Anarchistische Gedanken und Gesellschaftsmodelle haben mich schon früh überzeugt, da sie allen Freiraum und Unterstützung bieten, gerecht und direkt wirken, sich immer neu an Bedürfnissen anpassen und daher sehr naheliegend scheinen.
Dennoch waren es oft Einflüsse vom Rande anarchistischer Bewegungen oder aus nicht anarchistisch identifizierten Theorien und vor allem Praxen, die meine Vorstellungen von Anarchie konkretisiert und meine Begeisterung immer wieder neu bestätigt haben. Einflüsse aus Punk, politischen Kommunen, Gestalttherapie, Queertheorie, Mehrfachbeziehungen, Kunst im öffentlichen Raum, Antipädagogik, soziologischen Organisationskonzepten wie Buddy-Systemen und in letzter Zeit besonders Gewaltfreier Kommunikation (GFK) bestätigen mich nicht nur darin, dass die Grundkonzepte des Anarchismus für mich der Weg und das Ziel sind.
Sie helfen mir zudem zu verstehen, worin die Enttäuschungen meiner Erwartungen an anarchistische Bewegung begründet liegen (welche meiner Bedürfnisse sind z.B. bei Dominanzverhalten oder Zynismus einzelner „Anarchist_innen“ nicht erfüllt?) und wie ich mir anarchistische Praxis vorstellen und aneignen kann.
„Gewaltfreie Kommunikation ist doch eigentlich der wahre Anarchismus“, sagte ein von mir geschätzter Kenner der Gewaltfreien Kommunikation halb scherzhaft in einer Diskussion um die Gefahr von „Ismen“.
Marshall B. Rosenberg, der Entwickler der GFK, benutzt das Wort Anarchie nie in diesem Kontext, wohl auch weil er Zuschreibungen und Bezeichnungen wie „du bist Frau, Anarchist_in, … wir sind …, das ist anarchistisch, ungerecht …“ ablehnt, da sie es erschweren, mit anderen Menschen in Verbindung zu kommen. Trotzdem gibt es viele interessante Parallelen.
Was sagt also GFK zu anarchistischen Konzepten wie Herrschaftsfreiheit, Bedürfnisorientierung und Konsens und wie konkretisiert sie diese Prinzipien zu möglichen Handlungsoptionen, um jetzt weitgehend anarchistisch zu leben?
GFK ist gelebte Anarchie?
Rosenberg sieht Wolfssprache, d.h. bedürfnisentfremdete (oder „lebensentfremdete“ in GFK-Ausdrucksweise) Sprache, als ein Herrschaftsinstrument. In dieser Sprache gibt es statt des Bewusstseins für Bedürfnisse ein von fremdbestimmten Autoritäten festgelegtes „gut“ und „böse“.
Dies und durch Amtssprache ausgedrückte, Verantwortung verschleiernde angebliche Sachzwänge tragen dazu bei, Herrschaftsstrukturen weiter zu verfestigen. (Trotz dieser Analyse und Herrschaftskritik kooperiert Rosenberg mit Instanzen der Herrschaft und baut im Sinne der GFK eigene Feindbilder gegenüber Funktionsträger_innen ab, um z.B. Unterstützung für Schulen nach seinem Konzept oder die Erlaubnis zur Arbeit mit Gefangenen zu bekommen.)
Weiterhin stellt Rosenberg fest, dass neben dem „du sollst“ auch das „ich sollte“ („Wolf nach innen“) nicht nachhaltig funktioniert, da „der Mensch nicht als Sklave geeignet ist“.
Organisationen beurteilt er danach, ob sie „dem Leben dienen“, das heißt, bedürfnisorientiert sind. Um zu vermeiden, dass Treffen von (Polit-)Gruppen im Nachhinein als wenig effektiv wahrgenommen werden, regt Rosenberg an, dass jede Person, die einen Punkt einbringt, zugleich sagt, was ihr daran wichtig ist, also welches Bedürfnis sie damit erfüllen möchte.
Bedürfnisse sind Kern und Schlüssel der GFK, die Gewalt als das Erfüllen eigener Bedürfnisse auf Kosten anderer definiert. Die Art und Weise, wie über Bedürfnisse kommuniziert wird und Gefühle als wichtige Signale für diese Bedürfnisse geschätzt werden, hilft mir, eine konkrete Vorstellung von bedürfnisorientiertem anarchistischem Leben zu bekommen.
