Mitte August veröffentlichte das Allensbacher Institut eine vom 1. bis 12.8.2009 durchgeführte demoskopische Umfrage zur Stimmung in der Bevölkerung im Vorfeld der Bundestagswahlen. Die Ergebnisse widersprechen allzu einfachen libertären Hoffnungen auf die Folgen einer weit verbreiteten "Politikverdrossenheit". (Red.)
Sicher sorgen sich die Menschen um einen Anstieg der Arbeitslosigkeit nach den Wahlen. Doch, so jubelt der FAZ-Kommentator: „Laut Befund des Instituts für Demoskopie Allensbach herrscht im Land keineswegs Krisenstimmung. Nur jeder Vierte befürchtet, dass ihn persönlich die Krise erwischen könnte. Das ist eine große Leistung der Politik.“ (1)
Keine Krisenstimmung also.
Dabei ist die Krise von der Dimension der Geldvernichtung und ihrer Substituierung durch Geldspritzen aus dem Staatshaushalt her gravierender als 1929/30. Die Menschen erleben zwar die größte Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit, doch eine Krisenstimmung ist bei den BürgerInnen nicht bemerkbar!
Sie sehen eine Schein-Konfrontation zwischen dem Außenminister und der Kanzlerin der Großen Koalition, bei 95-prozentiger Übereinstimmung in allen wesentlichen Fragen. Die letzte Große Koalition von 1966-69 hatte noch zu studentischer Revolte und zur außerparlamentarischen Opposition geführt. In den sechziger Jahren wurde nicht nur gegen eine Große Koalition, sondern schon gegen eine erste, relativ minimale Rezession und auch gegen eine „formierte Gesellschaft“ angekämpft.
Selbst die FAZ wundert sich demgegenüber heute: „Dass ein Wahlkampf weder von den Parteien genutzt wird, um sich neu zu profilieren, noch von den BürgerInnen in Anspruch genommen wird, die bisher vereinten Regierungspartner getrennt zur Rede zu stellen, ist in der Geschichte der Bundesrepublik ziemlich neu.“ (2)
Will heißen, die Politik hat es also geschafft, per Kurzarbeitergeld und Abwrackprämie den BürgerInnen vorzugaukeln, sie hätte alles im Griff, so viel von Krise auch die Rede sein mag. Denn da heißt es in den Ergebnissen der Studie: „Weder die Wahl noch die wirtschaftliche Entwicklung scheinen die meisten Bürger zurzeit sonderlich zu bewegen. Nur 26 Prozent der Bevölkerung sehen den kommenden zwölf Monaten voller Befürchtungen entgegen.
In Bezug auf die weitere konjunkturelle Entwicklung werden die Sorgen der Bevölkerung von Monat zu Monat schwächer. Anfang des Jahres rechneten noch zwei Drittel mit einem anhaltenden Abwärtstrend, im Mai noch 55 Prozent, im Juni 44 Prozent, jetzt 39 Prozent.“ (3)
Mögen viele auch gleichzeitig das Gefühl haben, die PolitikerInnen seien abgehoben und machten sowieso was sie wollten; mögen viele deshalb wohl auch überlegen, nicht zur Wahl zu gehen: der Identifikation der BürgerInnen mit dem politischen System, mit ihrem Staat tut das keinen Abbruch.
„Nur 27 Prozent glauben, dass der Ausgang der Bundestagswahl darüber entscheidet, wie rasch sich Deutschland wirtschaftlich erholt. 60 Prozent erwarten keine schwerwiegenden ökonomischen Auswirkungen. Diese Einschätzung … erklärt sich aus der allgemeinen Erwartung, dass sich die Regierungskonstellation im Kern wenig verändern wird. Die überwältigende Mehrheit erwartet, dass die CDU/CSU nach der Wahl die Regierung führen wird, ob in einer schwarz-gelben oder einer großen Koalition. (4)
Das allgemeine Gefühl bleibt konform und egozentrisch, etwa nach dem Motto: Ich bin nicht betroffen und mir geht’s ja noch gut! Eine Tendenz zu gesellschaftlicher Solidarität mit den Marginalisierten, mit dem von der Krise negativ betroffenen Viertel der Bevölkerung gibt es nicht, daher auch keine Anzeichen für Protest oder gar Revolte.
Die Menschen suchen auch nicht nach gesellschaftlichen Alternativen, die sie sich zudem weniger vorstellen können.
