antifaschismus

Freiheitssinn

War Arminius am Ende gar ein Linker?

| Rüdiger Haude

"Er war unstreitig Germaniens Befreier." Diesen folgenschweren Satz formulierte vor etwa 1900 Jahren der römische Geschichtsschreiber Publius Cornelius Tacitus über einen gewissen Arminius, Spross einer cheruskischen Häuptlingsfamilie und römischer Ritter, unter dessen Führung eine germanische Koalition im Jahre 9 n. Chr. drei römische Legionen in einen Hinterhalt gelockt und vernichtet hatte.

Als vor 500 Jahren dieser Text des Tacitus wiederentdeckt wurde, begann ein Rummel um diesen Arminius, der bis heute nicht verebbt ist. Arminius wurde sogleich zu „Hermann“ und die römische Abstraktion „Germanien“ wurde in „Deutschland“ übersetzt, das im Übergang zur Neuzeit als kulturelle Einheit gerade im Entstehen begriffen war und einen ruhmreichen Gründungsmythos gut gebrauchen konnte. Die deutschen Humanisten waren begeistert, dass sie ihren überlegenen italienischen Kollegen einmal etwas entgegenzusetzen hatten, und dann auch noch einen Bezwinger Roms!

In der deutschen Geschichte der letzten 500 Jahre hat dieser Impuls die Wahrnehmung des Arminius durchgängig dominiert. „Hermanns“ Schicksal als Nationalist war besiegelt, noch bevor es den modernen Nationalismus als Ideologie überhaupt gab. „Freiheit“ – das war demnach die Freiheit des schicksalhaft zusammengeschmiedeten Kollektivs, der Nation. Sie zu verteidigen, das hieß, sich für Kriege zu rüsten oder sie zu führen.

Lustigerweise musste man dafür ganz schön an Tacitus vorbei lesen. Unmittelbar bevor dieser das Etikett „Germaniens Befreier“ an Arminius heftete, hatte er nämlich noch etwas anderes zur Freiheit geschrieben: „Übrigens hatte Arminius, als er […] nach der Königsmacht strebte, den Freiheitssinn seiner Landsleute gegen sich, und fiel […] durch die Hinterlist seiner Verwandten.“ Der große Feldherr „Hermann“, der die Römer und später auch konkurrierende Germanen im Krieg besiegt hatte, wollte also seinen Ruhm in eine dauernde Herrschaftsposition übersetzen, woraufhin man ihn kurzerhand umbrachte. – Freiheitssinn. Dieser richtete sich also nicht nur gegen die römische Imperialmacht mit ihren Besatzungstruppen, Steuereintreibern und ihrer fremden Rechts- und Eigentumsordnung, sondern auch gegen einheimische Herrschaftsaspiranten. Peinlich für die meisten „Hermanns“-Verehrer. Deswegen wurde diese Passage des Tacitus auch gerne vergessen, gerade im 1871 vereinigten, monarchischen Deutschland.

Dennoch gab es seit den antinapoleonischen „Befreiungskriegen“ im frühen 19. Jahrhundert immer auch eine Lesart der Geschichte, die neben der äußeren Freiheit „der Deutschen“ auch deren innere Freiheit thematisierte. „Hermann“ personifizierte dann allerdings nicht die dialektische Bedrohung der Volksfreiheit, sondern er verkörperte dieses Volk als dessen Allegorie. Auch das Hermannsdenkmal, das von 1838 bis 1875 bei Detmold errichtet wurde, konnte zunächst durchaus antidynastisch gelesen werden. Bei seiner schließlichen Enthüllung war der Denkmalshermann dann aber zum Vorläufer des Kaisers Wilhelm I. mutiert, was anhand bronzener Tafeln, die am Denkmalsunterbau angebracht sind, noch heute überprüft werden kann.

