"Je mehr Gewalt, desto weniger Revolution", schrieb Bart de Ligt bereits 1936 in "The Conquest of Violence". Folgt man dem, gab es in Straßburg trotz aller Revolutionsromantik in bestimmten Kreisen sehr wenig Revolution. Ich stelle dies vorweg, um klar zu machen, dass es hier um eine Kritik aus revolutionärer Perspektive geht, und nicht um eine grün- oder Linkspartei-typische, staatsreformistische, das staatliche Gewaltmonopol bejahende Kritik an Gewalt.
Als GraswurzelrevolutionärInnen, als gewaltfreie AnarchistInnen müssen wir uns jedoch auch mit Gewalt aus den Reihen sozialer Bewegungen auseinandersetzen, denn diese Gewalt ist aus unserer Revolutionsperspektive kontraproduktiv.
Es ist klar, dass es in Straßburg massiv auch nicht-provozierte Gewalt von Seiten der Polizei gab: so wurde Tränengas ohne jede Vorwarnung gegen DemonstrantInnen eingesetzt, z.B. bei einigen der Blockaden von Block-NATO.
Es ist auch klar, dass zahlreiche ProvokateurInnen im Einsatz waren. Es gibt mindestens zwei unabhängige Beobachtungen, die bezeugen, dass als „schwarzer Block“ verkleidete Personen in Polizeiwannen saßen. Es ist ebenso klar, dass es im Zusammenhang mit dem Abbrennen des Ibis-Hotels und anderer Gebäude noch zahlreiche offene Fragen gibt. Doch trotz alledem ist unbestreitbar: es gab in Straßburg ein Problem mit Gewalt von Seiten der Bewegung, ein Problem, mit dem als Bewegung konstruktiv umzugehen ist. Und dies gilt nicht nur für den 4. April.
Problematische Aktions- und Umgangsformen im Camp
Als NATO-ZU – eine Koalition gewaltfreier Gruppen mit dem Ziel, den NATO-Gipfel gewaltfrei zu blockieren, eine Koalition, die von der War Resisters‘ International mit initiiert wurde (vgl. GWR 336 & GWR 337) – hatten wir im Camp in der Rue de la Ganzau im Süden Straßburgs unsere Basis. Das Camp selbst war von deutschen und französischen Gruppen organisiert worden, mit dem Ziel, eine gemeinsame Infrastruktur für Aktionen während des NATO-Gipfels bereitzustellen (1) .
So weit, so gut.
Problematisch waren jedoch einige der Aktionen, die vom Camp ausgingen, sowie der Umgang mit den Folgen dieser Aktionen im Camp. Beispiele:
Am Donnerstag, den 2. April, gab es eine Antirepressionsdemo, die vom Camp ausging. Im Rahmen dieser Demonstration wurde nicht nur eine französische Kaserne weiträumig entglast (eine Aktion, über die man ja durchaus diskutieren kann, auch wenn ich bezweifle, dass sie zu diesem Zeitpunkt und in dieser Form taktisch Sinn machte), sondern es wurden auch wahllos Bushaltestellen und andere öffentliche Einrichtungen sowie Müllbehälter zerstört bzw. in Brand gesteckt (2). In Folge der Demo verfolgte die Polizei einige DemonstrantInnen bis in die Nähe des Camps, was bei einigen Leuten Befürchtungen über einen bevorstehenden Angriff der Polizei auf das Camp auslöste. Es wurden Barrikaden errichtet, und am nordöstlichen Ausgang des Camps kam es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei sowie zum Einsatz von Tränengas. In diesem Fall bemühte sich NATO-ZU gemeinsam mit dem Internationalen Koordinationskomitee Nein zur NATO um eine Deeskalation – NATO-ZU innerhalb des Camps und das Koordinationskomitee intervenierte bei der Polizei.
