autonom und die Zeitung Situazija („Situation“). Die versuchen, die Auflage größer zu machen, bis einige tausend, aber das geht relativ selten und kostet viel Geld.

Dann gibt es die Zeitungen verschiedener lokaler anarchistischer Gruppen, mit unterschiedlichen Tendenzen. Es sind nicht mehr so viele, wie Ende der 1980er, Anfang der 1990er. Damals gab es in fast jeder Stadt, wo es Gruppen gab, entweder eine Zeitung oder ein Bulletin oder sogar eine Revue. Jetzt sieht die Situation anders aus. Viele ältere Zeitungen gibt es nicht mehr. Einige neue sind entstanden. Die libertäre Presse ist im Moment reduziert, aber es gibt eine Beständigkeit.

GWR: Eure Gruppe hat auch einen antimilitaristischen Schwerpunkt, ihr habt euch zum Beispiel im August 2008 gegen den Kaukasus-Krieg engagiert. Wir haben im September 2008 in der Graswurzelrevolution Nr. 331 eine Erklärung von euch abgedruckt. Wie ist eure Position zum Kaukasus-Krieg?

Vadim Damier: Antimilitarismus ist für uns ganz wichtig, obwohl wir uns nicht als eine spezifische Friedensgruppe verstehen. Trotzdem machen wir diese Dinge auch. Das begann nicht mit diesem Kaukasus-Krieg, sondern wir waren auch noch im Kampf gegen die beiden Tschetschenien-Kriege aktiv. Schon damals haben wir ähnliche Erklärungen veröffentlicht. Unsere Position sieht so aus: Wir suchen nach keinem staatlichen Teilnehmer dieses Konflikts, der mehr oder weniger schuld ist. Für uns ist es ganz klar: Wenn wir alle diese staatlichen, imperialen, nationalistischen, patriotischen und andere Dinge noch in der Wirklichkeit zur Seite bringen und die realen Hintergründe dieser Konflikte sehen, dann können wir verstehen, dass dahinter vor allem die machtpolitischen, aggressiven Interessen des Staates oder des Möchtegern-Staates stehen. Und somit kann man nicht irgendwelche Gerechten in diesen Kriegen finden. Man kann nur sagen, wer wirklich leidet: die einfache Bevölkerung. Man kann die aggressiven Interessen der teilnehmenden Staaten und der nationalistischen Bewegungen zeigen, entlarven und scharf kritisieren. Und man kann auch die Bevölkerung zum Sabotieren dieses Krieges, zum Widerstand gegen diesen Krieg aufrufen. Und zwar in bekannter, anarchosyndikalistischer und antimilitaristischer Tradition, die alt, aber nicht von gestern ist.

GWR: Habt ihr Kontakte zu Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern?

Vadim Damier: Leider nicht. Es ist nicht leicht. Das Problem ist, dass Desertion in Russland mehrheitlich nicht organisiert ist. Dabei sind es gar nicht so wenige: Vor einigen Jahren gab es etwa 40.000 Deserteure – Kriegsdienstverweigerer eigentlich – im Moment, nach der Verschärfung der Polizei-Suchmaßnahmen, sind es nur noch 12.000 bis 13.000. Aber das sind die offiziellen Angaben, die sind nicht unbedingt richtig.

Die meisten Deserteure machen das individuell, die sind nicht organisiert. Das heißt, wenn jemand von uns, von unseren Bekannten oder von unseren Freunden so etwas macht oder machen will, leisten wir Hilfe. Leider gibt es keine Organisation der Deserteure, mit der man zusammen arbeiten könnte. Wir versuchen, für dieses Thema Öffentlichkeit herzustellen.

GWR: Was droht Verweigerern, wenn sie versuchen, Öffentlichkeit herzustellen?

Vadim Damier: Unangenehme Dinge. Es gibt eine ganze Stufe der Bestrafungen. Die Geldstrafe bis fünf Monatslöhne oder auch Gefängnis bis zu zwei Jahren, normalerweise. Es ist aber zum Glück noch so, dass nur wenige Deserteure bzw. Kriegsdienstverweigerer wirklich bestraft werden. Russland ist wohl zu groß und die Polizeisuchmaßnahmen wahrscheinlich zu teuer für den Staat. Ich weiß nicht, was genau dahinter steht, aber es gab eine Statistik, dass nur 1,6 bis 1,8 % der Deserteure und Kriegsdienstverweigerer wirklich bestraft wurden.

