Eine lange Schlange von Autos mit schwarzen Trauerbändern und Schuhen, dem Symbol von Angestrandeten, bewegt sich von der sizilianischen Kleinstadt Noto an die Küste. Vendicari ist das Ziel, ein Naturschutzgebiet mit kleinen Sandstränden und hübschen Buchten. 17 Leichen, MigrantInnen und Flüchtlinge, waren hier im November 2007 angeschwemmt worden, drei von ihnen, Palästinenser, sind namenlos geblieben.
Ein Jahr nach diesem Unglück haben italienische und deutsche AktivistInnen einen Gedenktag organisiert, um neben diesen 17 Menschen auch der anderen Tausenden Opfer der Abschottungspolitik zu gedenken, die auf dem Grunde des Meeres bleiben.
Said ist Ägypter. Er lebte schon seit einigen Jahren in Mailand, als ihn der Anruf erreichte: unsere Verwandten sind mit dem Boot losgefahren und haben sich nicht mehr gemeldet! Said versucht über die Polizei in Mailand und Rom Näheres zu erfahren, schließlich schickt man ihn nach Sizilien. Da seien 17 Leichen angeschwemmt worden, er solle sie identifizieren. Zwei Cousins, einen Schwager, einen Neffen und seinen Bruder verliert Said mit einem der unzähligen Schiffsbrüche im Meer rund um Sizilien.
Imam Mufid aus Catania betet mit den angereisten Verwandten der Verstorbenen. Er spricht von der Verantwortung der europäischen Politik, von den unvergessenen Toten, die auf der Flucht ihr Leben gelassen haben.
Said wirft zwei große Sträuße mit Rosen ins Meer und weint um seine verstorbenen Verwandten.
Jedes Jahr verlieren Hunderte von Flüchtlingen ihr Leben auf See. Die, die Italien erreichen, haben oft keinerlei Chance, legal im Land zu bleiben.
Seit Ende 2008 weht nun ein noch eisigerer Wind aus Rom.
Nachdem im Dezember 2008 an die 2.000 Flüchtlinge auf der Insel Lampedusa gelandet waren – sehr ungewöhnlich für die Wintermonate – zielt Italiens Innenminister Maroni (Lega Nord, extreme Rechte) auf die populistische Wirkung des „Hau drauf“: Diesem ‚Massenansturm‘ muss Einhalt geboten werden! Kein Flüchtling soll mehr nach Italien verteilt werden, alle sollen sie auf der Insel bleiben und von dort zurückgeschoben werden. Sollte ein Asylantrag gestellt werden, so wird dies noch vor Ort geprüft. Problem: Das Aufnahmezentrum von Lampedusa verfügt über gerade einmal 800 Plätze. Mit 2.000 Menschen ist es hoffnungslos überbelegt. Das Wetter ist schlecht, die Menschen müssen trotzdem draußen schlafen. Nur sehr wenige werden – entgegen der Aussage der Regierung – in andere Lager verteilt.
Die Situation eskaliert, Hunderte von Flüchtlingen brechen aus dem bewachten Lager aus und demonstrieren im Dorf: Sie wollen umgehend in andere Aufnahmelager verlegt werden. Seite an Seite mit der lampedusanischen Bevölkerung stehen sie auf der Piazza – einmalig in der bisherigen Geschichte des Flüchtlingslagers auf der Insel. Auch die Lampedusaner und ihr rechtsgerichteter Bürgermeister fordern die Verlegung der Flüchtlinge. Die einen sehen die Not der Flüchtlinge, einige verstecken sie sogar in ihren Häusern, die anderen bangen um den touristischen Ruf der Insel. Die Regierung versucht unterdessen, die Insel zu militarisieren. Schon jetzt patrouillieren Hunderte von Soldaten über das kleine Eiland.
Maroni bleibt hart, gegen alle Insulanerproteste verkündet er die Eröffnung eines zweiten Lagers auf der abgelegenen Militärbasis Loran.
Lampedusa gilt nun als Zentrum für Identifikation und Abschiebung, dem unter der Berlusconi-Regierung neu installierten Lagertyp, der dazu dient, alle illegal Eingereisten festzuhalten und nach der Identifizierung möglichst rasch abzuschieben. Auf der Basis Loran fehlt es an jeglicher Struktur zur Unterbringung von Flüchtlingen, dennoch werden an die 70 Frauen dorthin verlegt. Erst ein Brand im Februar 2009 zwingt die Regierung, die Flüchtlinge nun doch zügig auf andere Lager zu verteilen.
