Erstaunlich ist die Vehemenz, mit der in Deutschland über die Frage diskutiert wird, ob sich das Land in Afghanistan im Krieg befindet. Der Realität vor Ort zum Trotz wird die Verwendung des Begriffs Krieg vom Verteidigungsministerium aus PR- und versicherungstechnischen Gründen tunlichst vermieden. Demgegenüber findet sich jedoch in den Medien kaum ein kritisches Wort dazu, dass die Bundesregierung den Forderungen der neuen US-Regierung, eine umfassende Brutalisierung ihres Kriegseinsatzes vorzunehmen, gegenwärtig in nahezu sämtlichen Punkten nachkommt.
Den Takt gibt derzeit US-Präsident Barack Obama vor, der bereits kurz nach seinem Amtsantritt eine vollständige Überprüfung der Afghanistanstrategie anordnete und den Krieg unmissverständlich zur Chefsache erklärte. „Der Krieg ist nun unwiderruflich Obamas Krieg“, erklärte der Militärexperte Fred Kaplan im Online-Magazin Slate (11.05.2009). „Der Präsident hat sich entschlossen, einen neuen Kurs zu fahren und sich nicht nur das nächste halbe Jahr oder Jahr durchzuwursteln.“
Mittlerweile liegen die Kernelemente der neuen Strategie auf dem Tisch: Im Detail setzt sie erstens auf eine massive Aufstockung der westlichen Truppen; zweitens auf die Ausweitung der Kampfzone nach Pakistan („AFPAK“); drittens sollen sich die NATO-Verbündeten, allen voran Deutschland, künftig noch stärker am Kampfgeschehen beteiligen, als dies ohnehin bereits der Fall ist; viertens soll die „Afghanisierung“ des Krieges über den Ausbau der staatlichen Repressionsapparate (Armee und Polizei) die westlichen Truppen erheblich entlasten; und schließlich kündigte der Präsident fünftens an, künftig mehr Geld in die Entwicklungshilfe stecken zu wollen.
Trotz all dieser Maßnahmen wird jedoch immer offener eingeräumt, dass ein Abzug der westlichen Besatzungstruppen in immer weitere Ferne rückt.
Von mindestens 10 weiteren Jahren sprechen hohe US-Regierungsberater wie David Kilcullen, Autor des US-Handbuchs zur Aufstandsbekämpfung (Field Manual 23).
Den gleichen Zeitraum nennt der deutsche Ex-Verteidigungsminister Peter Struck, während sich der neue NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen nicht festlegen will: „Wir werden so lange bleiben, bis der Job erledigt ist.“ (Spiegel Online, 06.08.2009)
Ebenso wenig Illusionen macht man sich darüber, welche Folgen der aktuelle Strategiewechsel haben wird: „Wir werden mehr Opfer auf allen Seiten sehen“, prophezeite Ex-NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer kurz vor seinem Ausscheiden aus dem Amt im Juni 2009. Ebenso lautet die Einschätzung von US-Kriegsminister Robert Gates: „Ich halte es für eine realistische Erwartung, dass wir eine schwere Kampfzeit vor uns haben.“ (Die Welt, 13.06.2009)
In der Tat dürfte der wesentliche Effekt der neuen „Strategie“ darin liegen, dass sich die Eskalationsspirale noch schneller drehen wird – daran dürfte auch die vollmundig versprochene Erhöhung der Hilfsgelder, so sie denn umgesetzt werden sollte, nichts ändern. Und genau weil dem so ist, drängt die Obama-Administration derzeit massiv darauf, das Töten und Sterben zu „pluralisieren“. Sprich: Die europäischen Verbündeten sollen einen größeren Anteil der Kriegslasten schultern.
In der Europäischen Union und gerade auch in Deutschland dient diese Forderung als eine Steilvorlage für diejenigen, die ohnehin für einen Ausbau des Engagements plädieren. Das Argument: Nach den schweren Konflikten der letzten Jahre biete die Wahl Barack Obamas nun die Chance für eine Aussöhnung und enge strategische Partnerschaft mit den USA.