GWR: Es gab Presseberichte über massive Folterungen und Misshandlungen gegenüber Rekruten und Wehrpflichtigen in Russland. Kannst du dazu etwas sagen?

Vadim Damier: Diese Nachrichten gibt es immer wieder. Die Praktiken sind systemimmanent. Es ist eine systematische, „normale“, tagtägliche Praxis in der russischen Armee. Natürlich versucht die Armeeleitung, diese Informationen zu verheimlichen.

Aber manchmal, dank einiger Menschenrechtsschutzorganisationen, werden Informationen über Fälle öffentlich.

So wurde vor einigen Jahren ein Fall eines russischen Soldaten namens Sytschow bekannt, dank der Information seitens des Komitees der Soldatenmütter. Mit ihm waren schreckliche Dinge passiert. Er und sieben andere Soldaten wurden von den anderen Soldaten und Kommandeuren niedergeschlagen, gefoltert und vergewaltigt, sodass er schwere Verletzungen am ganzen Körper, vom Kopf bis zu den Beinen erlitt. Ihm mussten unter anderem beide Beine und Genitalien amputiert werden. Jetzt ist er schwer behindert und krank.

Das ist nur einer der wenigen Fälle, über den wir etwas erfahren können.

Dann bleibt die Frage, wie viele Fälle gibt es, von denen wir nichts gehört haben. Es kann nur spekuliert werden.

Die Situation sieht schrecklich aus. Es gibt ein besonderes System, in dem die Altgedienten die Neueinberufenen foltern und quälen. Und zwar mit Tolerierung durch die Kommandeure. In der Realität ist es für die Kommandeure eine zusätzliche Möglichkeit, die Soldatenmasse zu disziplinieren. Es ist also eine abgestufte, organisierte Gewalt als System.

GWR: Diese Gewalt gehört zum Militarismus. Hier im Münsterland, in Coesfeld, da ist ein Fall bekannt geworden, wo Rekruten misshandelt wurden, und da läuft jetzt ein Prozess. Das ist nicht unbedingt vergleichbar mit Russland, aber der Militarismus drillt die Menschen, damit sie andere Menschen umbringen können. Nicht umsonst muss das Töten den Soldatinnen und Soldaten erst beigebracht werden. Der Mensch hat eine natürliche Tötungshemmung. Von daher sind alle Militärapparate dazu da, Menschen zum Töten zu dressieren.

Vadim Damier: Jede Armee ist Armee. Damit ist alles gesagt.

GWR: Ihr habt euch auch mit Tschetschenien beschäftigt. Wie ist die Situation dort? Kannst du einen Überblick geben, die Situation im Kaukasus beschreiben?

Vadim Damier: Kaukasien, also der Kaukasus, ist getrennt zwischen Russland und mehreren kaukasischen Staaten, zum Beispiel Georgien. Es gibt noch innere, territoriale und nationale Gebilde, die eine gewisse Autonomie haben. Die ganze Situation sieht instabil aus, in dem Sinne, dass einige dieser Gebilde nach einer Unabhängigkeit von den jeweiligen Staaten streben, was von den Regierungen der jeweiligen Staaten nicht gewünscht ist. So gibt es zum Beispiel in Tschetschenien, gerade nach dem Fall der Sowjetunion, den Wunsch, von Russland unabhängig zu sein. Ich meine nicht die einfachen Leute. Die einfachen Leute sind in nationalstaatlichen, nationalistischen Konflikten eben gerade die leidende Seite.

Aber es gibt herrschende Eliten auf beiden Seiten, die gewisse Interessen zur sogenannten territorialen Integrität und ihre Machtbefugnisse haben. Die möchten ihre Macht verwirklichen und das erzwingen, wenn man diese Macht nicht will. Die russische Regierung möchte Herr im Haus sein, auch im Nordkaukasus und im Transkaukasus, in Transkaukasien, weil da die ehemaligen Republiken der Sowjetunion sind, welche die russische Regierung als ihre Einflusszone versteht. Andererseits möchte die neue herrschende Elite in Tschetschenien von Russland unabhängig sein, um auch Herr im Hause zu sein, aber im niedrigeren Maßstab ihrer eigenen Republik. Die möchte ihren eigenen Staat.

