transnationales

Tibet und der chinesische Kolonialismus

Es gibt unterdrückte TibeterInnen, sowie Chinas Staat und Militär als Unterdrücker

| Sal Macis

Die Tibet-Artikel in GWR 329 (Mai 2008) und GWR 330 (Sommer 2008) regten im HerausgeberInnenkreis der Graswurzelrevolution interne Diskussionen an, die wir jetzt in der GWR weiter führen. In der GWR 337 haben wir den Diskussionsbeitrag "Die Tibetfrage und der Neonationalismus. Heimat = Shangri-La? Es gibt keine ChinesInnen, Deutschen oder TibeterInnen" von Jörg Djuren (Graswurzelgruppe Hannover) abgedruckt. Nun veröffentlichen wir die Erwiderung darauf von GWR-Mitherausgeber Sal Macis (Marseille). (GWR-Red.)

Im März 2009 gedachte die transnationale Tibet-Solidarität zwei wichtiger Daten:

Am 10. März 1959 flüchtete Tenzin Gyatso (1) nach einem tibetischen Aufstand relativ geringen Gewaltniveaus nach Indien. Der Aufstand wurde von der chinesischen Armee blutig niedergeschlagen.

Und am 14. März jährte sich zum ersten Mal die tibetische Revolte von 2008, die von gewaltfreien Aktionen der buddhistischen Mönche und Nonnen ausging, dann aber auch in Gewalttaten gegen chinesische Geschäfte und BürgerInnen umschlug. (2)

Was aber lesen wir in der GWR-Ausgabe zum Jahrestag dieser Ereignisse? Eine Denunziation des „Neonationalismus“ am exemplarischen Beispiel Tibets, die in der Empfehlung gipfelt, es sei falsch, die „deutsche“ Solidaritätsbewegung für Tibet zu unterstützen, in der sich auch eine Merkel und ein Herr Koch tummelten.

Ich bestreite die Kernthesen dieses Artikels und empfehle als gewaltfreier Anarchist die kritische Unterstützung der transnationalen – nicht der deutschen – Tibet-Solidarität.

Nationalismuskritik auf eurozentrischer Grundlage

Ich teile die vom Autor Jörg Djuren eingangs vorgestellte Kritik der Nationalstaatsbildung als Disziplinierungs- und Modernisierungsprozess im einzelnen wie im Bevölkerungskörper. Doch was er dann macht, ist eine klassisch linke und eurozentrische Übertragung von historisch-sozialen Entwicklungen innerhalb Europas – und eben fast nur dort untersucht – auf andere Weltgegenden, hier Tibet.

Wenn Jörg schreibt, die Erfindung Nationalstaat habe ihren Ausgangspunkt „in den freien Städten“, dann meint er die europäischen Städte des Mittelalters und eben nicht die Tibets. In Tibet gab es keine ähnlichen Städte und bis heute gibt es dort auch kein vergleichbares, sondern nur ein abhängiges Bürgertum.

Diese Sorte des Eurozentrismus ist eine typisch marxistische. Schon Marx glaubte, mit seiner Kategorie der „asiatischen Produktionsweise“ europäischen und indischen Feudalismus einfach gleichsetzen zu können – man/frau beachte hier, dass Marx tatsächlich nur den indischen Feudalismus versuchte zu beschreiben, aber als eurozentrischer Modernist schon gleich mal die Kategorie „asiatisch“ dafür gebrauchte.

In Indien hat sich seit den 1980er Jahren eine ganze Generation von AktivistInnen und HistorikerInnen gegen diese Feudalismus-Übertragung ausgesprochen und auch der tibetische „Feudalismus“ ist eben nicht einfach mit dem europäischen zu vergleichen. Nur deshalb kann etwa der indische Graswurzelrevolutionär Jogin S. schreiben: „Das alte Tibet hatte fast keine Armee und keine Kriegstradition. Eine nur aus einer Hundertschaft bestehende externe Armee konnte jederzeit Lhasa besetzen. Alt-Tibet hatte kaum Gefängnisse und keine Tradition der Todesstrafe.“ (3)

Das nur als Kontrapunkt zu allen Gewalt- und Herrschaftsformen vorwiegend aus Kriegen zwischen verschiedenen Adels-Clans, die es natürlich auch gab und die Jörg hinlänglich beschreibt, bis hin selbstredend zu drastisch ausgedrückten Brutalitäten wie dem Augäpfel-Ausreißen bei Oppositionellen. Doch im Furor der Denunziation des alten Tibet schleichen sich dann Sätze ein wie: „Teile des Militärs wurden aufgelöst, weitere Modernisierungen unterbunden“, und das als Kritik! Und das in der antimilitaristischen GWR, die die Auflösung von Militär weltweit fordert!