Am Freitag, den 3. April, kam es auf der Rue de la Ganzau zu einer Eskalation mit der Polizei, nachdem eine Gruppe der Clownarmee von der Polizei zur Personalienfeststellung länger festgehalten worden war.
Es wurden auf der Rue de la Ganzau Barrikaden errichtet, und die erste Barrikade wurde angezündet. Versuche einzelner Clowns, von NATO-ZU und anderer Personen, die Menschen zur Rückkehr ins Camp zu bewegen, scheiterten. In diesem Falle kam es nicht zu einer weiteren Eskalation, da die Polizei daran kein Interesse hatte.
Problematisch war in beiden Fällen, dass hier von wenigen Menschen den CampteilnehmerInnen quasi eine militante „Verteidigung“ des Camps aufgezwungen wurde. Auch jenseits der Grundsatzfrage der Gewalt war eine Auseinandersetzung darüber, ob diese Militanz zu dieser Zeit an diesem Ort taktisch Sinn machen würde, quasi nicht möglich. Ebenso problematisch war aber auch, dass großen Teilen des Camps dies egal zu sein schien und die meisten Menschen weiter in Ruhe beim Essen saßen, während die Situation um das Camp herum eskalierte. Nur wenige nahmen Verantwortung wahr für das, was im Camp und um das Camp herum geschah.
Während nur wenige sich an der Eskalation selbst beteiligten, wurde diese aber oft durch die Anwesenheit Anderer, die faktisch eine stille Unterstützung darstellte, unterstützt.
Die Demo
Nach der erfolgreichen gewaltfreien Blockade von NATO-ZU war es uns nicht mehr möglich, zur Demo zu kommen.
An der Pont d’Anvers, der Brücke, die die Stadt mit dem Hafengebiet verbindet, wurden wir von der Polizei gestoppt. Mir fehlen also Erfahrungsberichte aus erster Hand zur Demonstration selbst.
Ohne die massiven und oft nicht provozierten Angriffe der französischen Polizei herunterspielen zu wollen (die Strategie der Polizei war eindeutig eine Strategie der Eskalation), ist jedoch klar, dass es bei oder im Umfeld der Demonstration auch zu massiven Angriffen auf die Polizei kam und zu starken Zerstörungen.
Das abgebrannte Ibis-Hotel ist hier nur das weithin sichtbare Symbol einer Gewalt, die teilweise auch wahllos Dinge zerstörte, die für die dort lebenden BewohnerInnen eines ohnehin benachteiligten Stadtteils von Bedeutung waren für deren tägliches Leben: eine Apotheke, Bushaltestellen usw.
Unabhängig davon, ob hier auch ProvokateurInnen beteiligt waren, wirft dies für uns viele Fragen auf.
Gewalt als Folge struktureller Gewalt?
Ein häufiges Begründungsmuster für die Anwendung von Gewalt ist, dass strukturelle Gewalt in unserer Gesellschaft Gewalt quasi erzwingt. Es ist sicher richtig, dass Gewalt oft die ohnmächtige Antwort darstellt. Die Gewalt in benachteiligten Stadtteilen ist dabei nur ein Beispiel. Die polizeiliche Antwort auf diese durch soziale Probleme produzierte Gewalt ist dabei Teil des Problems und führt nur zu einer Eskalation der Gewalt, die sich dann auch zu anderen Anlässen entladen kann. Mit der Verschärfung der Krise des Kapitalismus wird sich dieses Problem in Zukunft eher verschärfen – auch bei Demos.
Im Zusammenhang mit den Ereignissen in Straßburg sehe ich drei miteinander verbundene und sich gegenseitig verstärkende Problembereiche:
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eine Strategie autonomer Gruppen, die auf Anonymität und auch auf militante Auseinandersetzungen setzt. Dabei werden andere AktivistInnen ungefragt und ungewollt als Schutz und Unterstützung bietende Masse genutzt;
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die Gewalt der Vorstädte, die sich mit Aktionen autonomer Gruppen vermischen kann, aber wenig politisches Ziel oder Taktik beinhaltet;
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der Einsatz von ProvokateurInnen durch die Staatsorgane, begünstigt durch die Anonymität und die oben beschriebene Gemengelage.