So entstand dieser Konflikt Anfang der 1990er Jahre und seit dem gibt es fast ununterbrochen Kriege. Zuerst der erste Tschetschenien-Krieg, dann der zweite. Im Moment geraten die Informationen über die Kampfhandlungen in Tschetschenien nicht so stark an die Oberfläche und in die Medien. Dort gibt es nur wenig darüber. Es scheint manchmal so, als ob alles schon in Ruhe und Ordnung ist. Aber nein: Es gibt ab und zu neue Informationen, neue Berichte, dass dort in der Wirklichkeit sozusagen ein Partisanenkrieg weiter geht.

Der russischen Regierung gelang es, für eine Zeit diesen Krieg nicht wirklich zu beenden, sondern weniger intensiv zu machen. Warum?

Die haben ein schlaues Ding gedreht, praktisch ein System der Kollaborateure. Die russische Regierung kaufte einen Teil der ehemaligen Führer des Partisanenkriegs des unabhängigen Tschetscheniens und übergab ihnen die Posten innerhalb der autonomen tschetschenischen Republik innerhalb von Russland. Unter der Bedingung, dass sie dann selbst die Kämpfe mit dem Untergrund organisieren werden. Das machten die auch. So zum Beispiel der Vater des heutigen Präsidenten des autonomen Tschetscheniens, Kadyrow, der war Hauptmufti in der Zeit der tschetschenischen Unabhängigkeit. Er wurde durch Untergrundkämpfer getötet, weil er den russischen Vorschlag übernahm, Präsident des autonomen Tschetscheniens zu werden. Seitdem regiert sein Sohn, der seine Politik weiter macht. Aber gerade vor einigen Wochen las ich die Information in einer russischen Zeitung, dass die Zahl der Jugendlichen, die in den Untergrund in Tschetschenien gingen, um diesen Partisanenkrieg weiter zu führen, in den letzten Jahren ständig gewachsen ist. Warum?

Weil die soziale Situation in Tschetschenien katastrophal ist. In diesem Desaster haben die Jugendlichen kaum eine Wahl. Sie haben keine Arbeit, keine Studienmöglichkeiten, keine Chancen. Somit erscheint ihnen manchmal der Untergrund als „Alternative“.

Die Sache beschränkt sich nicht auf Tschetschenien. Der gesamte Nordkaukasus brennt oder riskiert zu brennen. In der Nachbarrepublik Inguschetien gibt es schon seit Monaten praktisch einen Bürgerkrieg, obwohl nicht klar ist, wer eigentlich mit wem kämpft. Weil das ein ganz kleines Land und ein ganz kleines Volk ist, wo eigentlich alle miteinander verwandt sind.

Trotzdem gibt es immer wieder heftige Kämpfe, Machtkämpfe. Die Zentralregierung sollte schon einen Präsidenten dieser Republik abberufen und durch einen anderen ersetzen, aber die Kampfhandlungen dieses Bürgerkriegs gehen weiter. Es gibt immer wieder neue Angriffe auf Polizei, auf Militärs, auf die Russen zum Beispiel auch. Es hat wahrscheinlich auch einen nationalistischen Hintergrund. Na ja, schwer zu sagen.

Manchmal sind diese Konflikte überhaupt nicht durchsichtig. Dann gibt es zwischen Inguschetien und Nordossetien schon seit langem einen territorialen Konflikt. Heute noch nicht als militärischen Konflikt, aber in den 1990er Jahren gab es auch militärische Kampfhandlungen zwischen diesen beiden autonomen Republiken innerhalb der Russländischen Föderation. Er wurde einfach durch Gewalt durch die Zentralmacht unterdrückt, aber der Konflikt ist seitdem nicht gelöst. Einige andere autonome Republiken in Nordkaukasien befinden sich auch in einer Krisensituation. Dort entsteht immer wieder etwas, Proteste oder Skandale um Korruption, oder Versuche der verschiedenen Machtgruppen, einander zu stürzen, …

Es gibt unterschiedliche Analysen von Experten. Aber ich hörte auch solche Urteile, dass Russland den Nordkaukasus tendenziell schon verloren hat. Man versucht das noch zu halten, aber es gibt keine Möglichkeit, das real zu kontrollieren.

GWR: Die Frage ist: Wie kommen Information über den Kaukasus an die Öffentlichkeit? Es gab politische Morde und massive Einschüchterungen gegen Menschenrechtsaktivistinnen und Menschenrechtsaktivisten. Ist eure Zeitung auch von Repressionen bedroht? Kannst du dazu etwas sagen?