Das war ja ein Grund dafür, dass die alten Lamas bei den MongolInnen und ChinesInnen mitunter militärischen Schutz suchten, weil ihre buddhistische Gesellschaft eben kein taugliches Militär hervorbrachte! Im Kontext des Zitats geht es hier um die Auflösung der ersten weltlichen Schule, die 1922-26 in Gyantse bestand. Was Jörg verschweigt, ist, dass sie mit zustimmender Duldung und erst nach weltoffenen Reformen von Lobsang Thupten Gyatso (13. Dalai-Lama; u.a. Verbot der Todesstrafe, Ausbildung im westlichen Ausland wird ermöglicht) geöffnet werden konnte – der sie dann später, wieder konservativer geworden, auch wieder schloss. Vor allem aber, dass die späteren weltlichen Schulen der chinesischen Kolonialmacht die tibetische Kultur negierten, was bei traditionellen TibeterInnen zu massenhaften Schulverweigerungen führte (eine Form gewaltfreien Widerstands).

Die chinesische Modernisierung war eine Disziplinierung der als chaotisch, nomadisch und unterentwickelt begriffenen tibetischen Kultur. Die chinesische Indoktrination der tibetischen Kinder war das Mittel, dem beizukommen.

Angesichts dieser kulturellen Modernisierung schickten die Eltern ihre Kinder eben wieder in religiöse Klosterschulen. (4)

Was hat Jörg noch als Bestandteil des Nationalstaats und der Produktion moderner Subjekte beschrieben: „die Verschulung des Menschen“ – richtig, nur war es die chinesische Kolonialmacht, die sie betrieb und die Menschen für die Moderne disziplinierte.

Jörg weigert sich zudem, im tibetischen Buddhismus mindestens zwei Strömungen auszumachen, eine gewaltlose, tolerante, potentiell gerade auch dem Atheismus gegenüber offene Tradition (es gibt immerhin keinen personalen Gott) und eine gewaltsame, reaktionäre. Ihn interessiert diese Unterscheidung unterschiedlicher Traditionen innerhalb derselben Kultur gar nicht und genau darin liegt sein für die europäische Linke exemplarischer Eurozentrismus.

Es waren aber die gewaltlosen buddhistischen Mönche und Nonnen, die den Aufstand vor einem Jahr mit massenhaften gewaltfreien Aktionen begannen, ohne Hass auf chinesische MitbewohnerInnen, der dann erst von einigen Jugendlichen außerhalb der Klöster dazukam und bis heute nicht dominant im tibetischen Widerstand ist – trotz der Kritik des Jugendkongresses an der Gewaltlosigkeitsstrategie Tenzin Gyatsos. Es waren auch die gewaltlosen buddhistischen Mönche/Nonnen, die in Vietnam gewaltlosen Widerstand gegen den US-Krieg leisteten oder die in Birma mehrfach das brutale Militärregime gewaltlos bekämpften – wäre all das nicht Grund genug, sich den Buddhismus genauer anzusehen und nach Gründen für soviel gewaltlose Kämpfe zu suchen?

Stattdessen degeneriert bei Jörg die Revolte, die das ganze Land und sogar tibetische Gruppen in chinesischen Provinzen erfasste, zu einer bürgerlichen Angelegenheit, getragen nur von „einem kleinen Teil der Bevölkerung“ – eine beschämende Reduktion.

Es gilt in der internationalen Tibet-Solidarität, gerade die vorhandenen gewaltlosen Tendenzen zu unterstützen und sie gegen Gegengewalt-orientierte Tendenzen und reine Nationalismen zu verteidigen.