Hierfür sei es jedoch erforderlich, den US-Forderungen umfänglich nachzukommen.
Mit dieser Begründung legte beispielsweise der einflussreiche „European Council on Foreign Relations“ im März 2009 eine ausführliche To-Do-Liste vor, in welchen Bereichen das EU-Engagement auszubauen sei: „Präsident Barack Obama und seine Außenministerin Hillary Clinton haben unmissverständlich klar gemacht, dass sie eine signifikante Erhöhung der EU-Anstrengungen erwarten. Die Frage wird wohl in Washington als Lackmustest angesehen werden, ob die Europäer als strategische Partner ernst genommen werden sollten. Somit dürfte die europäische Reaktion die transatlantischen Sicherheitsbeziehungen auf lange Sicht, also die nächsten vier oder acht Jahre beeinflussen.“ (Shaping Europe’s future, ECFR/11, März 2009, S. 1)
Der afghanische „surge“: Mehr Truppen, mehr Krieg
Spätestens 2006 ging die NATO in Afghanistan in die Offensive. Nachdem man zuvor lediglich in den Landesteilen präsent war, in denen der Widerstand – damals noch – verhältnismäßig schwach organisiert war, entschloss man sich damals, den Versuch zu unternehmen, auch die Kontrolle über den Süden und Osten des Landes zu übernehmen. Parallel dazu wurde der Operationsschwerpunkt immer stärker in Richtung Aufstandsbekämpfung verlagert.
Die hierauf folgenden schweren Kampfhandlungen wurden wiederum zum Anlass genommen, immer mehr Truppen an den Hindukusch zu entsenden. Waren anfänglich, im Jahr 2003, 5.000 NATO-SoldatInnen in Afghanistan stationiert, so stieg diese Zahl bis zum Ende der Amtszeit George W. Bushs auf knapp 50.000. Die USA stellten hiervon 34.000, während weitere 19.000 US-SoldatInnen im Rahmen der von Washington allein befehligten „Operation Enduring Freedom“ (OEF) kämpften.
Hierdurch wurde jedoch alles andere als eine „Befriedung“ Afghanistans erreicht. Im Gegenteil, mit jeder Truppenaufstockung erhöhte sich auch die Zahl der „Sicherheitsvorfälle“, dem sichersten Indikator für die Intensität der Kampfhandlungen zwischen westlichen Truppen und afghanischem Widerstand. Während es im Jahr 2005 noch zu 1.755 Zusammenstößen kam, waren es 2007 bereits etwa 6.000. In diesem Jahre dürfte die Zahl 10.000 deutlich überschritten werden. Dementsprechend erhöhen sich die Opfer unter den westlichen SoldatInnen, bereits Mitte 2009 wurden mehr getötet als im Vorjahr, ihre Gesamtzahl beträgt mittlerweile 1.193 (Stand: 24. Juni 2009).
Betroffen von diesen Auseinandersetzungen sind aber auch und vor allem AfghanInnen, insbesondere ZivilistInnen. Allein im Jahr 2008 kamen laut Vereinten Nationen 2.118 ums Leben, ein Anstieg um 40% gegenüber dem Vorjahr (AFP, 17.02.2009). Im ersten Halbjahr 2009 ist ein nochmaliger Anstieg um 24% zu verzeichnen (Zeit Online, 01.08.2009).
Ganz offensichtlich ist die Eskalation der Kampfhandlungen auf die immer aggressivere Vorgehensweise der NATO zurückzuführen. Dennoch ist die nochmalige massive Aufstockung der Truppenpräsenz der wichtigste Bestandteil der neuen US-Afghanistanstrategie.
