Wir haben schon einiges erlebt, aber das war neu: Zuerst verbieten die Behörden den Demonstrationszug durch die Innenstadt und schicken die DemonstrantInnen in ein abgelegenes Hafenviertel, dann verhindern sie systematisch die Anreise von DemonstrantInnen zum Ort der genehmigten Demo, und schließlich beschießen sie diejenigen, die dort dennoch ankommen, mit Tränengas.
Wer zu einer Blockade oder Feldbefreiung geht, bereitet sich vor und macht sich über Risiken Gedanken; zu Demos hingegen gehen viele von uns unvorbereitet und unorganisiert. Die meisten von uns sind es gewohnt, dass eine einfache Demonstration eine ungefährliche Art ist, der eigenen politischen Meinung Ausdruck zu geben. Das sollte auch so sein: Um das Demonstrationsrecht in Anspruch zu nehmen, sollte mensch weder besonders mutig noch besonders erfahren, weder durchtrainiert noch besonders stark sein müssen.
In Straßburg waren Tausende unterwegs, die einfach nur friedlich demonstrieren wollten und nicht darauf vorbereitet waren, sich die Möglichkeit dazu erst zu erkämpfen. Es waren ebenfalls Tausende unterwegs, die bereit waren, für ihr Recht zu kämpfen – auch mit Gewalt. Und die damit der Polizei die Bilder lieferten, die sie brauchte, um ihr Vorgehen zu rechtfertigen. Diese beiden Zutaten waren der perfekte Mix für eine Polizei, die das Ziel hatte, die Demo im Keim zu ersticken.
Im Buch „Unarmed Bodyguards“ (1) haben Liam Mahoney und Luis Enrique Eguren 1997 ein Modell vorgestellt, wie sich der politische Raum von AktivistInnen und Regierungen bemisst. Wir beziehen uns auf dieses Modell und entwickeln es für die uns hier interessierenden Fragen weiter. (Abb. 1)
Unter allen politischen Handlungsmöglichkeiten, die wir haben, gibt es solche, die mit für uns akzeptablen Kosten verbunden sind, und solche, die mit für uns inakzeptablen Kosten verbunden sind. Abb. 1 zeigt den Handlungsraum von AktivistInnen, die die möglichen Folgen einer Teilnahme an einer Blockade (Möglichkeit, verletzt zu werden, juristische Folgen) als zu hoch empfinden, aber bei einer Teilnahme an einer Demo keine für sie unakzeptablen Folgen zu erwarten hätten.
Das kann sich ändern: Wenn die Polizei auch bei einer friedlichen Demo Tränengas und Schlagstöcke einsetzt, dann werden diese AktivistInnen nicht mehr zu Demos gehen: Ihr politischer Raum verkleinert sich. (Abb. 2)
Aber auch die Polizei bzw. die hinter ihr stehende Regierung hat einen politischen Raum, in dem sie sich bewegt. Auch sie muss abwägen, welche Handlungen ihrerseits welche (materiellen und politischen) Folgen haben. In der Situation in Straßburg war der politische Druck hoch; der politische Preis für eine gelungene Blockade des NATO-Gipfels oder auch nur für eine deutliche Beeinträchtigung des Gipfel-Geschehens durch die Demonstrationen wäre enorm hoch gewesen. Mehr noch: Eine schlimmere Bedrohung als die Blockaden mag die Aussicht gewesen sein, es könnte eine große, friedliche, sichtbar von einem breiten gesellschaftlichen Spektrum aus ganz Europa getragene Demonstration gegen die NATO geben. Dementsprechend war die Regierung bereit, für die Durchsetzung ihrer Ziele auch Dinge zu tun, die bei anderen Gelegenheiten vermieden werden, weil sie ihrerseits einen zu hohen politischen Preis haben. (Abb. 3)
Und deshalb brauchte die Regierung dringend Gewalt von Seiten der DemonstrantInnen. Nehmen wir mal an, es hätte an diesem Tag keinerlei Gewalt von Seiten der DemonstrantInnen gegeben. Keine Rauchsäulen über Hotels, keine zerstörten Bushäuschen, keine erbosten AnwohnerInnen, nicht mal Vermummte. Nehmen wir an, die Polizei hätte ihr Tränengas und ihre Blendgranaten von Anfang bis Ende ausschließlich gegen Leute eingesetzt, die in keinerlei Weise auf diese Eskalation eingestiegen wären. Der politische Preis wäre vermutlich inakzeptabel hoch gewesen. Wir werden nie herausfinden, welche der Gewalttaten von agents provocateurs und welche von „echten“ DemonstrantInnen begangen wurden. Sicher ist: Sie haben alle der Gegenseite gedient. (Abb. 4)
Das heißt andererseits: Wir können als AktivistInnen unseren eigenen Handlungsspielraum erweitern, wenn wir uns auf eine Strategie der aktiven Gewaltfreiheit festlegen. Wenn von vornherein klar ist, dass wir unsererseits unter keinen Umständen Gewalt anwenden werden, dann weiß die Gegenseite, dass sie einen hohen Preis zahlen muss, wenn sie uns mit Gewalt angreift. (Abb. 5)
Gewaltfreies Handeln ist keine Garantie dafür, dass die Gegenseite ebenfalls keine Gewalt anwendet. Aber gewaltfreies Handeln setzt auf jeden Fall die (persönliche und politische) Hemmschwelle für Gewalt herauf und erhöht enorm den politischen Preis dafür.