Einmischen und Unterstützen ist nötig, nicht pauschale Verdammung und Abseits-Stehen

Was in Jörgs Kritik des tibetischen Neonationalismus fehlt, ist die Dimension des Kolonialismus, der Wille, hier zwischen Unterdrückenden und Unterdrückten zu unterscheiden und einen kolonialen Kontext zu erkennen, geschweige denn in die Analyse des Nationalismus mit einzubeziehen. So gibt es für Jörg gerade deshalb keinen chinesischen Kolonialismus, weil seiner Meinung nach während der Unabhängigkeit Tibets (1911-1949) „der Aufbau nationalstaatlicher Institutionen oder einer nationalstaatlichen Politik (…) nicht (erfolgte). Tibet blieb ein Territorium ohne Nationalstaat“.

Ist das denn aus gewaltfrei-libertärer Sicht nicht eher sympathisch?

Tatsächlich schottete sich das unabhängige Tibet eher ab, bemühte sich nicht um internationale Anerkennung im Völkerbund – doch der Zustand der Unabhängigkeit auch von den westlichen Kolonialmächten ist historisch unbestreitbar: als die chinesische Armee einmarschierte, um das Land vom „Imperialismus“ zu befreien, befanden sich gerade mal rund zehn westliche Botschaftsangestellte im Land. (5)

Was hier unter libertärem, gerade nationalismuskritischem Vorzeichen positiv erscheint, wird Tibet in Jörgs Analyse aber zum Verhängnis. Wo kein Nationalstaat ist, ist die Okkupation folglich auch keine solche. Im Gegensatz zum alten Tibet gibt es für Jörg nunmehr keine chinesischen Gewaltorgien und Augenausreißen, sondern nur noch einen „Konflikt“ oder immerhin eine „rigide“ Durchsetzung der Parteilinie. Sprache ist verräterisch: Jörg spricht nur noch von der TAR. Das ist die Übernahme des chinesischen Newspeak – Orwell pur: ich möchte Jörg empfehlen, auch nur irgendeine/n TibeterIn zu fragen, ob er/sie aus der TAR kommt oder dorthin zurück will. Er würde nur ein verständnisloses ‚wie bitte?‘ ernten. Tibet TAR zu nennen, ist grotesk. Hier zeigt sich, dass im kolonialen Kontext reine Nationalismuskritik in der Affirmation kolonialer Herrschaft endet.

Die Realität des chinesischen Kolonialismus

Der junge und unerfahrene Tenzin Gyatso hat tatsächlich 1954 Mao besucht. Der Neunzehnjährige war naiv und hat sich vom heuchlerisch schmeichelnden Mao über den Tisch ziehen lassen, der längst anderes vorhatte. Es war sogar Tenzins Konkurrent und anfänglicher chinesischer Kollaborateur Chokyi Gyaltsen (6), der schließlich das Land bereiste und 1962 an Zhou Enlai einen realistischen Zeugenbericht über die bisherigen Jahre der Besatzung sandte, die erst 1989 bekannt gewordenen ‚70.000 Zeichen‘. Darin beschreibt er die Ergebnisse der 1959 in Tibet eingeführten Volkskommunen.

Die noch rund 20 % der nomadischen Bevölkerung wurden zwangsweise sesshaft gemacht und in die Volkskommunen integriert – die versuchte Auslöschung einer Lebensweise.

Innerhalb der Volkskommunen wurden Privilegien für diejenigen vergeben, die andere als „Reaktionäre“ denunzierten.

Bauern und Bäuerinnen wurden regelmäßig zum Thamzing verurteilt: öffentliche Sitzungen der Selbstkritik, in denen das Opfer von Familienangehörigen, Kindern und FreundInnen kritisiert, geschlagen, bespuckt wurde, was aus Beschämung oft im Selbstmord oder dem Wunsch des Opfers, sofort getötet zu werden, endete. Die BewohnerInnen der Volkskommunen konnten nur ein Fünftel ihrer Ernte behalten. Nahrungsmittel wurden rationiert; für TibeterInnen gab es nur reduzierte Mengen tsampa-Mehl und schwarzen Tee, doch das chinesische Personal bekam neben Mehl auch Reis, Butter und Fleisch – was auf tibetischen Bauernhöfen vor den Volkskommunen reichlich vorhanden war. All das war Grund für die spätere Hungersnot in Tibet. Die Repression erstreckte sich auf alle Lebensbereiche.