Allein die Zahl der US-SoldatInnen soll mindestens verdoppelt werden. Erste Kontingente wurden bereits verlegt und auch andere Verbündete, u.a. Deutschland, zogen nach, sodass inzwischen 64.500 NATO-SoldatInnen (Stand: 23. Juli 09) am Hindukusch stationiert sind. Zudem erhöhte Washington das OEF-Kontingent auf 26.000 SoldatInnen. Mindestens 12.000 weitere US-SoldatInnen sollen bis Herbst in das Kampfgebiet geschickt werden, einflussreiche Militärexperten wie Anthony Cordesman fordern gar zusätzliche Truppen mit 45.000 SoldatInnen (Times Online, 10.08.2009). In jedem Fall dürfte die Gesamtzahl der westlichen SoldatInnen Ende 2009 die magische Grenze von 100.000 überschritten haben.
Nach den bisherigen Erfahrungen dürfte damit wohl auch eine weitere Intensivierung der Kampfhandlungen einhergehen, wie selbst US-Kriegsminister Gates unumwunden einräumte (Spiegel Online, 12.06.2009).
Ausweitung der Kampfzone: Kriegsgebiet Südwestasien
Ein weiteres zentrales Element der neuen US-Strategie ist die Ausweitung des Kampfgebietes auf Pakistan: „Ich möchte, dass das amerikanische Volk versteht, dass wir ein klares Ziel scharf vor Augen haben: Al Qaida in Pakistan und Afghanistan zu stören, zu zersetzen und zu besiegen“, so Barack Obama (Streitkräfte & Strategien, 04.04.2009). Offiziell wurde bereits Ende März 2009 verkündet, dass Afghanistan und Pakistan nunmehr als einheitliches Kriegsgebiet begriffen und der Kampf fortan auf beiden Seiten der Grenzen ausgetragen werden solle.
Seither setzen die USA verstärkt auf den Einsatz unbemannter Drohnen, während gleichzeitig Pakistan massiv dazu gedrängt wird, offensiv gegen tatsächliche oder mutmaßliche Rückzugsgebiete des Widerstands vorzugehen. Laut Los Angeles Times (03.08.2009) wurde mittlerweile im Pentagon eine „Pakistanisch-Afghanische Koordinationseinheit“ ins Leben gerufen, die die Kampfhandlungen zusammenführen soll. Vor diesem Hintergrund stellt Lothar Rühl, ehemals Staatssekretär im Verteidigungsministerium, richtigerweise fest: „Der afghanische Krieg hat sich schon seit längerem über die Grenze ausgebreitet und begonnen, beide Länder zu einem Kriegsgebiet Südwestasien zu verschmelzen.“ (FAZ, 25.05.2009)
Derweil lösen die US-Drohnenangriffe, denen Berichten zufolge zahlreiche Menschen zum Opfer gefallen sein sollen, in Pakistan große Proteste aus.
BeobachterInnen warnen deshalb vor einer Destabilisierung der Lage, was wiederum bei manchen Spenglersche Untergangsphantasien hervorruft.
So schreibt Michael Stürmer in der Welt: „Es wäre eine weltweite Apokalypse: Atomwaffen in der Hand von Osama bin Laden. Das zeigt, dass es in Afghanistan und Pakistan für den Westen um alles geht. Dort entscheidet sich in diesen Monaten, ob die Islamisten die Erde erben oder ob der Weltentwurf des Westens noch eine Chance hat. […] Wenn wir nicht zum Krieg gehen, kommt der Krieg zu uns: Diese Botschaft der Amerikaner an die Verbündeten ist unwillkommen – Nachricht aus der Wirklichkeit, aber leider wahr.“ (Die Welt, 10.05.2009)
Nicht nur in Bezug auf die Auseinandersetzungen im afghanischen Grenzgebiet, an denen sich die Bundeswehr inzwischen durch die Ausbildung von 500 pakistanischen Soldaten in Deutschland beteiligt (German-Foreign-Policy.com, 22.05.2009), wird so ein Stimmungsteppich für ein größeres deutsches Engagement ausgebreitet.