Vadim Damier: Ja, klar. An Informationen über Tschetschenien zu kommen, ist schwer. Ab und zu gibt es gewisse Informationen in den kritischen, die es noch gibt. Die sind nicht total staats- oder systemkritisch, aber die erlauben sich manchmal Kritik. Dann gibt es unabhängige Medien (das sind keine Massenmedien), in denen man manchmal auch etwas darüber berichtet. Und es gibt die tschetschenischen Medien. Wer Interesse hat, kann auf tschetschenischen Webseiten Informationen finden.

Das habe ich schon in der Sowjetzeit erlebt: Wenn man damals kritische Informationen über den Westen bekommen wollte, so hörte man sowjetischen Rundfunk. Wenn man kritische Informationen über die Sowjetunion bekommen wollte, so hörte man westliche Rundfunksendungen. Also (lacht), diesmal ist es gewissermaßen ähnlich. Natürlich kann man das nicht ganz vergleichen, aber es ist klar: Die tschetschenischen Quellen berichten darüber.

Jetzt deine Frage über die Repressionen: Im Generellen ist die jetzige russische Regierung streng autoritär – nicht totalitär, nicht faschistisch, wie einige Leute schon sagen, aus der verständlichen Empörung, die ich im Prinzip teilen kann. Aber trotzdem: Ich bin ein Wissenschaftler und ich soll analytischer, vorsichtiger sein. Es ist noch kein Faschismus, aber ein starkes, autoritäres Regime. Oligarchisch, nach den Cliquen organisiert und so regiert.

Aus dieser Sicht ist es manchmal nicht ganz verständlich, warum dieses Regime Repressionen gegen Aktionen oder die Kräfte organisiert, die keine wirkliche politische Gefahr für dieses Regime darstellen, weil sie zu klein sind. Es gibt zum Beispiel die Demonstrationen der außerparlamentarischen Opposition, ganz klein, vor allem Liberale. Sie versammeln nicht mehr als einige hundert Leute in einer so großen Stadt wie Moskau. Trotzdem kommt jedes Mal, wenn man versucht, solche Dinge zu organisieren, die Polizei, in großer Zahl. Die verdrängt diese Menge, obwohl sie keine Gefahr darstellt.

So macht man das oft. Um zum Beispiel eine Straßenkundgebung zu organisieren, soll man nicht einfach nur die Behörden informieren, man soll um eine Erlaubnis bitten. Dann können die Behörden sagen: „Nein, hier im Zentrum, das können wir nicht erlauben, geht bitte irgendwo an den Stadtrand, wo sowieso niemand ist, wo niemand kommt, was schon von vornherein klar ist. Dort könnt ihr was machen, sonst nicht. Und manchmal auch sowieso nicht.“

Es gab sogar Fälle, dass auch legalisierte, legale Aktionen von den Polizisten vertrieben wurden, nur weil der Polizei diese Parole oder jenes Transparent nicht gefiel.

Dann gibt es Repressionen nicht nur gegen die Politiker, sondern zum Beispiel auch gegenüber Jugendlichen. Im letzten Jahr gab es eine riesige Kampagne der Polizei gegen die sogenannten „Subkulturellen Jugendgruppen“. Das war grob, scharf, willkürlich. Die Polizei stoppte einfach im Verkehr oder an der Straße Gruppen von Jugendlichen, die irgendwie anders aussahen. Man versuchte, sie fest zu nehmen, und die Polizisten begannen, sie nieder zu prügeln und mit Elektroschockern zu misshandeln.

Es gab 2008 relativ große Proteste und gute Aktionen dagegen, an denen auch die Anarchisten teilnahmen.

Man konnte damals bis zu 400, vor allem jugendliche Leute organisieren, was für Moskau gut ist.

Es gab einen Skandal und seitdem sollten wahrscheinlich die Polizisten vorsichtiger sein.

Außerdem gibt es politische Repression. Ab und zu versucht man, den Druck von Zeitungen zu stoppen, indem man das nicht wirklich offiziell verbietet, sondern eher subtil. Zum Beispiel: Da gehen die Leute, die etwas drucken wollen, in eine Druckerei und versuchen, das kommerziell zu machen.

