Der alte Mann sitzt mit seinen Hauspantoffeln in dem autonomen Zentrum vor der Leinwand und kommentiert seinen Film über den Spanischen Bürgerkrieg. Die vereinzelten Zigarettenstummel, die sich unter und neben seinem karierten Schuhwerk zu sammeln begannen, sind im Laufe der Veranstaltung zu einem stattlichen Häuflein gewachsen. Dennoch ist er 87 Jahre alt geworden. Am Ostermontag 2009 starb der Anarchist Abel Paz in Barcelona, wo er seit seiner Rückkehr aus dem französischen Exil in den späten 1970er Jahren gelebt hatte.
Nachruf
„Damals entstand ein Solidaritätsgefühl, das mit der Situation eines Hausbrandes in der Nachbarschaft in einer Stadt vergleichbar ist. Das erste, was man tut, ist, die Leute drinnen zu warnen, sie herauszuholen, irgendwie zu organisieren, dass da keiner zu Schaden kommt. Egal, ob man den Nachbarn mag oder nicht. Man eilt zur Hilfe. Oder wie es bei den Bauern ist, wenn Sturm aufkommt. Dann vereinen sich alle Bauern und Bäuerinnen aus einem Dorf, um zu versuchen, sich so zu organisieren, dass die Ernte nicht zu stark beschädigt wird, dass sie ihre Ernte retten können – egal, welche Streitigkeiten es zuvor gegeben hat. So ist auch die Revolution. Leute, die sich vorher nicht kannten oder sich nicht mochten, kämpften mit einem Mal gemeinsam für eine Sache. Und diese Solidarität ist das wichtige an einer Revolution. Die Differenzen unter den Leuten waren verschwunden. Menschen, die sich nicht kannten, sprachen miteinander und befragten sich gegenseitig. Das ist ein Phänomen der Revolution. Diese Dinge habe ich zweimal in meinem Leben erlebt: am 19. Juli 1936 in Barcelona und im Mai 1968 in Paris. Der Klassenunterschied verschwand. Es kam eine Freude auf, endlich das Leben in die Hand nehmen zu können. Auch wenn man weiß, dass die Macht, die einem gegenüber steht, wesentlich stärker und organisierter ist, ist man sich in diesem Moment trotzdem sicher, dass man sie besiegen kann. Man geht einfach ans Werk, weil man von sich selbst überzeugt ist.“
Abel Paz, in: Bernd Drücke, Luz Kerkeling, Martin Baxmeyer (Hg.): Abel Paz und die Spanische Revolution. Interviews und Vorträge, http://www.edition-av.de/buecher/paz_spanien.htm
Die Spanische Revolution, zu Beginn des Bürgerkrieges ausgebrochen, war das Lebensthema von Abel Paz. Er hatte als 15-Jähriger selbst an ihr teilgenommen und als Mitglied der anarchistischen Gewerkschaft CNT – damals eine der größten Gewerkschaften der Welt – gegen Franco gekämpft.
Sein Buch über den legendären Anarchisten Buenaventura Durruti, der im November 1936 unter ungeklärten Umständen ums Leben kam, hatte ihn auch außerhalb der Linken bekannt gemacht. 1994 erschien es auf Deutsch als „Durruti. Leben und Tode des spanischen Anarchisten“ in der Hamburger Edition Nautilus. Nach dem Sieg der rechten Militärs war Paz zunächst, wie viele andere AnarchistInnen und RepublikanerInnen auch, nach Frankreich geflüchtet und dort in Lagern interniert worden. Er kehrte 1942 nach Spanien zurück und kämpfte als Teil einer linken Guerilla gegen die Militärdiktatur, im gleichen Jahr wurde er verhaftet und verschwand bis 1953 im Gefängnis. Nach seiner Entlassung emigrierte er erneut nach Frankreich.