Unabhängig davon, wer denn nun im Detail für was verantwortlich war, drängt dies soziale Bewegungen – im Falle von Strasbourg die Antikriegs- und Friedensbewegung – in eine militante Auseinandersetzung mit der Polizei, eine Auseinandersetzung, die sie nur verlieren können. Dabei geht es mir nicht um die von Wolfgang Kraushaar so bezeichnete „Militanzfalle“ (3), sondern um eine grundsätzlichere Auseinandersetzung mit Gewalt.
Gegen die Logik der revolutionären Gewalt
„Wir sprechen allen revolutionären Gewalthandlungen jede sittliche, sozialistische Würde entschieden ab. Die Gewalt, immer Attentat gegen den Menschen, steht im schärfsten Widerspruch zum Geist des sozialistischen Ideals. (…) Es liegt für die Gewalt auch darin keine Rechtfertigung, daß sie im Namen der Interessen und Leiden der Mehrheit der arbeitenden und bedrückten Menschheit angewandt wird.“ (4)
Diese Äußerung des russischen Sozialrevolutionärs Isaak Steinberg ist auch für die Auseinandersetzung nach Straßburg relevant.
Jede Bewertung politischer Aktionen und der angewendeten Mittel muss ihre Maßstäbe aus dem angestrebten Ziel nicht nur der einzelnen konkreten Aktion, sondern der politischen Utopie entwickeln – so sie denn vorhanden ist. Alles andere führt zu einer Beliebigkeit der Mittel, zu der Leerformel „Der Zweck heiligt die Mittel“, mit der in der Geschichte von allen Seiten noch jede Grausamkeit gerechtfertigt wurde.
Noch einmal Isaak Steinberg: „Und immer wurde von den Hütern der Zwecke, von den zeitweiligen Beherrschern der menschlichen Geschichte, oft aufrichtig, gedacht und vor sich selbst oder vor anderen wiederholt: ‚Der Zweck heiligt die Mittel!‘ (…) Wenn aber der ‚technische‘ Standpunkt sich auf diese Formel stützt, so muß der ‚moralische‘ Standpunkt eine andere Formel besitzen. Ich glaube, daß sie ohne Schwierigkeiten erfaßt und festgelegt werden kann. Sie würde lauten: Nicht der Zweck heiligt die Mittel, sondern der Zweck wird durch die Mittel geheiligt. Nicht alles ist erlaubt – besagt diese Formel. Es genügt nicht, das Ziel zu bestimmen, zu vergeistigen und zu schmücken; es wird ein leerer Schall bleiben, wenn der zu ihm führende Weg mit ihm nicht innig und tief verwandt ist. Das Ziel ist ein meisterhafter Plan, den der schöpferische Menschengeist entwirft, eine ferne Silhouette an dem geistigen Horizont, ein breites, viel umfassendes Gefäß, das seiner schöpferischen Erfüllung harrt. Die ‚Mittel‘ sind die ausgewählte, feinempfindliche, dem Zweck verwandte Hand, die nach diesem Plan das Gebäude errichtet, die wahre Silhouette zum Leben weckt, das düstere Gefäß bis zum Rande füllt. Nur durch ausgewählte und verwandte Mittel kann der ideelle Umriß des Ziels mit dem Fleisch und Blut der ideellen Tat und des verkörperten Ideals bekleidet werden. ‚Der Zweck heiligt die Mittel‘ bedeutet: Durch Skrupellosigkeit in der Auswahl der Wege ist die Verwirklichung des äußeren Rahmens der Aufgabe möglich. ‚Der Zweck wird durch die Mittel geheiligt‘ bedeutet: Nur durch die scharfe Auswahl der Wege kann der innere Sinn der Aufgabe verwirklicht werden.„
Auch wenn „wir … weit davon entfernt [sind], aus der Gewaltfreiheit wieder ein Dogma zu machen“ (Clara Wichmann), so kann es doch auch nicht darum gehen, Differenzen in der linken und revolutionären Bewegung zuzukleistern und durch Aussparung der Gewaltdiskussion letztendlich einem „Alles ist möglich“ das Wort zu reden.