Dann bekommen die Eigentümer der Druckerei einen Anruf von der Polizei oder von den Geheimdiensten. Man sagt: „Nein, Sie sollen das nicht machen. Sie dürfen das nicht machen.“

Dann gibt es eine Absage. Die Zeitungsmacher müssen dann lange suchen, bis sie eine Druckerei finden, die bereit ist, ihre Zeitung zu drucken. Wenn es in den kleineren Städten ist, wo nur eine Druckerei existiert oder nur zwei Druckereien, dann ist es noch komplizierter. Und teilweise gefährlich.

Dann gibt es auch das Spionieren gegen politische Aktivisten. Ein Mensch aus der unabhängigen syndikalistischen Gewerkschaftsinitiative aus Sibirien erzählte mir zum Beispiel eine Geschichte: Er fuhr aus der Provinz zum russischen Sozialforum in Moskau. Auf dem Bahnhof in Moskau wurde er plötzlich von der Polizei fest gehalten. Er fragte warum.

Er hat nichts getan. Nur aus dem Zug auf den Bahnsteig gestiegen und gleich fest gehalten. Warum? Man begleitete ihn zur Polizeistation und dort hat man ihm gesagt: „Wir bekamen eine Nachricht von Kollegen aus der Stadt, aus der Sie gekommen sind, dass ein gefährlicher Extremist mit diesem Zug fährt. Wir haben diese Information. Wir sollen diese Information prüfen.“

Der Mensch sollte zwei oder drei Stunden in der Polizeistation verbringen. Man hat ihm nichts getan, aber es ist trotzdem unangenehm, es ist eindeutig eine Art des politischen Drucks. Es gab auch andere, ähnliche Geschichten.

Jetzt zu diesen politischen Morden: Das ist eine rätselhafte Geschichte. Es gab schon eine Reihe. Und die wurden bisher nicht aufgeklärt. Nur wenige optimistische Personen glauben, dass diese Fälle irgendwann geklärt sein werden.

In Russland gab es immer schon viele kriminelle Morde. Das war und bleibt so. Aber das ist etwas anderes. Weil die Leute, die jetzt getötet wurden, keinen Bezug zu irgendwelchen materiellen, finanziellen oder kriminellen Operationen hatten. Das sind reine politische Morde.

So wurde vor einigen Jahren die Journalistin Anna Politkowskaja getötet. Die Behörden versuchten dann, den Mord auf die autonome tschetschenische Regierung abzuwälzen.

Gut, Politkowskaja besuchte manchmal Tschetschenien und kritisierte diese autonome Regierung wegen ihrer Willkür scharf. Aber: Sie hatte keinen wirklichen Einfluss auf die tschetschenische Regierung, und es war auch für die tschetschenische Regierung überhaupt nicht interessant, sie in Moskau zu töten. Das ergibt keinen Sinn.

Dann gab es im vorigen Jahr diesen mysteriösen Fall des ehemaligen Geheimdienstmitglieds Litwinenko, der in London getötet wurde. Auch eine ganz rätselhafte Geschichte, bisher nicht geklärt.

Was hat er gemacht? Er hat ein Buch veröffentlicht, in dem er geschrieben hat, dass wahrscheinlich die Geheimdienste Russlands selbst an den Explosionen der Häuser in Moskau schuld sind, die dann später als Vorwand für den zweiten Tschetschenien-Krieg dienten. Ich kann diese Dinge nicht beurteilen, habe keine Beweise, kaum Informationen. So oder anders wurde er getötet.

Dann gab es vor kurzem zwei weitere Mordanschläge. Ein fortschrittlicher Rechtsanwalt, Stanislaw Markelow, und eine Journalistin wurden gerade im Zentrum Moskaus getötet.

Markelow beschäftigte sich mit vielen Dingen, die dem Staat unangenehm waren. Er verteidigte die Menschenrechtler, die politischen Oppositionellen, die Teilnehmer der Demonstrationen, die von der Polizei angegriffen wurden. Er verteidigte auch Opfer der politischen und staatlichen Repression insgesamt … Sein letzter Prozess, sein letztes Thema handelte von dem russischen Armeeoberst Budanow, der seinerzeit wegen des Mordes und einer Vergewaltigung eines tschetschenischen Mädchens verurteilt wurde. Es gab mehrere solche Fälle.

Es gab einen Prozess und der Oberst wurde zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Aber Anfang 2009 wurde er plötzlich frei gelassen, vorzeitig.