Eine organisierte Anstrengung anarchistischer Gruppen, andere gesellschaftliche Entscheidungskonzepte, Utopien, Alternativen unter die BürgerInnen zu bringen, wie noch bei früheren Bundestagswahlen, ist nicht auszumachen – die Resonanz der Bestellungen der Graswurzelrevolution-LeserInnen auf ein Info- und Aktionsblatt für solche Zwecke, das in der Sommer-GWR angekündigt wurde, ist so gering, dass wir mangels Nachfrage auf die Produktion verzichtet haben.
Nicht einmal die Gefahr, dass die „Politikverdrossenheit“ nach rechts außen ausschlägt, ist in Deutschland derzeit besonders hoch zu veranschlagen. In Europa haben in fast allen Ländern rechtsextreme Parteien bei den letzten Europawahlen im Juni angesichts der Schwäche der Verbreitung und Vermittlung linker oder libertärer Systemalternativen einen bedrohlichen Aufschwung erlebt, in Großbritannien die „British National Party“ von Nick Griffin, in den Niederlanden die „Partei für Freiheit“ (was für ein Name!) von Geert Wilders, in Ungarn die Jobbik-Partei von Gabor Vona (5).
Deutschland war da eine Ausnahme, weil die „kleinen Parteien“ von rechts bis links (FDP, Grüne, Linke) vorläufig noch aufgefangen haben, was bei Großen Koalitionen oft nach rechts driftet, und was sich im Falle Österreich derzeit bei rund 18 Prozent für BZÖ und FPÖ tummelt.
Wenn viele Leute also nicht zur Bundestagswahl gehen werden (mal abwarten, viele tun es ja dann doch, gehört schließlich zur „demokratischen Pflicht“), dann vor allem deshalb, weil sie wissen, dass es auch ohne ihre Stimmabgabe genau so weitergehen wird, und dass ihre eigene berufliche Stabilität und ihr falsches Selbstbewusstsein vom zu erwartenden Ergebnis nicht bedroht werden, ganz im Gegenteil. Hinzu kommen Tendenzen der „Entpolitisierung“, des „Rückzugs“ in private oder familiäre Kreise, und eine Alltagskultur der Anpassung und des Gehorsams, die zur „Unfähigkeit, sich ein Urteil zu bilden“ führt. (6) So hüte sich, wer meint, „Politikverdrossenheit“ würde sich unmittelbar in Protestbewusstsein oder gar in ein Bedürfnis nach Systemalternativen umsetzen.
Martin Buber, das atomisierte Individuum und die Restrukturierung von Gesellschaft
Der heute nur noch als „Religionsphilosoph“ bekannte Martin Buber (1878-1965), den ich eher als Philosophen der Gesellschaft und der Dialogfähigkeit bezeichnen würde, sprach schon während und direkt nach dem Zweiten Weltkrieg (1946) in seiner libertären Schrift „Pfade in Utopia“ (7) von einem „amorphen Charakter der heutigen Gesellschaftsordnung“. Im Zusammenhang mit der Wählerbasis beim allgemeinen Wahlrecht sprach er, Proudhon zitierend, von „Atomismus“, von einer „amorphen Basierung der Wahlen“, und in der weiteren Auseinandersetzung mit Proudhon von der WählerInnenbasis als einem „Agglomerat von Molekülen“ (Buber) oder einem „Haufen Staub, den von außen ein ihm überlegener Gedanke, der zentrale Gedanke bewegt“ (Buber zitiert Proudhon). Ursache für die Atomisierung der Individuen sei „die Zerstörung der natürlichen Gruppen“. (8)
Was war damit gemeint?
Von Gustav Landauer hatte Buber die Geschichtsinterpretation übernommen, dass der zentralisierte Staat erst seit dem 16. Jahrhundert die Gesellschaft der mittelalterlichen Städte mit großen Freiheitsspielräumen und ihrer Organisiertheit in Gemeinschaften von Angesicht zu Angesicht, den Gilden und Handwerkervereinigungen verdrängt oder aktiv zerstört habe. Das ist mit der „Zerstörung der natürlichen Gruppen“ gemeint, die zwischen Staat und Individuum gelegen hatten. Sie hatten die gesellschaftliche Struktur gebildet und deshalb einen Gegensatz Gesellschaft versus Staat ausbilden können.