Gyaltsen berichtet auch von Zwangsabbrüchen von Schwangerschaften: Frauen zwischen 12 und 45 Jahren mussten sich auf dem Dorfplatz versammeln, vor einem chinesischen Zelt. Die Freiwilligen erhielten medizinische Betreuung nach dem Eingriff; diejenigen, die ins Zelt gezwungen werden mussten, erhielten nichts und verbluteten oft.

Die Föten wurden vor den wartenden Schwangeren am Zelteingang auf einen Haufen geworfen. (7) Das nur als ein kleiner Teil der kolonialen Gegenrealität zum alttibetischen Augenausreißen. Das eine wie das andere ist barbarisch – niemand sollte die maoistischen Formen der Repression mit Verweis auf vorkoloniale Bestialitäten entschuldigen oder relativieren!

Am 22.1.1950 traf sich Mao mit Stalin und fragte, ob die sowjetische Luftwaffe Waffen für die chinesische Armee transportieren könnte, die sich auf die Invasion Tibets vorbereite.

Stalin dazu: „Gut, dass Sie einen Angriff vorbereiten. Die Tibeter müssen unterdrückt werden.“ Stalin riet auch dazu, Tibet und andere Grenzregionen mit Han-ChinesInnen zu besiedeln. Der Maoismus ist eine Form des Stalinismus – auch das vergessen viele Linke, die sich offiziell seit langem AntistalinistInnen nennen. (8)

Staatliche Bevölkerungspolitik war von Anfang an Bestandteil der maoistischen Kolonialpolitik. Nur deshalb drohen die TibeterInnen zur Minderheit im eigenen Land zu werden. Das ist kein natürlicher Vorgang, sondern staatlich geplant, begonnen beim Straßenbau und bei der Zugverbindung Beijing-Lhasa.

Das heißt nicht, dass die gewaltsamen Ausbrüche bei der tibetischen Revolte vor einem Jahr berechtigt gewesen wären. Aber wo ein Rassismus von unten konstatiert wird, sollte nicht vom Rassismus von oben geschwiegen werden. Alles eine Frage der Perspektive: Angesichts einer frauenfeindlichen Bevölkerungspolitik Chinas ist es m.E. eher der gewaltlosen tibetischen Kultur zuzuschreiben, dass ressentimentgeladene Ausschreitungen in 50 Jahren nicht öfter passiert sind. Wo Bürgerkriege und bewaffnete nationale Befreiungsbewegungen über Jahrzehnte gewütet haben, ist in einem Zeitraum von 50 Jahren eine ganz andere Dimension an Rassismus zu konstatieren als gerade der tibetische.

Gandhi, Tagore und Tenzin Gyatso

Es ist diese Qualität der weit verbreiteten, vor allem von den buddhistischen Mönchen und Nonnen praktizierten Gewaltlosigkeit, die Jörg in seiner Nationalismuskritik konstant ignoriert. Schon bei der Auflösung des Kolonialreichs Sowjetunion zeigten sich einerseits kritikwürdige Nationalismen, andererseits aber auch qualitative Unterschiede: die Unabhängigkeit der baltischen Staaten etwa (trotz gefährlicher antirussischer Ressentiments da und dort) oder auch die Trennung in Tschechien und Slowakei vollzog sich ohne Bürgerkrieg wie in Jugoslawien oder im Kaukasus (z.B. Tschetschenien) – welch ein qualitativer Unterschied, und zwar für Generationen Beteiligter, die keine Toten zu beklagen haben. Versöhnung und Wiederzusammenleben werden so möglich, während sie durch Kolonialismus und Bürgerkrieg unmöglich gemacht werden.

Der tibetische Widerstand teilt sich in unterschiedliche Gruppen auf: der Tibetische Jugendkongress befürwortet einen harten Nationalismus und hat eine Kritik an der Gewaltlosigkeit Tenzin Gyatsos. Andere, wie der gewaltfreie Aktivist Tenzin Tsundune, befürworten die nationale Unabhängigkeit und kritisieren an Tenzin Gyatso dessen Tendenz, Gewaltlosigkeit als Verhandlungen mit dem Gegner misszuverstehen und die Strategie der gewaltlosen Aktion zu vernachlässigen. Gerade unter dem Gesichtspunkt der Nationalismuskritik kann jedoch kein Zweifel daran bestehen, dass die Position von Tenzin Gyatso heute die am wenigsten nationalistische ist: Welche prägende Persönlichkeit gegen Kolonialismen in den letzten 50 Jahren hat sich mit einer wirklichen, realen Autonomie innerhalb des Kolonialstaats zufrieden gegeben?