Die im Rahmen der GFK angewandten Techniken wie aktives, empathisches Zuhören, Präsenz in der Kommunikation mit den Teilnehmenden im Jetzt (statt beispielsweise bei vergangenen schlechten Erfahrungen) und die Frage „was ist in Dir lebendig?“ können anarchistische Konzepte von Solidarität, Konsensprinzip und Bezugsgruppen, bei denen ebenfalls die Bedürfnisse einzelner Gehör finden, bereichern.
Auch das positive Menschenbild anarchistischer Bewegungen konkretisiert sich für mich in dem der GFK: „Was immer ein Mensch getan hat, es erschien dieser Person als die aktuell beste Strategie der Bedürfnisbefriedigung.“
Das bedeutet, davon auszugehen, dass Menschen nicht aus böser Absicht, sondern nur aus der Unkenntnis einer Handlungsoption, die ihre Bedürfnisse erfüllt und gleichzeitig meine nicht verletzt, so handeln wie es meinen Bedürfnissen zuwider läuft. Daraus folgt, wie in anarchistischen Ansätzen, dass nicht Strafe, sondern gemeinsames Lernen und Aneignen von Fähigkeiten weiter hilft. Wenn bei unerfüllten Bedürfnissen akute Gefahr besteht (z.B. Bedürfnis nach Sicherheit für eine_n Mitreisende_n, die_der körperlich angegriffen wird) und keine Möglichkeit zur Kommunikation besteht, so ist nach GFK der „schützende Einsatz von Macht“, der auch mit körperlicher Gewalt verbunden sein kann, möglich. Die Unterscheidung dieser Macht von solcher, die mit der gewaltfreien Grundhaltung nicht vereinbar ist, erfolgt analog zur Unterscheidung defensiver und aggressiver Grenzen in der von anarchistischen Kreisen rezipierten Antipädagogik.
Durch das „Beobachten statt Bewerten“ und die Wertschätzung der Bedürfnisse aller Beteiligten in der GFK wird ein allgemeingültiges, von oben gesetztes „richtig“-„falsch“, „legal“-„illegal“ widersinnig. Die logische Folge davon sind aus meiner Sicht anarchistische freie Vereinbarungen.
Was nicht auf diese Weise beschlossen oder durch Bedürfnisse begründet ist, kann so leicht als ein angeblicher Sachzwang und Versuch der Ausübung von Herrschaft entlarvt werden. Sachzwänge gibt es in der GFK nicht.
Sie geht davon aus, dass jede Person immer mehrere Entscheidungsmöglichkeiten (z.B. die „vier Ohren“, also Giraffenohren nach innen, Giraffenohren nach außen, Wolfsohren nach innen, Wolfsohren nach außen) hat und daher selbstbestimmt entscheiden kann, wie sie re_agieren möchte. Während mir in anarchistischer Literatur nie so ganz klar wurde, wie „Verantwortung“ darin konkret gedacht wird, bietet GFK ein relativ klares Konzept an: Verantwortung kann ich nur für das übernehmen, auf das ich antworten kann (im Englischen: response-able).
Ich übernehme also Verantwortung für meine Gefühle und Bedürfnisse, für die ich selbstbewusst eintrete, und damit für mein Handeln. GFK verhindert es, mein Handeln anderen anzulasten und es damit zu entschuldigen. Es ist nicht die „Schuld“ einer Autorität, wenn ich mich arrangiere, sondern es ist mein Bedürfnis z.B. meinen Lebensunterhalt zu sichern.
Diese Anerkennung meiner Verantwortung für mein Handeln ist Bedingung, um es zu ändern. Amtssprache ist das Gegenteil.
Trotz des Interesses an der Befindlichkeit der mich umgebenden Menschen, empathischen Verbindungsaufbaus und Gewaltfreier Kommunikation kann ich jedoch nie endgültig beeinflussen, wie das von mir Gesagte beim Gegenüber ankommt.
Es kann also nicht meine Verantwortung sein, für das Wohlbefinden anderer zu sorgen.
Bedürfnisse sind laut GFK nicht personengebunden (ich kann ein Bedürfnis nach Unterstützung haben, der Wunsch nach Unterstützung durch Person X ist jedoch eine Strategie).