Zeit seines Lebens betrieb Abel Paz das, was wir heute Geschichtspolitik nennen. Er hielt die Erinnerung an eine Episode in der Geschichte des 20. Jahrhunderts wach, die nicht nur dem Schriftsteller und Spanienkämpfer George Orwell als einzigartiger Moment erschienen war: ein historischer Augenblick, in dem die Menschen aufgehört hatten, sich wie Rädchen in einem Getriebe zu verhalten. Die Revolution in Spanien, von der rechten Propaganda ebenso verschwiegen wie von der parteikommunistischen Geschichtsschreibung, bleibt ein symbolischer Scheideweg für die Linke des 20. Jahrhunderts. Utopien und Dilemmata der radikalen Linken scheinen sich hier zu verdichten, sie beschränken sich beileibe nicht auf die Frage nach autoritärem versus libertärem Kommunismus, sondern beinhalten so zentrale Themen wie die Relation von Zweck und Mitteln des politischen Kampfes, die Frage der Institutionalisierung von emanzipatorischen Errungenschaften oder auch die Organisationsfrage. Dass die Revolution nicht gescheitert, sondern militärisch besiegt worden sei, wurde Paz nicht müde zu betonen.
Abel Paz war ein Polarisierer. Die Erfahrung mit dem Parteikommunismus machte ihn zum Antimarxisten. Die anarchistische Aversion gegen kommunistische Taktiererei und Parteidoktrin fiel in den Augen Paz‘ in der Spontaneität des Pariser Mai 68, den er als Drucker aktiv miterlebte, abermals auf fruchtbaren Boden und massenhafte Zustimmung. Als er 1974 in Portugal, kurz nach der Nelkenrevolution, auf der Straße einem Schuhputzer begegnete, reagierte er barsch: „Was ist denn das für eine Revolution?“ Anarchismus bedeutet Veränderung aller Lebensbereiche. Und Geschichtspolitik bedeutete für Paz nicht Nostalgie, sondern Intervention. „Was putzt Du hier noch Schuhe!“ empörte er sich und trat den Schuhputzkasten weg.
Die Anekdote aus Portugal findet sich in einem Buch (*) zu Abel Paz, das drei meiner Freunde 2004 gemacht haben, ebenso fasziniert von dem alten Kämpfer wie ich von dem Kettenraucher im autonomen Zentrum in Barcelona.
Mit Abel Paz, geboren am 12. August 1921 als Diego Camacho, ist ein streitbarer Historiker und einer der letzten anarchistischen Zeitzeugen der Spanischen Revolution gestorben.
(*) Bernd Drücke, Luz Kerkeling, Martin Baxmeyer (Hg.): Abel Paz und die Spanische Revolution. Interviews und Vorträge, Verlag Edition AV, Frankfurt a.M. 2004, ISBN 3-936049-33-5
Werke
Abel Paz: Durruti. Leben und Tod des spanischen Anarchisten, Verlag Edition Nautilus, Hamburg 1994, ISBN 3-89401-411-3
Abel Paz: Feigenkakteen und Skorpione. Eine Biographie (1921-1936), Verlag Edition AV, Lich 2007, ISBN 978-3-936049-87-9
Abel Paz: Anarchist mit Don Quichottes Idealen. Innenansichten aus der spanischen Revolution. Eine Biographie (1936-1939), Band 2, Edition AV, Lich 2008, ISBN 978-3-936049-97-8
Abel Paz: Im Nebel der Niederlage (1939 - 1942) Band 3 (der vierbändigen Autobiographie), Edition AV, Lich, erscheint voraussichtlich im Mai 2009, ISBN 978-3-86841-016-7
Links
Der Anarchismus wird nie sterben, Interview mit Abel Paz, von Bernd Drücke, in: GWR Nr. 291, Sept. 2004: http://www.graswurzel.net/291/paz.shtml
Als Radiosendung: http://www.freie-radios.net/portal/content.php?id=18222
http://www.freie-radios.net/portal/content.php?id=18223
Wir nannten uns "Die Anarchisten mit den Idealen Don Quichottes". LOTTA- im Gespräch mit Abel Paz: http://www.anarchismus.at/txt4/abelpaz.htm