Genau das aber ist die Position Tenzin Gyatsos, die er auch während der Revolte und nach der gescheiterten Dialogstrategie bis heute aufrecht erhält.

Wie bei Gandhi ist bei Tenzin Gyatso der Nationalismus eben kein Gegensatz zum Universalismus, er trennt nicht Kulturen, sondern vermischt sie und interpretiert sie neu. Bei beiden ist Gewaltlosigkeit ein universaler Wert, der durch die Form des Kampfes weit über den begrenzten nationalen Rahmen Gültigkeit erlangen soll. Gandhi sagte, die Gewaltlosigkeit sei das Geschenk Indiens an die Welt. Für ihn war die lokale Ebene so wichtig wie die regionale wie die nationale wie die universale. Die nationale Ebene wird da eben nicht besonders hervorgehoben – ganz zu schweigen von seinen bewaffneten Feinden wie Subhas Chandra Bose, der aus nationalistischen Gründen das Bündnis mit den Nazis und Japan suchte.

Das nationalistische Selbstverständnis Tenzin Gyatsos lautet:

„In erster Linie bin ich Mensch und ich rede als Mensch über das, was in unser aller Verantwortung liegt. In zweiter Linie bin ich buddhistischer Mönch und an meine Gelübde gebunden; erst an dritter Stelle bin ich Tibeter, das Oberhaupt eines Volkes, dem die Freiheit geraubt wurde.“

Bleibt zu betonen, dass in den letzten Jahren sogar der Wille offenkundig geworden ist, spirituelle und weltliche Institutionen zu trennen.

Sogar sein Biograph schreibt: „Seine dritte Verpflichtung, diejenigen gegenüber dem tibetischen Volk, ist zeitlich begrenzt und wäre mit der Erlangung der Freiheit Tibets und der Demokratisierung seiner Gesellschaft erloschen.“ (9)

Welchen Diktator, welchen Gottkönig bekämpfen europäische Linke hier denn? Mugabe? Saddam Hussein? Bush? Wer diesen gemäßigten Nationalismus nicht erkennt und keinen analytischen Trennungsstrich zu den Genannten ziehen kann, hat nicht erfasst, warum Gandhi zwar Kampagnen für die Unabhängigkeit Indiens geführt hat, aber dann eben nicht Staatschef geworden ist, enttäuscht war über die Form der Unabhängigkeit, oder warum er von einem Hindu-Nationalisten ermordet wurde, der Gandhi noch vor Gericht gerade als ‚Verräter an der Nation‘, als ‚Anti-Nationalist‘, als ’sanatani‘ (Traditionalist gegen den modernen Staat) denunzierte.

Im Sommer 2008 fand kurz vor den Olympischen Spielen in Bejing die beste und transnationalste direkte gewaltfreie Aktion seit Jahren statt: der weltweite Wettbewerb zum Ausblasen der olympischen Flamme.

Der olympische Fackellauf ist übrigens ein Geschenk der Nazis von 1936, da wurde er überhaupt erstmals praktiziert, um die Verbundenheit der Nazi-Kultur mit dem Körperkult Griechenlands ideologisch zu befestigen. 2008 wurde die Flamme in Paris von den „Désobeissants“ (Ungehorsame) ausgeblasen – einem Netzwerk gewaltfreier AktivistInnen um einen Greenpeace-Aussteiger -, der Fackellauf musste abgebrochen werden. In der ganzen Welt beteiligten sich internationale Tibet-SympathisantInnen und AktivistInnen aus der Anti-Globalisierungsbewegung an den gewaltfreien Aktionen. Über alle Bildschirme liefen die chinesischen Geheimdienstleute in ihren Sportanzügen herum und versuchten vergebens, die Flamme vor dem transnationalen Blasebalg oder einem geschütteten Kübel Wasser zu schützen. Ich kann mich nicht erinnern, dass ein dermaßen brutaler, repressiver Geheimdienst in den letzten Jahren auf solch tolle, geradezu surrealistische Weise weltweit lächerlich gemacht werden konnte.