Nun, nach der Zerstörung dieser natürlichen Gruppen sei, so Bubers Geschichtsphilosophie – und besonders nach den beiden Weltkriegen – das Individuum dem Staat ohne den Puffer dieser kommunikations- und gesprächsorientierten Gruppen und Gemeinschaften schutzlos ausgeliefert, zumal, so Buber in einem an diesen Gedankengang anschließenden Aufsatz, „wenn die Gewalten der Propaganda seine Instinkte bekräftigen, um ihn besser verwenden zu können.“ (9)
Unter Gewalten der Propaganda müssen wir uns heute die modern herrschenden Medien und ihren Diskurs vorstellen, unter „verwenden“ eher „ausnutzen“. Das atomisierte Individuum hat sozusagen keine Ebene der Gemeinschaft mehr, die es gegen die permanente Propaganda der „großen Kollektive“ (Staat, Medien, zentralistische Nation nach Buber) immun macht und unabhängig hält. Ergebnis ist die Identifizierung des Individuums mit dem Staat, die „Sprachlosigkeit“ der egozentrischen Individuen zueinander, der amorphe Charakter der Gesellschaft, die wie eine Ansammlung von Molekülen wirkt, wie ein „Haufen Staub“.
Das war die Gesellschaftsanalyse Bubers. Doch er war notorisch optimistisch: In „Pfade in Utopia“ suchte er deshalb nach gesellschaftlichen Tendenzen einer Re-Strukturierung der Gesellschaft, nach neuen „natürlichen Gruppen“, die wirkliche Gespräche, wirkliche Kommunikation zu führen und dadurch anderes Bewusstsein zu schaffen in der Lage sind. Sie sollten zwischen atomisiertes Individuum und Staat treten und den Gegensatz Gesellschaft versus Staat wieder erstehen lassen. Er fand sie ab dem 19. Jahrhundert in der Welle von Konsum- und Produktionsgenossenschaften, in Kooperativen, Assoziationen und in Kommuneexperimenten, nicht zuletzt der von ihm mit inspirierten Kibbutz-Bewegung, an der er ständig regen Anteil nahm, deren Niedergang in den fünfziger und sechziger Jahren er allerdings nicht verhindern konnte.
All diese natürlichen Gruppen und Gemeinschaften hatten ihre eigenen, direktdemokratischen, von Angesicht zu Angesicht wirkenden Organisations- und Entscheidungsmechanismen, die Kommunikations- und Dialogfähigkeiten förderten, und dadurch ursächlich zu Freiheit und Unabhängigkeit im Denken der Individuen beitrugen.
Wenn wir Bubers Ansatz in die Gegenwart fort denken, erklärt sich auch die 1968er-Bewegung, die außerparlamentarische Opposition, die Wiederentdeckung nicht- oder sogar antiparlamentarischer Entscheidungs- und Organisationsformen wie etwa der Räte (z.B. bei den Arbeitskämpfen in Norditalien oder bei Arbeiterselbstverwaltungs-Bewegungen wie LIP in Frankreich), die Entstehung neuer Gemeinschaften wie in der Black Community der Schwarzenbewegung in den Südstaaten der USA (der „band of brothers (and sisters)“ im Student Nonviolent Coordinating Committee), durch eine Welle neuer Face-to-face-Gruppen und studentischer oder gegenkultureller Assoziationen (z.B. auch die Selbsterfahrungs- und Consciousness-Gruppen der neuen Frauenbewegung).
Erst im Rahmen so einer Gruppen- und Gemeinschafts-Bewegung und ihrer neuen kommunikativen Unabhängigkeit entstand das „klein“-kollektive Bewusstsein und das Bedürfnis sowohl nach Kritik der Unzulänglichkeit der parlamentarische Demokratie, als auch das Experimentieren mit gesellschaftlichen Alternativen.