Nochmal kurz zurück zu Abb. 2: Eine Folge der Repression ist auch, dass sich mehr und mehr Menschen radikalisieren und einen immer höheren Preis für ihre Rechte zu zahlen bereit sind. Sie gehen trotz Repression zur Demo, rechnen damit, dort verletzt oder festgenommen zu werden, und bereiten sich entsprechend vor. Wenn mit dieser Radikalisierung eine zunehmende Bereitschaft zur Gegengewalt einhergeht, dann ist das wiederum sowohl Motiv als auch Rechtfertigung für weitere Repression. Wir haben dann den Effekt, dass eine immer kleiner werdende Gruppe immer radikaler wird, während immer mehr Menschen sich ganz zurückziehen – weil sie Angst vor den Folgen haben und/oder weil sie keinen Anteil an militantem (2) Widerstand haben wollen (Abb. 6).
Anders bei den Blockaden in Straßburg: Auch hier waren Leute unterwegs, die ein gewisses Risiko einzugehen bereit waren und sich darauf gut vorbereitet hatten. Es gab zu verschiedenen vorhersehbaren Szenarien klare Absprachen, die auch eingehalten wurden. Leute aus verschiedenen Spektren waren sich einig: Sie würden der Polizei keinen Vorwand für eine weitere Eskalation bieten. Die Polizei setzte gegen diese friedliche Aktion Tränengas ein, konnte sie aber dennoch nicht verhindern. Wer wird da keine Lust bekommen, das nächste Mal auch lieber zur Blockade zu gehen als zur legalen Demo? Ein Glück für die Polizei, dass es ausreichend Bilder von gewalttätigen DemonstrantInnen gab – sonst wäre sie womöglich in Erklärungsnot geraten, warum sie friedliche Leute angreift.
In einer E-Mail, die am 14.4.09 über den Newsletter von Gipfelsoli.org verbreitet wurde, ruft ein „Stop-Policing-in-the-Movement-Committee“ dazu auf, auf keinen Fall Zeugenaussagen zu den Ereignissen in Straßburg an das Internationale Koordinierungskomitee (ICC) zu schicken, weil dies dazu führen könnte, dass Leute aus der Anti-NATO-Bewegung an die Justiz ausgeliefert werden.
Stattdessen wird gefordert, eine Debatte darum zu führen, wie militante Aktionen als offensiver Bestandteil des Anti-NATO-Widerstands integriert werden können und was Kriterien und Grenzen für militante Aktionen sind.
Es fällt uns nicht schwer, uns vorzustellen, was für Kriterien bei einem solchen Diskussionsprozess herauskommen würden: Wir wenden nur Gewalt an, wenn die andere Seite angefangen hat; Gewalt muss verhältnismäßig sein; es sollen keine Unschuldigen getroffen werden.
Kurz: die üblichen Kriterien dieser Gesellschaft für Gewalt. Das sind die Rechtfertigungen für Gefängnisse, für Gewalt in der Kindererziehung; das sind die Kriterien, mit denen seit Jahrtausenden Kriege geführt werden. Gewalt ist eine soziale Verhaltensweise, die subjektiv aus der Sicht des Täters in aller Regel sinnvoll und gerechtfertigt erscheint.
