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2009: Republikflucht reloaded

| Claudius Voigt

Im Herbst jährt sich zum 20. Mal der Fall der Mauer zwischen BRD und DDR. Seitdem ist es möglich, straffrei und ohne Genehmigung von Ost- nach Westdeutschland zu reisen - und das ist natürlich ein Grund zur Freude. Wenn man also z. B. aus dem Thüringer Schiefergebirge ins bayerische Kronach, dem Tor zum Frankenwald, fahren möchte, um dort einzukaufen, sollte dies keine größeren Komplikationen mit sich bringen.

Felix Otto, wohnhaft im thüringischen Saale-Orla-Kreis, unternahm im Jahr 2007 eine solche wenige Kilometer lange Reise, wie er dies auch zuvor bereits mehrfach getan hatte. Er allerdings wurde währenddessen polizeilich kontrolliert – und erhielt eine Anzeige. Vor wenigen Wochen erging das Urteil: Acht Monate Gefängnis. Nein, nicht wegen Republikflucht, sondern wegen wiederholter Zuwiderhandlung entgegen einer aufenthaltsrechtlichen Beschränkung gemäß § 56 Asylverfahrensgesetz – kurz „Residenzpflicht“.

Das Problem: Felix Otto ist Flüchtling, untergebracht in einem Asylbewerberheim einige Kilometer entfernt von Juchhöh (ein Örtchen im ehemaligen Zonenrandgebiet, dessen Name zumindest phonetisch Assoziationen mit einer nordkoreanischen Variation des Steinzeit-Kommunismus weckt) und lediglich im Besitz einer Aufenthaltsgestattung. Mit diesem Papier, wie auch mit einer Duldung, darf er sich lediglich in einem bestimmten Bezirk aufhalten, also in diesem Fall im thüringischen Saale-Orla-Kreis. In anderen Fällen kann der Aufenthalt beschränkt sein auf die Kommune, den Landkreis, den Regierungsbezirk oder das Bundesland. Eine Verletzung dieser Vorschrift gilt als Ordnungswidrigkeit, die nach dem Asylverfahrensgesetz mit bis zu 2.500 Euro geahndet werden kann; im Wiederholungsfalle wird sie zur Straftat, die mit Freiheitsstrafe oder Geldstrafe zu ahnden ist.

Abgesehen davon, dass man zur Einhaltung dieser Vorschrift über beachtliche Kenntnisse der Struktur bundesdeutscher Gebietskörperschaften verfügen muss, zeigt der Fall Felix Otto zweierlei:

Das bundesdeutsche Recht ist nach wie vor durchzogen von rassistischen, restriktiven, diskriminierenden und ausgrenzenden Normen, die entgegen aller Lippenbekenntnisse das Gegenteil der in Mode gekommenen Integration zum Ziel haben: den Ausschluss ganzer Bevölkerungsgruppen. Als Stichworte seien genannt: Arbeitsverbote, Asylbewerberleistungsgesetz, Sammelunterkünfte, Sachleistungen, Ausschlüsse von unterschiedlichsten Sozialleistungen, „verdachtsunabhängige“, in der Praxis nach Hautfarbe stattfindende Kontrollen.

Und es gibt nach wie vor Richter, die bereit sind, dieses „Recht“ wie im Fall Felix Otto geradezu exzessiv und jenseits aller Verhältnismäßigkeit anzuwenden. Seit 1982, dem Jahr der Einführung der „Residenzpflicht“ sind nach Informationen der Journalistin und Sozialwissenschaftlerin Beate Selders mehr als 160.000 Flüchtlinge wegen Verletzung dieser verwaltungsrechtlichen Auflage verurteilt worden – in der Regel zu Geldstrafen, im Ausnahmefall zu Freiheitsstrafen. Zu finden ist diese Zahl in Selders jüngst erschienenem Buch „Keine Bewegung! Die Residenzpflicht für Flüchtlinge“ (Hg.: Flüchtlingsrat Brandenburg und Humanistische Union, Eigenverlag, Berlin 2009).

In ebendiesem Buch findet sich auch das Zitat eines Richters am Oberlandesgericht Frankfurt am Main zum einschlägigen Paragrafen: „Ich halte es nach wie vor für einen Akt der politischen Kultur, gerade zu den diesjährigen 20-Jahr-Feiern des Falls der Mauer (…) die Strafvorschrift (…) mit einem einfachen Federstrich zu entfernen und damit Richter in ganz Deutschland nicht mehr länger zu zwingen, Menschen alleine dafür zu bestrafen, dass sie über die unsichtbare innerdeutsche Grenzen fahren.“