Dies im Bewusstsein zu verankern, vermindert die Gefahr emotionaler Sklaverei und des Entscheidens über andere. Bitten sind in der GFK Geschenke, weil sie der Empfängerin der Bitte ermöglichen, das Leben der Bittenden etwas schöner zu gestalten. Das Geschenk kann natürlich auch abgelehnt werden. Ein „Nein“ als Antwort auf eine Bitte heißt, dass in der Person, die die Bitte gehört hat, gerade ein starkes Bedürfnis aktiv ist, das sie hindert, das Geschenk anzunehmen. Damit ist das „Nein“ wieder ein Geschenk an die Bittende, die nun wiederum die Chance hat, das Bedürfnis des Gegenübers zu erfüllen.
Der/die GFKler_in ist dabei immer darauf bedacht, dass Bitten nicht aus Schuldgefühlen, Gefallen Wollen, Unterordnung, Angst oder ähnlichem erfüllt werden, sondern nur, weil die erfüllende Person dies wirklich selbst will. In dieser Haltung entsteht eine „jeder nach ihren Bedürfnissen“-Atmosphäre, in der nicht mehr aufgerechnet werden muss und die Unterschiede zwischen Geben und Nehmen zunehmend verschwinden.
Kritik annehmen und voneinander lernen?
Aus anarchistischer Sicht besteht bei Teilen der GFK-Aktivitäten die Gefahr, vermittelnde statt akzeptierende Konfliktanalyse zu betreiben. Unter „vermittelnd“ verstehe ich hier nicht nur die Vermittlung zwischen zwei Konfliktparteien, sondern häufig damit verbunden auch die Vermittlung von Herrschaft als legitimer Struktur. Akzeptierende Konfliktanalyse dagegen anerkennt stark widersprüchliche und im System unüberwindbare Gegensätze in Herrschaftsstrukturen, für die sie keine gemeinsame Bedürfnisebene finden will.
Die GFK geht davon aus, dass über den Schlüssel der Bedürfnisse auch zu Menschen auf höheren Herrschaftsebenen Verbindung aufgebaut werden kann. Selbst wenn dies gelingt, beängstigt mich dieser Ansatz aus unterschiedlichen Gründen: Zum einen kommt bei diesem auf die Person und deren Bedürfnisse beschränkte Sicht der Blick auf die dahinter liegenden strukturellen Ursachen und Herrschaftsverhältnisse, die ähnliche Konflikte immer wieder hervorbringen werden, zu kurz. Zum Anderen ist das Herstellen von Verbindung mit einer Person in höheren Herrschaftsebenen in der Regel ein Akt der Akzeptanz der Legitimität dieser Position.
Ähnliches kann, denke ich, zur Selbstklärung nach GFK gesagt werden, wenn sie das Eingebundensein in Herrschafts- und Unterdrückungssysteme nicht mitdenkt und damit die Schwierigkeit bis Unmöglichkeit des „zuerst mit sich selbst klar Werdens“ in einer umgebenden, in sich widersprüchlichen Struktur nicht sieht. Für bedenklich halte ich auch das bei einigen GFKler_innen beobachtete „da müssen noch viele Feindbilder abgebaut werden“ gegenüber Menschen, die starke Unterdrückungs- oder Gewalterfahrungen haben, denn das Nicht-Anerkennen der individuell erlebten Gewalt kann schlimmstenfalls zu Retraumatisierung führen.
Was können Anarch@s von der GFK-Bewegung lernen?
Neben Anregungen aus den oben genannten konkreten Realisierungen anarchistischer Prinzipien ist dies meiner Meinung nach vor allem die Anerkennung des sich im Prozess Befindens, des noch nicht perfekt und schon gar nicht „im Recht“ Seins. Obwohl das „Fragend schreiten wir voran“ schon weite Verbreitung gefunden hat, gibt es meiner Beobachtung nach noch genügend Situationen, in denen „man das so nicht sehen kann“, mit „wer so was macht, ist entweder verwirrt oder bürgerliche Linke“ beurteilt wird oder mensch lieber gar nichts sagt, aus Angst, sich „falsch“ oder „not pc“ zu verhalten.
