Es ist eines der berühmtesten Fotos der Geschichte: Robert Capas "Loyalistischer Soldat im Moment des Todes", auch bekannt als "The Falling Soldier", erstmals veröffentlicht am 23. September 1936 in der französischen Illustrierten Vu, später unter anderem (am 12. Juli 1937) im US-amerikanischen Nachrichtenmagazin Life, und seither eine Ikone der engagierten Kriegsfotographie. Ein republikanischer Milizionär wird in der Einöde des spanischen campo in vollem Lauf von einer tödlichen Kugel getroffen. Das Foto ist gestellt. Vermutlich.
Im Streit um einen Todesschuss
Dies zumindest legt eine neue Buchveröffentlichung nahe, José Manuel Suspereguis „Sombras de la fotografía“ (2009) [‚Schatten der Fotographie‘], die in Spanien im Sommer 2009 zur Sensation aufgebauscht wurde. Selbst die Süddeutsche Zeitung widmete der Angelegenheit eine halbe Seite. Seitdem Philip Knigthley 1975 erstmals Zweifel an der Authentizität des in „The Falling Soldier“ dargestellten Todesschusses angemeldet hat, sind in schöner Regelmäßigkeit Beweise präsentiert worden, die Capa vom Vorwurf der „Fälschung“ entlasten sollten. Und mit ebensolcher Regelmäßigkeit sind diese Beweise zerpflückt worden.
So akzeptierte die Gemeinde der „Capa-Verteidiger“ um dessen Bruder Cornell und seinen Nachlassverwalter Richard Whelan 1995 nur allzu gerne die Behauptung eines Amateurhistorikers aus dem valenzianischen Alcoy, er wisse, wer der unbekannte Milizionär auf dem Foto sei: der Anarchist Federico Borrell García, Kriegsname ‚Taino‘, der 1936 mit einer Kolonne valenzianischer Milizionäre in die Schlacht vor Córdoba gezogen sei. Ein bereits mehrfach preisgekrönter Dokumentarfilm von Hugo Doménec und Raúl M. Riebenbauer, der im vergangenen Jahr in Spanien präsentiert wurde, machte diesem Märchen ein Ende: ‚Taino‘ sei zwar in der Tat im Herbst 1936 zu Tode gekommen – aber nicht so, wie Capas Foto es darstelle.
Nun legt Susperegui durch Bildvergleiche nahe, dass „The Falling Soldier“ nicht, wie bisher angenommen, im andalusischen Cerro Muriano aufgenommen worden sei, einem kleinen Dorf nördlich von Córdoba, sondern in Espejo, 50 Kilometer weiter südöstlich, in der Nähe von Castro del Río. Dort allerdings habe es Anfang September 1936, als Capa und seine Lebensgefährtin und Kollegin Gerda Taro die Region bereisten, keine Kampfhandlungen gegeben. Die Front verlief anderswo.
María Dolores de Massana, Vorsitzende der spanischen Sektion von „Reporter ohne Grenzen“, machte angesichts dieser neuen Vorwürfe aus ihrer Empörung keinen Hehl: „Wir Journalisten dürfen die Glaubwürdigkeit nicht verlieren. Er [Capa] war ein großartiger Fotograph, aber was er getan hat, war keine Jugendsünde.“ (SZ, 20. Juli 2009)
Wie wirklich ist die Welt der Fotos?
Es muss an dieser Stelle gar nicht darum gehen, zu diskutieren, ob Suspereguis Belege stichhaltig sind oder nicht.
Man darf allerdings bezweifeln, ob an Capas Foto tatsächlich die gleichen Maßstäbe angelegt werden sollten wie an einen journalistischen Bericht.
Denn an Informationen vermittelt „The Falling Soldier“ eigentlich gar nichts. Capas Foto ist eine Chiffre oder, genauer gesagt, ein Zeichen: Es ist zum Symbol des Untergangs der II. Republik im Spanischen Bürgerkrieg geworden, aber darin erschöpft sich seine Wirkung nicht. Die massive politische Anklage, die das Bild enthält, erschließt sich gerade nicht durch Tagesaktualität oder irgendeine Art von pressetauglicher Information.
Fotos bilden Wirklichkeit nicht einfach ab. Sie erschaffen sie mindestens ebenso sehr: durch den Ausschnitt, den sie präsentieren, durch die Art ihrer Darstellung und Bearbeitung, durch die Emotionen, die sie wecken, und den kulturellen Kontext, den sie abrufen.