Objektiv gesehen ist sie aber unserer Meinung nach immer schädlich. Sie mag einen kurzfristigen Erfolg bringen, ein Vordringen ermöglichen, ein Gefühl des Triumphs geben – langfristig schadet sie der Bewegung. Deshalb ist unsere Antwort auf die Frage nach Kriterien für militante Aktionen relativ einfach: Wenn „Militanz“ bedeutet, dass man Menschen angreift, direkt oder indem man ihr Eigentum zerstört, dann halten wir alle militanten Aktionen für falsch.
Gewalt schadet uns, egal von wem sie ausgeht.
Wir sehen schon die ausgestreckten Zeigefinger vor uns: „Das ist dogmatisch!“
Ein Dogma ist ein Glaubenssatz, der nicht mehr hinterfragt werden darf. Wir lassen uns gerne hinterfragen. Unsere Überzeugung, dass aktive Gewaltfreiheit der beste Weg zu politischer Veränderung ist, ist aus Erfahrung und Nachdenken gewachsen, nicht aus religiöser Überlieferung.
Wir haben hier die strategischen und taktischen Gründe dargelegt, warum Gewaltfreiheit für eine soziale Bewegung sinnvoller ist als Gewalt. Darüber hinaus haben wir ethische Gründe, uns grundsätzlich gegen Gewalt zu entscheiden.
Darüber diskutieren wir gerne.
Unsere Erfahrung damit in den letzten Jahren war, dass Leute diese Diskussion oft gar nicht führen wollen, weil sie die „Gewaltfrage“ für ein von oben aufgezwungenes, spalterisches Kriterium halten. Uns ist diese Frage nicht von irgendjemandem aufgezwungen; sie ist uns ein Herzensanliegen.
Und Spaltung? Es ist ein wichtiger Grundsatz gewaltfreien Handelns, zwischen Menschen und ihrem Verhalten zu unterscheiden. Es gibt keine gewaltfreien oder gewalttätigen Menschen, es gibt nur gewaltfreies oder gewalttätiges oder gar kein Handeln. Wir möchten nicht darüber reden, welche Leute die Guten sind und welche die Bösen, sondern wie wir es am besten anstellen, dass wir zusammen die NATO abschaffen.
Wir könnten zusammen eine Menge erreichen. Aber je erfolgreicher wir werden, umso stärker wird auch der politische Druck, der auf unseren Gegenübern liegt, um so mehr werden sie bereit sein, gegen uns aufzufahren. Das wird kein Spaziergang.
Schlussfolgerungen
Wenn wir eine andere Welt wollen, dann werden wir darum kämpfen müssen. Mit einfachen Demonstrationen, die ungestört stattfinden können, wird es nicht getan sein.
Straßburg könnte ein Vorgeschmack gewesen sein auf das, was uns erwartet, wenn wir es schaffen, uns erfolgreich zu organisieren. Aktive Gewaltfreiheit ist ein wichtiger Schlüssel zur Veränderung.
Das Wort „Gewaltfreiheit“ ist eine unzureichende Übersetzung des von Gandhi geschöpften Sanskrit-Wortes „Satyagraha“: Es bedeutet mehr als den Verzicht auf Gewalt.
Gewaltfreies Handeln bedeutet, einerseits deutlich einzustehen für unsere Forderungen, am Ort des Geschehens zu sein, uns zu zeigen, ggf. auch Nachteile in Kauf zu nehmen; andererseits ganz klar, die Menschenrechte unserer GegnerInnen zu achten, Vertrauen aufzubauen, in unserer Utopie einen Platz für unsere GegnerInnen mit zu denken und sie dies wissen zu lassen. (3)
Aktive Gewaltfreiheit kann nicht funktionieren, wenn sie mit gewaltsamen Formen des Widerstands zusammen angewandt wird oder wenn diese auch nur angedroht werden.
Das Militär sucht die Zusammenarbeit mit zivilen Projekten, um sich eine Rechtfertigung zu geben und um sich tiefer in der Gesellschaft zu verankern; DemonstrantInnen, die militante Aktionen durchführen, suchen die Zusammenarbeit mit AktivistInnen, die gewaltfrei agieren, weil ihnen das Schutz und eine breitere gesellschaftliche Verankerung gibt.