Eskalation nach der Bundestagswahl?
Obwohl die Bundesregierung stets ihren unverzichtbaren Beitrag am Krieg in Afghanistan betont, wurde sie bereits von der Bush-Administration scharf kritisiert. Wesentlicher Streitpunkt war die Tatsache, dass Berlin sich weigert, SoldatInnen in den Süden und Osten zu entsenden, wo mit Abstand die schwersten Kampfhandlungen stattfinden.
Der Hauptgrund hierfür dürfte sicher nicht eine besonders pazifistische Veranlagung der Regierungsparteien sein, sondern dass ein Einsatz im Süden von einer überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung kategorisch abgelehnt wird. Aus diesem Grund versucht die Bundesregierung, die Bevölkerung scheibchenweise an eine stärkere Beteiligung zu gewöhnen. Erst mit den Tornados Anfang 2007, dann durch die Übernahme der „Quick Reaction Force“ (QRF) im Juni 2008, eine ausschließlich für die Aufstandsbekämpfung zuständige Truppe, und schließlich über die Erhöhung des Bundeswehrkontingentes auf 4.500 SoldatInnen Ende 2008. Hinzu kommen mittlerweile weitere 300 im Rahmen der AWACS-Großraumaufklärer eingesetzte SoldatInnen.
Doch damit ist die US-Regierung bei weitem nicht zufrieden gestellt. Noch viel schärfer als sein Vorgänger fordert Barack Obama mehr Unterstützung.
Zuletzt wurde der US-amerikanische NATO-Botschafter Ivo Daalder Anfang Juli 2009 überdeutlich: „Die Vereinigten Staaten erfüllen ihren Teil, Europa und Deutschland können und sollten mehr tun.“ (FAZ, 01.07.2009)
Die Botschaft scheint angekommen zu sein. Komme man den US-Wünschen nicht nach, drohe Deutschland, von den USA zu einem Partner dritten Ranges herabgestuft zu werden, so die Argumentation: „Der neue Präsident wird von Europa keine Vorträge, sondern Beiträge erwarten“, behauptete Eckart von Klaeden, der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion (Die politische Meinung, Januar 2009). Ähnlich äußert sich Lothar Rühl: „Bündnisfähigkeit setzt heute die Bereitschaft voraus, militärische Risiken zu tragen.“ (Internationale Politik, Juli/August 2009)
Vor diesem Hintergrund rechnen Teile der Friedensbewegung mit einer neuerlichen Truppenerhöhung: „Die […] Erhöhung der in Afghanistan eingesetzten Bundeswehrsoldaten auf nunmehr 4.800 Soldaten bedeutet zwar gegenüber Sommer 2008 eine Steigerung um 36%. Aber dabei wird es nicht bleiben. Es zeichnet sich ab, dass nach den Bundestagswahlen die Truppenzahl weiter angehoben wird“, lautet die düstere Prognose von Uli Cremer und Wilhelm Achelpöhler (www.gruene-friedensinitiative.de/).
Zwar hat Verteidigungsminister Franz-Josef Jung noch Mitte August der Forderung nach mehr SoldatInnen eine Absage erteilt, ob er diese Haltung aber nach den Wahlen angesichts des beträchtlichen US-amerikanischen Drucks beibehalten kann – bzw. will – ist offen.
Ohnehin steht nicht die Frage nach einer Truppenaufstockung im Zentrum, sondern ob Deutschland bereit sein wird, trotz des Widerstands in der Bevölkerung Bodentruppen in den schwer umkämpften Süden zu entsenden. Mit dem Trick, erstmalig ein Bundeswehrmandat um 14 statt wie bislang üblich um 12 Monate zu verlängern, gelang es der Großen Koalition, diese Frage nicht vor den Wahlen behandeln zu müssen. Der Verdacht liegt nahe, dass unmittelbar nach den Wahlen die Rufe deutlich lauter werden dürften, im Sinne der allseits erwünschten Aussöhnung mit den USA könne und dürfe man sich Obamas Forderungen nicht mehr länger verschließen.