„Für Bilder ist es ein Leichtes, sich gegen Worte durchzusetzen und die Besinnung kurzzuschließen“, schreibt der Kommunikationsforscher Neil Postman. Man mag Capa vorwerfen, dass er (zweifellos mit Absicht) den vorgeblichen Schnappschuss als einen Höhepunkt seines fotographischen Wirkens und Handelns herausgestellt und gut vermarktet hat. „The Falling Soldier“ ist zu einem tragenden Baustein des „Mythos Robert Capa“ geworden: eines Fotographen, der sein Leben für einen guten „Schuss“ aufs Spiel setzte und selbst das Unsichtbare, Unsehbare – den Tod – noch habe sichtbar machen können. „Wir sind besonders enttäuscht, zu erfahren, dass Fotos gestellt wurden, wenn sie intime Höhepunkte festhalten, allen voran die Liebe und den Tod“, schreibt Susan Sontag in einem brillanten Essay über die Kriegsfotographie mit dem Titel „Regarding the pain of others“ [‚Das Leiden anderer betrachten‘]. In einem fort von „Fälschung“ zu zetern, offenbart jedoch ein (im Zeitalter von Photoshop) besonders bedenkliches Missverhältnis zur Fotographie.
Vom Dokument zur Kunst
Denn es war gerade Capas Fähigkeit als Fotokünstler, die „The Falling Soldier“ aus der Tagesaktualität heraushob und bis heute relevant macht. „The Falling Soldier“ ist die Bild gewordene politische Parteinahme Robert Capas für die Sache der Republikaner im Kampf gegen die putschenden Militärs. Man wird Capa kaum Unrecht tun, wenn man unterstellt, dass ihm in Spanien politisches Engagement ebenso wichtig war wie sachliche Berichterstattung – wenn nicht gar noch wichtiger. „Der Spanische Bürgerkrieg bot Capa eine erste Gelegenheit, den Totalitarismus in den Schützengräben mit einer mächtigen Waffe zu bekämpfen – der Leica“, schreibt sein Biograph Alex Kershaw. Wenn dem aber so war, dann hatte Capa jedes Recht, notfalls auch eine Sterbeszene zu inszenieren, die an Wucht und Wirksamkeit ja in der Tat bis heute nichts verloren hat. Dann war Robert Capa eher parteiischer Künstler als Reporter; ein Künstler, der sich in einem neuen, noch ungewohnten Medium – der Kriegsfotographie, die er auf einzigartige Weise prägen und entwickeln sollte – artikulierte. Einem Künstler vorzuwerfen, dass er die Wirklichkeit in seinem Sinne gestaltet, würde wohl niemandem einfallen.
„Die Auswirkungen der Technik“, analysiert der Medientheoretiker Marshall McLuhan, „zeigen sich nicht in Meinungen und Vorstellungen, sondern sie verlagern das Schwergewicht in unserer Sinnesorganisation oder die Gesetzmäßigkeiten unserer Wahrnehmung ständig und widerstandslos. Der ernsthafte Künstler ist der einzige Mensch, der der Technik ungestraft begegnen kann, und zwar nur deswegen, weil er als Fachmann die Veränderungen in der Sinneswahrnehmung erkennt.“ Capas Stärke, so der kommunistische Dichter Louis Aragon, habe in seinem „scharfe[n] Gespür“ dafür gelegen, „was die Phantasie beflügelt“.
Der in den 1930er Jahren weit verbreitete Irrtum, ein Schnappschuss könne nur das Gegenteil von künstlerischer Bildgestaltung sein, und die programmatische Trennung von Kunst und Dokument, wie sie die (vor allem US-amerikanischen) Dokumentarfotografen vollzogen, stärkten den Authentizitätsanspruch der Fotografie – und machten sie so zu einem äußerst wirkungsvollen Medium politischer Agitation. Künstlerische Gestaltung setzte gleichzeitig Widerstand gegen Sinnentleerung und Deutungsbeliebigkeit – gerade bei einem Foto, das den Betrachtenden ja meist so gut wie keine zusätzlichen Informationen lieferte.
Francisco de Goya und Robert Capa
Es ist an der Zeit, das bisher Gesagte an einem Beispiel zu verdeutlichen. Denn die ungebrochene Wirksamkeit von „The Falling Soldier“ liegt in der Tat auch darin, dass das Foto – keineswegs zufällig, wie man ohne allzu großes Risiko wird annehmen dürfen – auf einen kulturellen Kontext anspielt, der für seine politische Aussage von Bedeutung ist. Wohl niemand, besäße er auch nur rudimentäre Kenntnisse der spanischen Kunst- und Kulturgeschichte, kann „The Falling Soldier“ betrachten, ohne an Francisco de Goyas berühmte „Desastres de la Guerra“ [‚Die Schrecken des Krieges‘], vor allem aber an sein Gemälde „El 3 de mayo de 1808 en Madrid: los fusilamientos en la montaña del Príncipe Pío“ [‚Der 3. Mai 1808: Die Erschießungen auf dem Príncipe Pío‘] zu denken – ein Gemälde, dass die Erschießung spanischer Aufständischer durch die Soldaten Napoleons zum Gegenstand hat.