Heute schweigen die westlichen Medien eher. Ohne Olympia interessiert Tibet kaum. Ein Jahr nach der Revolte hat China seine paramilitärischen und Polizeitruppen in Tibet verstärkt und den sowieso nie erstgenommenen Dialog für beendet erklärt. Außenminister Yang Jiechi hat erklärt, die „Clique des Dalai-Lama besteht nach wie vor auf einem ‚Groß-Tibet‘ auf einem Viertel des chinesischen Territoriums“. (10) Das ist chinesischer Zentralismus und Kolonialismus – und das ist das Problem der Tibetfrage, nicht die Struktur und die Perspektive des tibetischen Widerstands.

Bleibt das Problem Merkel, Koch, CIA et al: Als Tenzin Gyatso bereits in den 1950er Jahren gegen den bewaffneten Kampf argumentierte, ging er explizit auf Distanz zu den Kämpfern, die von Anfang an mit dem US-amerikanischen und indischen Geheimdienst zusammenarbeiten wollten. Es waren die Bewaffneten, die das machten, nicht die Gewaltlosen.

Und heute?

Merkel, Koch und Co. sind gegen die birmesische Militärherrschaft – ich auch; sie sind gegen die nordkoreanischen KommunistInnen – ich auch. Sie sind gegen Chinas Okkupation Tibets – ich auch.

Na und?

Das ‚Problem‘ ist so alt wie der Staatskommunismus. Wer Feinde des Westens kritisiert, wird der Kollaboration, ja der Identifikation mit ihm geziehen. Das war schon immer falsch und ignorant. Das hat schon immer negiert, dass die Gründe libertär-gewaltfreier Sympathie ganz andere sind als geopolitische Interessen, die sich von heute auf morgen ändern können und denen das deutsche Interesse zunächst einmal diktiert, gute Wirtschaftsbeziehungen zu China aufrechtzuerhalten.

Nichts ist älter als solcher Kalte-Kriegs-Klamauk aus DKP-Zeiten.

In Landauers Sinne unterstütze ich die tibetische Revolte heute und die zu fordernde Revolte gegen einen potentiellen Nationalstaat nach der Befreiung Tibets morgen.

(1) Tenzin Gyatso ist der 14. Dalai Lama, noch heute spirituelles Oberhaupt der tibetischen BuddhistInnen. Ich benutze den bürgerlichen Namen, um hier nicht der Reproduktion von Heiligenverehrung geziehen zu werden.

(2) Vgl.: die Artikel in der GWR Nr. 329: Tibet: Zwischen Emanzipation und Ressentiment; sowie: Tibet und wir, von Jogin S., S. 1,14,15

(3) Jogin S.: Tibet und wir, a.a.O., S. 15

(4) Lobsang Thupten Gyatso war der 13. Dalai Lama. Vgl. Klemens Ludwig: Dalai Lama, München 2008, S. 38f.

(5) Gilles van Grasdorff: La nouvelle histoire du Tibet, Paris 2006, S. 329. Der Autor befürwortet den bewaffneten Kampf der TibeterInnen, muss also scharf gegen den Strich gelesen werden, bietet aber gleichwohl viele Informationen.

(6) Auch Panchen Lama genannt. Der Titel heißt wörtlich 'großer Gelehrter'. Der vom Dalai Lama ausgewählte Lehrer wurde zur zweithöchsten spirituellen Institution des tibetischen Buddhismus. Das wurde zur Quelle einer Rivalität, der sich die chinesische Kolonialmacht bediente.

(7) Gilles van Grasdorff, a.a.O., S. 330-339

(8) Jung Chang, Jon Halliday: Mao, München 2005, S. 594

(9) Zu dieser antimodernen, nationalismuskritischen Interpretation Gandhis vgl. Ashis Nandy: Der Intimfeind. Verlust und Wiederaneignung der Persönlichkeit im Kolonialismus, Verlag Graswurzelrevolution, Nettersheim 2008