Als das Denkmal im August 1875 enthüllt wurde, mäkelte die Zeitung „Neuer Social-Democrat“, die historische Varusschlacht habe, anders als die Enthüllungsfeiern nahe legten, weder etwas mit „nationaler Bajonettglorifizierung“ zu tun, noch mit „liberaler Gründerwirthschaft“; es habe sich vielmehr um den Sieg einer „aufrührerischen Volkswehr“ gegen ein korrumpiertes Ausbeutervolk gehandelt. Und zur von Arminius angestrebten Königswürde hieß es: „Die deutschen Bauern aber ließen nicht mit sich spaßen; sie, die das Römerjoch abgeschüttelt hatten, wollten sich keinen Staatsstreich gefallen lassen: sie griffen zu den Keulen, und ohne viel Federlesens schlugen sie den Arminius todt“.

Daran hätte man doch diskursiv anknüpfen können. Aber das unterblieb selbst in der Sozialdemokratie. Friedrich Engels machte sich in seiner „Urgeschichte der Deutschen“ zwar über das „kindische“ Hermannsdenkmal lustig, bewunderte aber die Varusschlacht als „einen der entscheidendsten Wendepunkte der Geschichte“, weil mit ihr „die Unabhängigkeit Deutschlands von Rom ein für allemal entschieden“ gewesen sei. Der versuchte „Staatsstreich“ interessierte ihn dabei nicht. Spätere Generationen von Sozialdemokraten überließen das historische Terrain gänzlich der Rechten.

Diskursiv umkämpft blieb „Hermann“ vor allem in Gestalt seiner dramatischen Bearbeitung durch Heinrich von Kleist. Dieser hatte unter dem Eindruck der napoleonischen Besatzung 1808 „Die Hermannsschlacht“ geschrieben, mit dem ausdrücklichen Ziel, seine Landsleute zum Krieg gegen die Franzosen aufzustacheln. Dieses Stück strotzt nur so vor Amoralität. „Hass“ und „Rache“ sind seine Leitbegriffe, und seine Kernbotschaft lautet, dass im Befreiungskrieg alles erlaubt sei – jede List, jede Heimtücke, jede Brutalität – nur kein Mitgefühl. Auch deswegen dauerte es ein halbes Jahrhundert, bis die „Hermannsschlacht“ uraufgeführt wurde. Seine große Zeit hatte dieses Drama zwischen 1871 und 1945, mit deutlichen Spitzenwerten bei der Zahl der Inszenierungen am Vorabend des Ersten Weltkriegs (1913) sowie am Beginn des „Dritten Reichs“ (1933/34) – zu Zeiten also, wo der Verrohungsaufruf Kleists den deutschen Eliten besonders plausibel erschien.

Am hundertsten Todestag Kleists 1911 konnte dieser im „Vorwärts“ noch zum Klassenkämpfer stilisiert werden, dessen Hermann das bequeme Bürgertum beschäme und das „verräterische Schacherspiel“ der Potentaten geißele. Die Aufführungspraxis sprach eine andere Sprache; so sehr, dass das Stück nach 1945 lange als unaufführbar galt. Die erste Inszenierung in Deutschland nach dem Ende der Nazi-Diktatur fand 1957 im Harzer Bergtheater in Thale, in der DDR, statt. Wie früher die imperialen Römer auf die Franzosen der Gegenwart bezogen worden waren, so mussten sie in dieser Aufführung als Allegorie der US-Amerikaner herhalten, welche den Westen Deutschlands „besetzt“ hielten.

Im Westen selbst fand die erste Nachkriegs-Inszenierung der „Hermannsschlacht“ 1982 in Bochum statt. Klaus Peymann stilisierte darin Kleists „Hermann“ zum Guerillero. Statt eines Flügelhelms setzte er ihm eine Baskenmütze auf, so dass er an Ché Guevara erinnerte. „Ich sehe“, sagte Peymann über Kleists „Hermannsschlacht“, „tatsächlich in ihr so etwas wie das Modell eines Befreiungskrieges mit allen Widersprüchen“. Ähnlich hat man am Ende des 20. Jahrhunderts in der wissenschaftlichen Literatur vereinzelt versucht, Kleist mit Frantz Fanon zu lesen. Jan Philipp Reemtsma hat darauf hingewiesen, dass der Guerillero, als Partisan, durch die Absolutsetzung seines Ziels und der daraus folgenden Absolutsetzung der Feindschaft stets einer äußeren Beschränkung des erlaubten Verhaltens ermangelt: Die Verrohung lauert auf Schritt und Tritt. (Allerdings ist mir nicht geläufig, dass „regulär“ Kämpfende von solchen Trends verschont blieben.)