Schon vor einiger Zeit forderte etwa der SPD-Außenexperte Hans-Ulrich Klose, Deutschland solle die Quick Reaction Force „stark genug machen, dass sie im Notfall in ganz Afghanistan eingesetzt werden kann – auch im Süden“. (Spiegel Online, 04.02.2008)
Auch ein Beitrag in der Internationalen Politik (Januar 09), dem publizistischen Flaggschiff der deutschen außenpolitischen Eliten, pocht darauf, man dürfe die „Entsendung in den Süden Afghanistans nicht länger kategorisch ausschließen“.
Entschieden ist in dieser Sache natürlich noch nichts, die Friedens- und Antikriegsbewegung sollte sich jedoch darauf vorbereiten, dass derlei Forderungen in der Debatte um die kurz nach den Wahlen anstehende Verlängerung des Bundeswehr-Mandates massiv vorgebracht werden könnten.
In einem anderen Aspekt kommt die Bundesregierung schon jetzt den US-amerikanischen Wünschen nahezu vollumfänglich nach, nämlich indem sie die Bundeswehr in ihrem Einsatzgebiet im Norden deutlich aggressiver vorgehen lässt.
Bundeswehr: Grünes Licht für Offensive
Lange wurde mühsam versucht, das Bild vom Bundeswehrsoldaten als einer Art bewaffnetem Entwicklungshelfer zu vermitteln, der mehr mit dem Brunnenbauen als dem Kämpfen beschäftigt sei. Spätestens mit der kürzlich durchgeführten „Operation Adler“, die Mitte Juli begann und bis Ende des Monats andauerte, hat sich dies jedoch endgültig erledigt.
Dabei handelte es sich um eine Militäroperation von 300 BundeswehrsoldatInnen und etwa 900 afghanischen Regierungstruppenangehörigen, bei der erstmals auch schweres Gerät, Mörser und Schützenpanzer, zum Einsatz kam. Ziel war es, Widerstandsgruppen zurückzuschlagen, die im deutschen Verantwortungsgebiet an Boden gewonnen hatten: „Der Raum Kundus hat sich negativ entwickelt. Da braucht man nicht drumherum zu reden“, so Bundeswehr-Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan. Deswegen sei es „jetzt an der Zeit, diese Eskalation vorzunehmen“. (Telepolis, 22.07.09)
Der entsprechende Wikipedia-Eintrag lässt an der Bedeutung des Geschehens keine Zweifel aufkommen: „Die Operation Oqab [afgh. für Adler] bedeutete für das deutsche Heer die erste direkte Beteiligung an einer Offensive seit seinem Bestehen. Die Tragweite des deutschen Beitrags spiegelt sich in der Aussage von Oberstleutnant Hans-Christoph Grohmann, Kommandeur der QRF, wider, der einen seiner Offiziere als ‚den ersten Oberleutnant, der nach 1945 eine Infanterie-Kompanie im Angriff geführt hat‘ vorstellte.“
Allerdings war die Operation Adler ein Schlag ins Wasser – zumindest gemäß dem, was sie offiziell erreichen sollte. Schon kurz nach Beendigung des Einsatzes kehrten die vertriebenen Gruppen wieder in die Region zurück. Auf die Frage, ob er dies nicht genauso sehe, antwortete Verteidigungsminister Franz-Josef Jung seltsamerweise folgendes: „Wie das Gefecht vom Freitag zeigt, ist das leider wahr. Deshalb werden auch in Zukunft derartige Operationen notwendig sein.“ (Bild, 09.08.2009)
Weil also dieser Einsatz nichts bewirkt hat, sollen zukünftig viele weitere folgen – soviel zur Logik des Verteidigungsministers. Festzuhalten ist jedoch, dass sich damit die US-amerikanische und die deutsche Position sukzessive annähern, wie die Politikwissenschaftlerin Elizabeth Pond feststellt: „Sicher, Deutschlands jüngste erstmalige Verwendung schwerer Waffen und panzerähnlicher Fahrzeuge in einer zweiwöchigen Offensive gegen Aufständische wird kaum die US-Hoffnungen auf mehr deutsche Kampfeinsätze im Süden Afghanistans befriedigen. Aber die neue deutsche Durchsetzungsbereitschaft kündigt eine gewisse Annäherung an.“ (Christian Science Monitor, 07.08.09)
In dieses Bild einer zunehmenden Brutalisierung des deutschen Einsatzes passt auch die im Juli erfolgte Anpassung der „Nationalen Klarstellungen“ zum Nato-Operationsplan.