Auch die „Toleranz der Aktionsformen“ hat ihre Grenzen, und die sind nicht erst da erreicht, wo Menschenleben bedroht werden, sondern da, wo durch die Militanz einiger die gesamte Bewegung in eine aus meiner Sicht falsche militante Auseinandersetzung gedrängt wird.
Konsequenzen
Es ist zu hoffen, dass die Ereignisse von Straßburg auch in der autonomen Szene zu einer Reflexion über Aktions- und Organisationsformen führen.
Auch wenn ich schon jetzt den Spaltungsvorwurf höre, so gibt es für mich klare Bedingungen für eine zukünftige Zusammenarbeit. Und dem Spaltungsvorwurf entgegne ich, dass hier faktisch der spaltet, der Menschen und Gruppen durch die Nichtbeachtung ihrer Aktionsformen und -grenzen aus der Bewegung drängt. Es gab nach dem Samstag bei vielen TeilnehmerInnen an gewaltfreien Aktionen das Gefühl, sich in Zukunft lieber in einem eigenen Camp zu organisieren – und dies ist keine Spaltung, sondern eine Konsequenz der Eskalation um das Camp in der Rue de la Ganzau.
Folgende Bedingungen kann ich mir für eine zukünftige Zusammenarbeit vorstellen:
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eine Selbstkritik aus autonomen Reihen zu den Ereignissen in Straßburg;
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klare Absprachen zu einem eventuellen gemeinsamen Camp und zum Umgang mit Eskalationen und der Polizei, sowie die Bereitschaft, diese Absprachen auch gegenüber nicht an den Absprachen beteiligten Gruppen und Personen mit durchzusetzen;
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klare Absprachen, Demonstrationen nicht für eine Auseinandersetzung mit der Polizei zu nutzen.
Diese Liste ist mit Sicherheit nicht vollständig.
Unabhängig davon stellt sich aber auch für die OrganisatorInnen großer Demonstrationen die Frage, wie in Zukunft eine Eskalation vermieden werden kann. Es ist klar, dass es dabei nicht um eine Zusammenarbeit mit der Polizei gehen kann oder um einen eigenen „Sicherheitsdienst“. Das den Demonstrationen inhärente Problem ist jedoch, dass sie als unorganisierte Masse in der Regel nicht handlungsfähig sind. Es wäre daher vielleicht über trainierte Bezugsgruppen nachzudenken, die schnell deeskalierend eingreifen können, ohne Menschen auszugrenzen oder gar der Polizei auszuliefern.
Für mich bleiben nach Straßburg für die zukünftige spektrenübergreifende Arbeit in sozialen Bewegungen noch viele Fragen offen. Ich denke, dass sich viele der Probleme, die in Straßburg auftraten, in Zukunft eher verschärfen werden. Eine konstruktive Debatte darüber ist dringend notwendig.
(1) Ich möchte mich ausdrücklich bei den OrganisatorInnen des Camps für ihre Arbeit bedanken. Ohne Euch wären auch unsere gewaltfreien Aktionen nicht möglich gewesen.
(2) Nach Aussagen von AnwohnerInnen haben sich an diesen Aktionen auch einheimische Jugendliche, die nicht aus dem Camp kamen, beteiligt.
(3) Illusionen einer Protestbewegung. Frankfurter Rundschau, 3. April 2009, http://tinyurl.com/militanzfalle
(4) Isaak Steinberg: Gewalt und Terror in der Revolution. Berlin, 1931