Heute ist Arminius als „Che-Rusker“ dem entpolitisierenden Merchandising ebenso verfallen wie der echte Ché. Im Siebdruck-Image, schwarz auf Rot, kann man sich das Konterfei des Denkmal-Hermanns samt Flügelhelm applizieren, als T-Shirt, Button, Autoaufkleber usw.

Man muss über diese Profanisierung des linken Cheruskers keine Tränen vergießen. Denn die jüngere linke Diskussion über „Hermann“ darf nicht verwechselt werden mit einer Diskussion über den historischen Arminius. Geschweige denn über die Cherusker (oder gar „die Germanen“). Das entscheidende Skandalon, dass diese ihren Kriegshelden nicht König werden ließen (so jedenfalls Tacitus), wird noch immer gemieden wie das Weihwasser vom Teufel. Dass diese „Germanen“, wie die römischen Autoren über sie zu berichten wussten, „Barbaren“ waren, das lässt man kampflos die Rechten ausschlachten, die mit dem Barbarischen die zügellose Gewalt und die Hochschätzung des Krieges assoziieren. Man könnte aus den Schilderungen des Tacitus über die germanischen Barbaren aber auch schließen, dass die Staatsentstehung bei diesen noch nicht sehr fortgeschritten war – dass es zwar eine Art Proto-Adel gab, das politische System aber darin bestand, wie Max Weber über die altgermanische Sozialverfassung der Cherusker zu Tacitus‘ Zeiten schrieb, dass „alle politischen Verhandlungen öffentlich unter Mitwirkung aller Freien“ stattfanden. Diese Leute wussten also, was sie zu verlieren hatten, wenn sie ihrem Kriegshelden erlaubt hätten, König zu sein.

Das ist eine Geschichte von der Ablehnung von Herrschaft.

Aber in der Linken ist schon lange niemand mehr auf die Idee gekommen, diese Cherusker für die Tradition der Herrschaftsablehnung zu reklamieren.

Stattdessen lässt man Neonazis (z.B. bei einer Demo in Osnabrück im März dieses Jahres) davon schwadronieren, die Varusschlacht habe einen zweitausendjährigen Kampf „gegen Überfremdung“ begründet (übrigens sehr lustig, wenn man bedenkt, was germanische Völker einige Jahrhunderte später in der Völkerwanderung so angestellt haben). Welches Konzept von „Freiheit“ diese Weltsicht hervorbringt, hat der Nazi-Schriftsteller Hjalmar Kutzleb 1934 in einem Hermanns-Roman seinen Helden bündig formulieren lassen. Über seine Landsleute sagt Kutzlebs Hermann: „Sie haben zu gehorchen. Was ihnen die Römer beibrächten, wenn wir ihnen dienten, das sollen sie ihren Fürsten und Führern auch leisten können. Droht ihnen den Strick an den Hals, wenn sie Torheiten machen!“

Deutsche Antifas riefen im März 2009 dazu auf, man solle die hermanns-betrunkenen Nazis „wegrömern“, und versahen auf ihrem Logo die rote Flagge mit der imperialen römischen Abkürzung „SPQR“. Als Provokation der Rechten vielleicht ganz drollig; aber müssen wir uns jetzt wirklich mit einem Weltreich – dem Zielpunkt aller Herrschaftsakkumulation – identifizieren, wenn wir gegen Nazis sind? – Arminius war sicher kein Linker. Aber seine Cherusker muss man ebensowenig den Rechten überlassen wie alle anderen „Barbaren“, „Wilden“ oder „Primitiven“.