Sie regeln die Befugnisse der SoldatInnen für den Einsatz von Gewalt und werden bündig auf einer so genannten Taschenkarte zusammengefasst. Nun ist auch für die deutschen SoldatInnen in ihrem Operationsgebiet nicht mehr nur die Selbstverteidigung, sondern auch die aktive Aufstandsbekämpfung erlaubt. Folgender Satz wurde komplett gestrichen: „Die Anwendung tödlicher Gewalt ist verboten, solange nicht ein Angriff stattfindet oder unmittelbar bevorsteht.“ (Telepolis, 22.07.09) Auch hierdurch soll der massiven US-Kritik Wind aus den Segeln genommen werden, wie Lothar Rühl in der FAZ (19.07.09) beschreibt: „Solange die Deutschen in ihrer Zone nicht mehr Initiative und Aggressivität bei der Bekämpfung der Islamisten und anderer Rebellen zeigen, werden sie nur als zweitklassige Verbündete betrachtet und auch so behandelt. Abwehr von Angriffen, die man in Berlin stets hervorhebt, genügt den Partnern nicht länger, sie wollen Angriffe auf den Feind sehen, wie auch hohe deutsche Militärs zugeben.“
Es bleibt jedoch der Konflikt zwischen den US-Forderungen nach einer höheren Beteiligung an den Kämpfen im Süden und dem offensichtlichen Unwillen der Bundesregierung, dies angesichts der ablehnenden Haltung der Bevölkerung durchzusetzen. Womöglich zeichnet sich hier auch eine Kompromisslösung ab.
Washington scheint zu realisieren, dass die innenpolitischen Widerstände insbesondere in Deutschland nur schwer ignoriert werden können, erwartet jedoch eine Kompensationsleistung. Diese könnte in einem deutlich erhöhten Beitrag beim Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte liegen. So äußerte sich unlängst Kriegsminister Robert Gates folgendermaßen: „Ich denke offen gestanden, da wir unsere Anforderungen auf zivile Experten und Polizeiausbilder konzentrieren werden, wird dies für Europäer zu Hause einfacher sein, als die Bitte, mehr Soldaten zu schicken. Die Dinge, um die wir bitten, sind für sie politisch einfacher, so dass sie trotz ihrer Wirtschaftsprobleme diese Anforderungen erfüllen werden.“ (Streitkräfte & Strategien, 04.04.2009)
Afghanisierung des Kriegs
Die US-Militärdoktrin geht davon aus, dass die erfolgreiche Bekämpfung eines Aufstandes 20 SoldatInnen auf 1.000 erfordert – für Afghanistan demzufolge also etwa 640.000 Truppenmitglieder. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Zahl allen Aufstockungen zum Trotz mit westlichen Einheiten allein bei weitem nicht zu erreichen sein wird. Aus diesem Grund soll die bestehende Lücke nun durch eine massive „Afghanisierung“ des Krieges geschlossen werden.