So ging es weiter: Wirkliche Gemeinschaftsbildung auf gesellschaftlicher Ebene ging Staatskritik und alternativen utopischen Vorstellungen immer voraus, nicht umgekehrt. Ansonsten blieb da nur das atomisierte Individuum, das sich angesichts fehlender Gemeinschaften und Gruppen völlig mit dem „großen Kollektiv“ (Buber) identifizierte. Als sich Mitte der siebziger Jahre in der BRD und Westeuropa die neuen sozialen Bewegungen entwickelten, die feministische Bewegung, die Anti-AKW-Bewegung, die ökologische, später die „Dritte Welt“-Soli- und die antirassistische Bewegung, geschah das auf der Basis nicht-amorpher, nicht-atomisierter Gruppen und Gemeinschaften, vor allem der Welle der damaligen BürgerInnen-Initiativen. Auf dieser Basis konnten Konzepte und Utopien der Basisdemokratie wachsen, die z.B. auch in den Parteibildungsprozess der Grünen eingingen – und ebenso wieder von den Grünen zerstört wurden, weil Staatsorientierung nach Buber Gemeinschaftsorientierung, die „natürlichen Gruppen“ zerstört und nur das atomisierte, amorphe Individuum übrig lässt.
Auch 1989 und die weltweite Verbreitung von Phänomenen der People’s Power können so interpretiert werden. Was entstanden aus den lange im Untergrund, in Face-to-face-Beziehungen agierenden Freundschafts-, Dissidenz- und Oppositionsgruppen, als sie nach dem Sturz des DDR-Regimes an die Öffentlichkeit traten?
Keine Parteien – nicht sofort! Sondern Runde Tische als „natürliche“, im Sinne von authentische Ausdrucks-, Organisations- und Entscheidungsformen der Revolte. Erst als der westliche Zentralstaat Parteigründungen forcierte und ihre eigenen Parteien imperialistisch diesem gesellschaftlichen Prozess überstülpte, wurden die Gruppen, Assoziationen und Bürgerinitiativ-Bewegungen zerstört, von außen durch banale Machtmechanismen und von innen durch Atomisierungsprozesse, die bei den Individuen mehr und mehr griffen und zur Zerstörung authentischer Gemeinschaften führten.
Aus Bubers Ansatz können für heute folgende Schlussfolgerungen gezogen werden: Im Moment gibt es keine wirklichen Gemeinschaftsprozesse, die zwischen atomisiertem Individuum und großem Kollektiv, dem Staat, so verbreitet sind, dass ihre Dialog- und Kommunikationspraxis zu einem Hinterfragen der bürgerlichen Demokratie führen könnten. Es gibt keine weit um sich greifende Welle von BürgerInneninitiativen oder Ähnlichem. Es gibt wohl einige Gruppen und Assoziationen im Rahmen der weltweiten Bewegung für eine andere Globalisierung, doch weit eher latent und nur selten, zu manchen Aktionsanlässen manifest – und dann zerfallen sie wieder bis zum nächsten Aktionsevent.
Was not tut, wäre ein kontinuierliches Gruppenleben als persönlicher Lebensmittelpunkt der Beteiligten, Gemeinschaft, eine libertäre und gewaltfreie Kultur, die sich verbreitert und ein daraus entstehendes kommunikatives Milieu, das sich der Manipulation widersetzt.
So kann eine Lust und ein Bedürfnis nach gesellschaftlichen Experimenten, nach anderen Entscheidungsformen und einer Kritik der herrschenden Entscheidungspraxis in den Parlamenten und Parteien wieder entstehen.
(1) Georg Paul Hefty: Nichts zu fragen, in: FAZ, 19.8.2009, S. 1.
(2) Ebenda.
(3) Renate Köcher: Keine Krisenstimmung, in: FAZ, 19.8.2009, S. 5.
(4) Ebenda.
(5) Das Time-Magazine brachte nach den Europawahlen eine Titelstory mit: "Far right turn. The new allure of European extremism", 10.8.2009, S. 22-26.
(6) Johan Bauer: Kritik des Parlamentarismus, in: GWR 340, S. 16.
(7) Die deutschsprachige Ausgabe ist 1950 erschienen; vgl. Martin Buber: Pfade in Utopia, Verlag Lambert Schneider, Heidelberg 1950; hier besonders relevant die Auseinandersetzung mit Proudhon, S. 53ff.
(8) Buber, ebenda, S. 54. Patriarchale und antisemitische Tendenzen bei Proudhon sind dem Autor dieses Artikels bekannt, spielen hier aber keine Rolle, wie Buber in seiner Auseinandersetzung mit Proudhon auch dessen antisemtische Tendenzen nicht an einer Stelle erwähnte; T.L.
(9) Martin Buber: Hoffnung für diese Stunde, 1952, in Martin Buber: Hinweise, Manesse Verlag, Zürich 1953, S. 315.