In beiden Fällen profitieren diejenigen, die mit Gewalt agieren. In beiden Fällen wird es unmöglich, glaubwürdig aktive Gewaltfreiheit zu praktizieren.
In Heiligendamm und in Straßburg, auch 2007 bei uns in der Kyritz-Ruppiner Heide gab es gute Erfahrungen mit spektrenübergreifenden Aktionen, bei denen vorab ausführlich miteinander geredet wurde und bei denen klar vereinbart wurde, dass sich die AktivistInnen auf keinerlei Eskalation einlassen. Unter solchen Voraussetzungen kann es gut funktionieren, dass Menschen, die sich aus prinzipiellen Gründen für Gewaltfreiheit entschieden haben, mit Menschen zusammen Aktionen machen, die sich lediglich für diese eine Aktion aus eher taktischen Gründen auf ein Handeln ohne Gewalt festgelegt haben.
Wir sind skeptisch, ob eine Großdemo eine Situation ist, für die man solche Absprachen mit allen Beteiligten treffen kann. In Rostock gab es Absprachen, die gut klangen. Aber ein Teil der DemoteilnehmerInnen fühlte sich daran nicht gebunden, ein anderer Teil fand es selbstverständlich, dass die Absprachen nicht mehr gelten, wenn die Demo angegriffen wird. In Straßburg gab es durchaus Planungen, wie damit umgegangen werden sollte, wenn die Polizei den Weg in die Innenstadt versperren würde. Aber damit, dass die Polizei schon den Weg zur Auftaktkundgebung sperren würde, hatte wohl niemand gerechnet. Das Polizeiverhalten war hier dermaßen unglaublich, dass die vorher überlegten Szenarios nicht mehr passten.
So etwas kann uns noch öfter passieren, wenn sich die sozialen Konflikte weiter zuspitzen und der Krieg nach innen mit immer härteren Mitteln geführt wird. In solchen Situationen möchten wir weder Kollateralschäden zwischen Polizei und Militanten noch Schutzschild für Letztere sein, und wir möchten uns eigentlich auch in einer solchen Situation nicht mit dem Versuch beschäftigen, unsere MitdemonstrantInnen vom Steine Schmeißen und Brandstiften abzuhalten.
Vielleicht sollten wir die spektrenübergreifende Kooperation auf gut vorbereitete Aktionen zivilen Ungehorsams begrenzen – und bei Demonstrationen sagen: Dies hier ist die gewaltfreie Demo, Gewalt wird hier nicht toleriert, alle, denen das zu eng ist, bleiben weg. Und das dort (anderer Zeitpunkt, anderer Ort) ist die Demo, wo alle Aktionsformen okay sind – diejenigen, die sich damit nicht wohl fühlen, bleiben weg.
Wir hören schon die Einwände: Dann kann die Polizei sich ja bei der militanten Demo alles erlauben, das sind dann „die Bösen“. In der Tat, so ist es. Wer Gewalt anwendet, bietet Rechtfertigung für Gewalt. Deshalb haben wir uns für Gewaltfreiheit entschieden.
(1) Deutscher Titel: Gewaltfrei stören - Gewalt verhindern. Die Peace Brigades International. Mahony/ Eguren, Rotpunktverlag, Zürich 2002, ISBN 3-85869-241-7
(2) "Militant" bedeutet eigentlich "kämpferisch" und ist damit ein Begriff, der auch auf gewaltfreien Widerstand zutrifft. Im französischen Sprachgebrauch wird "militant" im Sinne von "politisch aktiv" gebraucht. Im deutschen Sprachgebrauch wird der Begriff nach meinem Eindruck als Synonym für "gewaltsam" gebraucht, insbesondere von linken Gruppen, die selber Gewalt als Mittel in der Auseinandersetzung unter bestimmten Umständen als gerechtfertigt sehen, sich aber nicht mit dem negativ besetzten Begriff "Gewalt" identifizieren möchten. Wir benutzen den Begriff hier in diesem Sinne, aus Respekt vor dem eigenen Sprachgebrauch dieser Gruppen.
(3) S. hierzu: Bläsi, Konflikttransformation durch Gütekraft, Interpersonale Veränderungsprozesse, LIT 2001, ISBN 978-3-8258-5731-8