Hierfür wurde die Zielgröße für die afghanische Armee von ursprünglich 85.000 auf 134.000 angehoben. Doch damit nicht genug. Der US-Sonderbeauftragte für Afghanistan Richard Holbrooke gibt an: „Es ist offensichtlich, dass die derzeitige Zahl der afghanischen Sicherheitskräfte auf lange Sicht nicht ausreicht. Nach den Präsidentschaftswahlen werden wir uns gemeinsam mit der neuen Regierung damit beschäftigen.“ (Deutsche Welle, 31.07.2009) Der neue US-Kommandeur Stanley McChrystal scheint bereits die neue Zielgröße von 270.000 SoldatInnen ausgegeben zu haben (CNN, 04.08.2009).
Auch die afghanische Polizei, de facto Paramilitärs, die ihre ursprüngliche anvisierte Größe von 82.000 nahezu erreicht hat, soll deutlich vergrößert werden. Ihre Ausbildung übernimmt zu einem guten Teil die EU-Mission „EUPOL Afghanistan“, die Mitte 2007 gestartet wurde. Um die Durchlaufquoten der Trainingsprogramme zu erhöhen, beschloss Deutschland Anfang Juli, die Zahl seiner BeamtInnen bis 2010 zu verdreifachen. Andere EU-Länder wollen ihr Kontingent ebenfalls aufstocken. Auch die NATO mischt seit dem Treffen ihrer Kriegsminister im Juni mit: „Die Minister beschlossen förmlich eine Ausbildungsmission der NATO. Sie soll nicht nur das Training von afghanischen Soldaten intensivieren, sondern auch paramilitärische Polizei ausbilden. Frankreich und Italien wollen insgesamt 300 Gendarme und Carabinieri schicken.“ (Netzzeitung, 12.06.2009)
Neoliberaler Militärstaat am Tropf des Westens
Ein letzter, immer wieder betonter Aspekt der neuen US-Strategie stellt – zumindest verbal – mehr und effektivere Entwicklungshilfe dar. Richtig ist in jedem Fall, dass sich allein die US-Kriegskosten mittlerweile auf 223 Mrd. Dollar addieren (Congressional Research Service, 15.05.09), von den zugesagten 25 Mrd. Dollar an Hilfsleistungen der gesamten „Internationalen Gemeinschaft“ jedoch lediglich 15 Mrd. ausgeschüttet wurden. Darüber hinaus ist davon je nach Schätzung zwischen 40% (Oxfam) und 90% (Center for Strategic and International Studies) „gebundene Hilfe“, wandert also direkt in die Taschen der Firmen aus den Geberländern zurück. Jede Veränderung in diesem Bereich wäre demzufolge natürlich wünschenswert.
Selbst wenn dies tatsächlich geschehen würde, dürfte die während der Besatzung erzwungene Öffnung der afghanischen Wirtschaft für westliche Produkte und Investitionen eine nachhaltige Verbesserung der ökonomischen Lage auf Dauer unmöglich machen (siehe GWR 333). Durch die Liberalisierung ist in Afghanistan ein eklatantes Handelsbilanzdefizit entstanden.
Allein Deutschland exportierte im Jahr 2008 Waren im Wert von 267,7 Mio. Euro nach Afghanistan, während sich die Importe auf lediglich 2,7 Mio. Euro beliefen. Daran wird sich auch in absehbarer Zeit nichts ändern: „Die Handelsbilanz wird auch langfristig passiv bleiben“, folgert ein Bericht von Germany Trade and Invest (Afghanistan – Jahresmitte 2009).
Gleiches gilt demnach auch für die Leistungsbilanz, die sich auf minus 6,8 Mrd. Dollar im Haushaltsjahr 2008/09 belief (CIA World Factbook, 30.07.09).