Stanislaw Markelow war Anwalt der Familie dieses Mädchens. Er sagte: „Ich akzeptiere das nicht, ich gehe bis zum Europäischen Gerichtshof in Straßburg, weil dieser Oberst im Gefängnis sitzen soll. Er ist ein Kriegsverbrecher.“

An dem Tag, an dem er getötet wurde, gab er eine Pressekonferenz, bei der er erklärte, dass er das weiter machen wolle.

Und die Journalistin Anastasija Barburowa war mit ihm da. Sie war eine Anarchistin und arbeitete für eine mehr oder weniger oppositionelle russische Zeitung. Die wollte noch mit ihm ein Interview machen zu diesem Thema. Ein Berufskiller hat Stanislaw im Zentrum Moskaus von hinten in den Kopf geschossen. Anastasija trainierte früher in Sportkämpfen. Das war für sie quasi eine instinktive Situation. Sie versuchte, diesen Mörder fest zu halten. Dann schoss er auf sie und tötete sie auch.

Es gab gerade danach einige Protestkundgebungen in Moskau, am 20. Januar und am 1. Februar. Und zugleich gab es die parallelen Proteste in verschiedenen anderen Ländern. Polnische Anarchisten haben schon einige Aktionen vor dem russischen Konsulat gemacht. Französische Anarchosyndikalisten organisierten am 31. Januar und am 1. Februar auch Protestaktionen gegen diesen Mord. Man wollte auch in Russland weiter machen, am 8. Februar. Aber diese Aktion wurde von den Behörden verboten.

Wer steckt hinter diesen Morden?

Eine gute Frage. Ich meine, dass es nicht die Leute von ganz oben sind, weil es für sie eher den Verlust des politischen Prestiges bedeuten könnte. Aber vielleicht gibt es irgendetwas wie Todesschwadronen, entweder im Militär, im Geheimdienst oder im System des Innenministeriums, ich weiß nicht, wo genau.

Wahrscheinlich sind das mehrere. Und die töten solche Menschen, die in ihren Augen Verräter sind. Weil sie sagen, dass die Leute den Staat mit ihren Reden und ihren öffentlichen Aktivitäten diskreditieren.

Dafür sollen sie bestraft werden. Das erinnert an die Todesschwadronen in Lateinamerika, in Brasilien in den 1960er, 1970er Jahren. Aber natürlich sagen wir, dass die Behörden, die oben stehen, mitschuldig sind. Die organisieren das bestimmt nicht mit, aber die haben ein Klima geschaffen, wo solche Dinge möglich sind. Die haben diesen Nationalismus gepflegt, der auch ein Vorwand und ein Motiv für diese Mörder sein konnte.

Zu politischen Mördern: Es gibt auch faschistische Mörder. Es gibt faschistische Banden, die terrorisieren Leute, die töten Migranten, Leute aus den ehemaligen Republiken der Sowjetunion, aus Mittelasien und aus dem Kaukasus. Es gibt schon mehrere Mordfälle. Manchmal töten sie nicht nur die Erwachsenen, sondern auch Kinder. Ab und zu nimmt man diese jungen Faschos fest, aber die bekommen dann kleine Urteile, weil sie noch minderjährig sind. Sie benehmen sich aggressiv. Ich sah eine Fernsehreportage über einen Prozess gegen eine solche Bande. Diese Faschos saßen einfach im Saal und lachten. Man las ihnen ihr Urteil vor, aber die lachten.

GWR: Wie erklärst du dir diese Zunahme des Nationalismus und die zunehmende Brutalisierung innerhalb der politischen Rechten und in rechtsextremen Strömungen?

Vadim Damier: Das ist eine alte Geschichte. Das begann nicht gestern. Diese Fascho-Attacken sind nur die Spitze des Eisbergs. Und der Eisberg heißt Nationalismus.

Warum? Es ist im Prinzip klar: Russland ist ein neuer Staat, als Russland, nicht als Sowjetunion. Man baut einen neuen Staat, eine neue Nation auf. Dabei sind solche Dinge wie Aggressivität natürlich. Es ist ein Mittel in diesem Sinne. Das war immer und überall so. Das ist auch so in Russland. Das ist es einerseits.

Zum zweiten gibt es in Russland so eine Art der „Weimarer Syndrome“, so nennt man das bei uns schon. Das heißt, „wir“ hatten eine Supermacht, die dann von fremden Kräften zerstört wurde, ohne wirklich eine militärische Niederlage erlitten zu haben. Und wer hat das gemacht?