Der Innenminister versucht indessen, die bilateralen Abkommen mit Tunesien und Libyen in Gang zu bringen. Ende Dezember reist er nach Tunis und erhält die Zustimmung, dass tunesische Flüchtlinge und MigrantInnen zurückgenommen werden.
Der Jurist und Flüchtlingsaktivist Fulvio Vassallo Paleologo beschreibt das ganze Getue um das Rückübernahmeabkommen mit Tunesien als populistische Farce: Es werden seitdem nicht mehr und nicht weniger TunesierInnen zurückgeschoben als vorher.
Der Ruf nach Massenabschiebungen ist besorgniserregend.
Noch gut in Erinnerung sind den AktivistInnen die illegalen Massenabschiebungen von Lampedusa nach Libyen, die auch vom Europäischen Parlament 2005 verurteilt wurden.
Auch jetzt werden neben TunesierInnen vor allem ÄgypterInnen direkt von Lampedusa mit einer Zwischenlandung auf Sizilien nach Kairo zurückgeschoben. Einen Zugang zum Asylverfahren hatten diese Menschen nicht, was auch Proteste des UNHCR hervorruft.
Doch Maroni lässt nicht locker, er versucht, das im August 2008 geschlossene Abkommen zwischen Italien und Libyen endlich zu aktivieren. Die beschlossenen gemeinsamen Patrouillen vor der libyschen Küste mit sechs von Italien gestellten Booten sind bis heute nicht gestartet, denn das italienische Parlament hat dem Abkommen noch gar nicht zugestimmt.
Vassallo Paleologo: „Was bitte sollten auch sechs kleine Patrouillenboote ausrichten? Wir haben allein hier in Palermo 12 Boote liegen, die abwechselnd rausfahren – und was konnten die bisher schon verhindern. Das ist alles reine Augenwischerei.“
Doch diese kommt gut an in der Bevölkerung, in der man die Angst vor „Illegalen“ medial geschürt hat. Täglich werden in Fernsehtalkshows die Themen Migration, Kriminalität durch MigrantInnen und die dadurch schwindende Sicherheit diskutiert. Der Prozentsatz an durch AusländerInnen verübten Straftaten sei enorm gestiegen.
Nicht erwähnt wird dabei, dass seit dem Inkrafttreten des Sicherheitspaketes 2008 in Italien die illegale Einreise als Straftat gilt – damit kreiert man allein schon 36.000 StraftäterInnen, die Italien in 2008 über See erreicht haben! Straftaten, die kein Italiener begehen kann.
Gleiches geschieht mit den Zahlen der Ankünfte über See: auch wenn diese um 75 % in 2008 gestiegen sind (ca. 31.000 Menschen sind im letzten Jahr auf Lampedusa angelandet), so sind es dennoch nur ca. 15 % derjenigen ohne Papiere im ganzen Land, wie auch ExpertInnen bestätigen: Die meisten die sich in Italien irregulär aufhaltenden Menschen sind die mit Visum Eingereisten, die das Land nach dessen Ablauf nicht verlassen haben!
Die Rechte ist jedoch sehr darauf bedacht, dass das nicht zu öffentlich wird. Mit den Bildern von in kleine Boote gepferchten ‚Massen‘, die über See ankommen, ist der populistische Blumentopf am ehesten zu gewinnen. Schade nur, dass die meisten Medien genau auf dieses Bild einsteigen und nur in den seltensten Fällen alle Seiten beleuchten. Sicher ist es sinnvoll, auf die unerträgliche Situation in Lampedusa aufmerksam zu machen, selten jedoch wird auch die Frage erörtert, was die nationale und die europäische Politik zu diesem Bild beitragen. Maroni und Berlusconi scheinen zu glauben, wenn man das „Bild Lampedusa“ abschafft, dann ist das ‚Problem Migration‘ gelöst.
Für die Menschen, die Flüchtlinge und MigrantInnen jedoch ist gar nichts gelöst, ihre Probleme werden weiterhin populistisch unter den Teppich gekehrt, wie man auch an dem neuen Straftatbestand „illegale Einreise“ deutlich erkennen kann.
Es geht schon lange nicht mehr um Flüchtlinge und deren Schutz. Und diese Tendenz verschärft sich auch in Italien immer mehr.
Anmerkungen
Anm. der GWR-Red.: Judith Gleitze war langjährige Geschäftsführerin des Flüchtlingsrates Brandenburg und Vorstandsmitglied von PRO ASYL; sie ist Mitgründerin von borderline-europe, Menschenrechte ohne Grenzen e.V. und borderline-sicilia. Sie beschäftigt sich vor allem mit der Flüchtlingsfrage in Italien.