Da an der Neoliberalisierung der afghanischen Wirtschaft unbeirrt festgehalten wird, ist die vollmundig versprochene Erhöhung der Entwicklungshilfe allenfalls – wenn überhaupt – ein Tropfen auf dem heißen Stein. Zudem ist völlig unklar, woher künftig die Gelder für den enormen Repressionsapparat kommen sollen, der derzeit aufgebaut wird – aus dem derzeitigen (und wohl auch künftigen) afghanischen Haushalt jedenfalls nicht. Laut Rory Stewart, Direktor des „Carr Center on Human Rights Policy“, dürften sich die Kosten für die afghanischen Sicherheitskräfte auf zwei bis drei Mrd. Dollar im Jahr belaufen – ein Vielfaches der gesamten Staatseinnahmen.
„Wir kritisieren Entwicklungsländer dafür, wenn sie 30% ihres Budgets für Rüstung ausgeben; wir drängen Afghanistan dazu, 500% seines Haushalts hierfür aufzuwenden. […] Wir sollten kein Geburtshelfer eines autoritären Militärstaats sein. Die hieraus resultierenden Sicherheitsgewinne mögen unseren kurzfristigen Interessen dienen, aber nicht den langfristigen Interessen der Afghanen.“ (London Review of Books, 07.07.2009)
Dieser Ausbau des Repressionsapparates ist überaus Besorgnis erregend. Dass sich in der afghanischen Regierung allerlei Kriegsverbrecher tummeln, ist bekannt. Ihnen nun die Mittel an die Hand zu geben, ihre ureigensten Interessen unter dem Deckmantel der Staatsraison brutal umsetzen zu können, ist alles andere als eine gute Idee. Umso mehr, da diese „Sicherheitskräfte“ schon jetzt ein beängstigendes Eigenleben entwickeln. So berichtet Reuters (12.07.09): „Bei ihrer Offensive im Süden Afghanistans vernehmen britische Soldaten eine eindringliche Bitte von Dorfbewohnern: ‚In Gottes Namen, bringt uns nicht die afghanische Polizei zurück!‘ […] Die Einwohner des Dorfes von Pankela etwa berichten, die Polizei-Einheiten der Regierung in Kabul seien so brutal und korrupt gewesen, dass die Taliban vor Monaten wie Befreier begrüßt worden seien.“
Gemeinsam gegen die Besatzung
Inzwischen spricht sich eine Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland für einen schnellstmöglichen Abzug der Truppen aus. Im ARD-Deutschlandtrend vom Juli 2009 waren es 69% – so viele wie noch nie. Gleichzeitig zeigt eine Umfrage von ARD, ABC und BBC im Februar 2009, dass mittlerweile auch eine Mehrheit der AfghanInnen einen schnellen Abzug von USA und NATO befürwortet (tagesschau.de, 09.02.09).
Tatsächlich ist der sofortige Abzug die einzige Option, um aus der derzeitigen Eskalationsspirale aussteigen.
Alle Gegenargumente sind nicht stichhaltig, wie etwa die afghanische Abgeordnete Malalai Joya betont: „Mein Land wurde nicht befreit, es wird immer noch von den Warlords kontrolliert, und die NATO-Okkupation vergrößert nur deren Macht. […] Dieses Blutvergießen muss nicht ewig weitergehen. Einige behaupten, wenn die ausländischen Truppen Afghanistan verließen, werde das Land in einen Bürgerkrieg stürzen. Ist das heute etwa kein Bürgerkrieg und keine Katastrophe? Je länger die Besetzung andauert, desto schlimmere Formen wird dieser Bürgerkrieg annehmen.“ (The Guardian, 25.07.09. Übersetzt von Wolfgang Jung)
Argumente gibt es also genug, um die anstehende Mandatsverlängerung im Herbst 2009 erneut für Großdemonstrationen gegen den deutschen Einsatz am Hindukusch zu nutzen.
Anmerkungen
Jürgen Wagner ist geschäftsführender Vorstand der Tübinger Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. (www.imi-online.de)