„Irgendwelche internationalen Verschwörer, möglicherweise Juden. Nicht unbedingt, aber möglich, Amerikaner, die Verräter aus der Parteielite, und natürlich Migranten, die sind sowieso schuld.“

Diese Syndrome erzwingen starke nationalistische Ressentiments. Vor allem bei den Jugendlichen und in der Zeit der Putin-Regierung erstarkte das alles noch, weil seine Macht basierte und basiert immer noch offen auf diesem nationalistischen Ressentiment der untergegangenen Supermacht, die wieder auferstehen soll.

So sieht es aus, das sind Gründe. Und Aggressivität ist überhaupt ein Versuch, die sozialen Probleme abzuwälzen. Das ist gar nicht so neu. Viele Leute sind im Moment ganz böse in Russland. Aber unglücklicherweise geht es nicht gegen die, die ganz oben sind, sondern gegen die Nachbarn. Das ist schlimm.

GWR: Wie siehst du die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise? Siehst du die dramatischer? Könnte es sein, dass auf der anderen Seite auch die sozialen Bewegungen, die für eine emanzipatorische Gesellschaft und gegen den Nationalismus kämpfen, mehr Zulauf bekommen?

Vadim Damier: Während der Krise? Na ja, das ist kompliziert. Auch in Russland gibt es eine Wirtschaftskrise, obwohl die Regierung immer noch sagt, wir wären wahrscheinlich überhaupt nicht betroffen, weil wir Erdöl und Ressourcen haben …

Aber in der Realität ist es anders. Die Krise kommt schon seit einigen Monaten. Es begann in Bereichen wie Bau-, Finanz- und Dienstleitungssektoren, dann Informatik, in der Computerherstellung … und verbreitete sich schnell auf die anderen Bereiche, und jetzt ist zum Beispiel auch Industrie, Wissenschaft und Kultur betroffen.

Die Arbeitslosigkeit nimmt zu. Nominell liegt sie bei bis zu zwei Millionen. Aber das sind nur die offiziellen Zahlen.

Zum zweiten sagen schon die Behörden, dass das bis zum Ende des Jahres sieben bis acht Millionen sein werden, und offiziell mit der Teilzeitarbeit sind es wesentlich mehr.

Dann gibt es wieder die Dinge wie Ende der 1990er Jahre: Man beginnt, die Löhne nicht rechtzeitig auszuzahlen. Diese Nichtauszahlung ist problematisch für die Leute. Wie sollen sie dann überleben?

Und was dann die Bewegungen betrifft: Im Moment ist der Widerstand schwach. Ich glaube nicht, dass es so automatisch zunehmen wird.

Kropotkin sagte seinerzeit: „Revolution entsteht aus der Hoffnung und nicht aus der Not.“

Das stimmt. Revolten können aus der Not entstehen, das sehen wir. In Nachbarstaaten wie Litauen und Lettland tut sich schon etwas. Auch in Island – das ist kein Nachbarland, aber trotzdem – gibt es schon etwas in Bezug auf die Krise. Bei uns noch nicht. Aber wir werden sehen.

GWR: Was wünscht du dir für die Zukunft?

Vadim Damier: Ich wünsche mir ein bisschen Hoffnung. Das heißt, ich möchte noch sehen, wie bei uns die mächtigen, realen Bewegungen entstehen, die die soziale Situation in meinem Land ändern werden. Das ist meine Hoffnung und das sind meine Wünsche.

Anmerkungen

Das Interview wurde im Studio des medienforum münster als Graswurzelrevolution-Radiosendung aufgezeichnet. Es wird voraussichtlich Mitte April 2009 auf Antenne Münster (AM, 95,4 Mhz) ausgestrahlt und anschließend auf www.freie-radios.net zu hören sein.

Die zu Vadim Damiers Veranstaltungs-Rundreise im Februar 2009 herausgekommene Broschüre "Machtproben im Kaukasus" dokumentiert Analysen zum Krieg, sowie Artikel zu den Themen "Russland: Militär und Gesellschaft", "Georgien: Staat und Krieg". Preis: 4 Euro (zzgl. 3 Euro Versandkosten) bei Connection e.V., Gerberstr. 5, 63065 Offenbach, www.Connection-eV.de