Obwohl die Diskurse um das postanarchistische „Fallenlassen der Repressionshypothese“ (Herrschaft wird nicht nur durch Repressionsorgane ausgeübt, sie ist vielfach verinnerlicht) und Definitionsmacht im Antisexismuskontext dazu beigetragen haben die dichotome Täter_in/Opfer-Aufteilung zu hinterfragen, hat sich dies aus meiner Sicht nur in einigen Teilen der anarchistischen Bewegung durchgesetzt.
Dies mag an der Angst, „nicht im Recht zu sein“, dem Unwillen, sich mit den Beweggründen der „Feindbilder“ auseinander zu setzen, oder dem Fehlen von „safer spaces“, also Räumen und Menschen in bzw. mit denen respektvolle und empathische Kommunikation üblich ist, liegen. Die Haltung der GFK ermöglicht durch „Beobachten statt Bewerten“ empathisches Zuhören und Kommunikation über Gefühle und Bedürfnisse das Abbauen von Feindbildern, in Kontakt Kommen und Verständigen mit Personen, die eine Grenze verletzt oder ein Bedürfnis missachtet haben, ohne die eigenen Gefühle und Bedürfnisse zu missachten und ohne weiter Feindbildern zu huldigen.
GFK-Treffen enden gewöhnlich mit einer „Feiern und Trauern“-Runde in der jede_r Teilnehmer_in sagt, wie es ihm/ihr mit dem Treffen (oder was anderes Bewegendes aus dem Leben) gegangen ist. In den anarchistischen Gruppen, die ich kennen gelernt habe, kommen die Reflexionen der gemeinsamen Tätigkeit und die damit verbundenen Gefühle zu kurz, was die gemeinsame Weiterentwicklung erheblich erschwert. Statt Trauer („ich bin genervt, weil ich Unterstützung bei … brauche“) ist Zynismus und Jammern („Da passiert ja doch nichts“), also das Zurückfallen in die eigentlich zu dekonstruierende passive Opferrolle zu beobachten.
Anarch@s danken nicht. Danken erinnert oft an das manipulative „Das hast Du aber schön gemacht“ aus entfremdeten Zusammenhängen und erscheint bei selbstbestimmter Tätigkeit nicht angebracht.
Was dabei verloren geht, ist die gegenseitige Wertschätzung für das, was die einzelnen tun. Die GFKler_innen drücken Wertschätzung und Anerkennung routiniert mit Hilfe einer Variante der vier Schritte aus: „Du hast … getan. Das löst Freude/Erleichterung/… in mir aus, weil mir … wichtig ist“.
Perspektiven für anarchistische Praxis?
Die nicht unumstrittene Sapir-Whorf-Hypothese besagt, dass Sprache Einfluss auf das Denken und damit das Handeln hat. Unabhängig davon können die beschriebenen Ansätze der GFK anarchistische Praxis bereichern, für die „Anwesenheit des Ziels in den Mitteln“ sorgen. Es erscheint mir wichtig, sich jetzt emanzipatorische Fähigkeiten anzueignen und herrschaftsfreie Kulturen und Strukturen aufzubauen, weil ich jetzt ein Bedürfnis nach Selbstbestimmung, Gemeinschaft, Gesehen Werden, Beitragen können und Unterstützung habe und nicht in der Haltung des Opfers auf eine ferne Revolution, in der sich Herrschaftsverhalten möglicherweise wiederholen wird, warten will.
In Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ werden Gefühle als systemgefährdend von den Herrschenden möglichst unterbunden. Viele Techniken anarchistischer Praxis wie Mitbestimmung, flache Hierarchien und Kooperation in kleinen Projektgruppen haben ihren Weg in den Mainstream des Kapitalismus gefunden.
Vielleicht ist die gewaltfreie bedürfnisorientierte Aufrichtigkeit der GFK etwas, was nicht nur die Kommunikation in herrschaftsfreien Kontexten bereichern kann, sondern beim Versuch der Aneignung durch Herrschaftsstrukturen zur Erzielung eines angenehmeren Betriebsklimas dessen eigene tiefe Widersprüchlichkeit zu Tage fördern könnte.
Anmerkungen
Seminarhinweis: Politik jenseits von Feindbildern. Gewaltfreie Kommunikation, 25.9., 19.30 - 21 Uhr, 26.9. & 27.9., jeweils 10 - 17.30 Uhr. Veranstaltungsort: Berlin Mitte. Weitere Infos und Anmeldung: Reinhard Schänke, Tel. 030-85401500, Email: r.schaenke@t-online.de