Capas Foto isoliert die Figur jenes Mannes, der bei Goya in der linken Bildhälfte mit erhobenen Armen im Gedränge verzweifelter Menschen steht und nur vom Licht der Hinrichtungslaterne – grausige Umkehrung des von den Franzosen in Spanien erhofften „Lichtes der Aufklärung“ – hervorgehoben wird, in der Leere des spanischen campo. Die helle Kleidung, die Haltung des rechten Armes, die Position des fallenden Milizionärs innerhalb der Bildkomposition, der Winkel des Lichts – alles deutet darauf hin, dass die Verweise des Fotos auf das Gemälde mehr gewesen sein könnten als bloßer Zufall.
Damit aber setzt das Foto einen Deutungsprozess in Gang, der sich vom Dokumentarischen löst. Man könnte sagen: In Capas Foto fällt der Schuss, den die wie eine Mordmaschine aufgereihten französischen Soldaten bei Goya erst im Begriff sind abzugeben. In beiden Bildern – Foto wie Gemälde – geht es um den Widerstand der spanischen Bevölkerung gegen „fremdländische Invasoren“.
Diese Parallele mag angesichts eines Bürgerkriegs zunächst verblüffen. Tatsächlich aber gehörte es zu den Verfahren der republikanischen Propaganda (auch der AnarchistInnen), den Spanischen Bürgerkrieg nicht als „Bürgerkrieg“, sondern als „Krieg zur nationalen Befreiung“ darzustellen, in dem erneut eine fremde Invasionsstreitmacht zurückgeschlagen werden müsse (Deutsche, Italiener, „Mauren“, „Unspanier“). Der Madrider Volksaufstand vom 2. Mai 1808 gegen die napoleonische Soldateska und die sich ihm anschließende sogenannte „Guerra de la Independencia“ [‚Unabhängigkeitskrieg‘] waren – neben der spanischen Reconquista – häufig herausgestellte Verweise auf eine angeblich unbeugsame Widerstandskraft des „wahren Spaniers“, seines Bedürfnisses nach Freiheit und Unabhängigkeit. „The Falling Soldier“ konstruiert also eine historische Kontinuität.
Das Foto setzt die Aktion des Goya-Gemäldes fort. Auf diese Weise aber erhält es einen ungeheuer dringlichen Aufforderungscharakter – nicht zuletzt dadurch, dass der Schuss (mehr oder weniger) aus der Richtung des Betrachters fällt: von dort also, wo bei Goya die Franzosen stehen. Das mit Bedacht namenlose Opfer ist nicht länger „nur“ Sinnbild der II. Republik im Kampf gegen die Truppen der Putschisten, der es eilends zu helfen gelte. Es wird zur Verkörperung des Schicksals der spanischen Bevölkerung schlechthin, immer wieder – von der Welt allein gelassen – einen Kampf ausfechten zu müssen, der alle freiheitsliebenden Menschen angeht. Der fallende Milizionär wird zum Symbol einer akut gefährdeten Menschheitshoffnung. Wer die Anspielungen des Fotos auf das Gemälde bemerkte, dem erschloss sich die ganze Wucht der politischen Anklage Capas: „Deine Passivität, die Passivität Deines Landes, hat diesen Mann getötet! Im Grunde hast Du ihn erschossen!“
Der Tod des Erlösers
Bedenkt man darüber hinaus, dass die weiß gekleidete Figur in Goyas Gemälde durchaus Züge des Erlösers Jesus Christus trägt, wird die agitatorische Wirkung durch künstlerische Gestaltung überdeutlich. Nicht umsonst hat Esperanza Aguirre Gil de Biedma „The Falling Soldier“ eine „universelle Ikone“ genannt. „Den Pulsschlag der christlichen Ikonographie in bestimmten Kriegs- und Katastrophenfotos zu spüren, ist nicht bloß eine sentimentale Projektion“, stellt Susan Sontag fest.
Zeigt das Foto, als Dokument betrachtet, nichts als einen uniformierten Menschen, der in vollem Lauf von einer Kugel getroffen wird, so erschließt sich eine tiefer gehende politische Aussage durch die künstlerische Bildgestaltung.
Die mittlerweile fast vierzig Jahre andauernden Diskussionen um die Authentizität von „The Falling Soldier“ könnten immerhin, trotz aller Missverständnisse und aller kaum berechtigten Empörung über den angeblichen „Betrug“ Capas, ihr Gutes haben. Sie können helfen, sich auf den Anspruch einer vorgeblich rein mechanisch abgebildeten Wirklichkeit in der Fotographie nicht länger bedenkenlos einzulassen. Denn wer meint, eine solche Missdeutung fotographischer Bilder liege längst in der Vergangenheit, der unterschätzt sicherlich den Einfluss einer medial verschobenen Weltwahrnehmung in den reichen Ländern – und die Macht der Bilder.
Anmerkungen
Der Hispanist und Literaturwissenschaftler Martin Baxmeyer forscht an der Uni Münster zur anarchistischen Poesie des Spanischen Bürgerkriegs. Mit Bernd Drücke und Luz Kerkeling hat er 2004 das Buch "Abel Paz und die Spanische Revolution. Interviews und Vorträge" im Verlag Edition AV (Frankfurt/M.) herausgegeben.