Der Bundesverband der Zeitarbeitsfirmen (BZA) schrieb jüngst in einer gegen die IG Metall gerichteten Pressemitteilung: „Die IG-Metall […] sollten ihr Bild von einer modernen Arbeitswelt grundlegend überdenken. Hier werden Schlachten von vorgestern geschlagen. Klassische Lebensläufe mit unbefristeten Vollzeitarbeitsverhältnissen über 40 Jahre im gleichen Unternehmen sind längst vorbei und werden von den Beschäftigten selbst nicht mehr gewünscht. Vor allem auch im Sinne der Arbeitnehmer sollte sich die IG-Metall einem flexiblen Arbeitsleben, das erst eine stetige persönliche Weiterentwicklung möglich macht, nicht verschließen. Statt die Zeitarbeit zu verteufeln, sollten die Gewerkschaften – gemeinsam mit den Arbeitgebern – die legitimen Bedürfnisse der Beschäftigten nach sozialer Sicherheit und Anerkennung mit dem ebenfalls vorhandenen Wunsch nach flexibler Lebens- und Karriereplanung verbinden.“ (1)
Der BZA hat da leider in einigen Punkten recht. Natürlich gibt es das 40jährige Vollarbeitsverhältnis nicht mehr – auch, weil es nicht gewollt war.
Die Leiharbeitsbranche kann heute gegen die traditionellen Gewerkschaften mit den Interessen einer alternativen Szene argumentieren.
Das ist die individuelle Wirkung des Neoliberalismus. Mögen sene ökonomischen Konzepte auch angesichts der globalen Wirtschaftskrise im Abschwung sein, an der Ideologie werden wir noch lange zu knacken haben.
Der vorliegende Sammelband der Gruppe Blauer Montag zeigt, wie es dazu kommen konnte.
Eine Reflexion der eigenen Involviertheit in den Kapitalismus fand in der Linken spätestens seit den frühen 1990ern kaum statt. Man erklärt sich solidarisch mit MigrantInnen, thematisiert seine ‚Männlichkeit‘ im Geschlechterdiskurs, engagiert sich gegen Nazis und für „Tierrechte“, aber vernachlässigt seine eigene ökonomische Involviertheit in den Kapitalismus und betrachtet sich nicht mehr als Bestandteil des Systems.
Dass dem Kapitalismus das oft gelegen kam, wie im vorliegenden Band beschrieben, wird nicht gesehen. Dass im Zuge einer Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse der „Freak“ dem Kapitalismus Anfang der 1980er brauchbarer war als der „Gastarbeiter“ mit Familie, also gerade der linke Lifestyle integrierbar war, fällt nicht auf. Der spezialisierte ITler konnte gerne in der Kommune wohnen, konnte dort auch ausschlafen, hat aber sein Projekt dann auch bis spät in die Nacht betreut.
Der Kapitalismus hat seit den 1970er Jahren damit einen historischen Verhandlungskompromiss geschaffen, an dem kaum eine Gewerkschaft beteiligt war: Wir geben die gewünschte Flexibilität im Tausch gegen soziale Sicherheit. Die vermeintlich größere Freiheit wurde gewährt gegen einen realen Lohnabzug. Kohle gegen Zeit, so funktioniert der Kapitalismus. Daran hat sich seit Marx nichts geändert. Und die Lifestyle-Linke hat damit zum neoliberalen Duktus beigetragen. Kaum jemand hat gemerkt, dass das immer noch Klassenkampf ist und dass der scheinselbstständige ITler, Layouter oder Schreiberling genauso zum Proletariat gehört wie die Industriearbeiterin im Blaumann am Band.
Das komplexe Wechselverhältnis zwischen dem anpassungsfähigen Kapital, dem nationalen Wettbewerbsstaat und der produktiven Arbeit ist ein relevantes Thema des Sammelbandes. Hervorheben möchte ich die Frage nach dem Umgang damit in einer sogenannten „linken Szene“ bzw. zumindest in einer sich selbst so verstehenden Klassenlinken. Das erste Thema – der Wandel des Kapitalverhältnisses – hängt dabei unmittelbar mit dem zweiten zusammen.
Am deutlichsten wird dies im dokumentierten Gespräch „Auch mit Solidarität kannst du Pleite machen“ (S. 166 – 174). Der neoliberale und (post)moderne Wandel des Kapitalismus intendiert viele verschiedene Weisen des Umgangs aus dieser Klassenlinken. Die Gründung von Kollektiven im Sinne einer solidarischen Ökonomie gehört genauso dazu wie die prekäre Selbstständigkeit oder die Bemühung, Karriere in der Wissenschaft zu machen. Vom Standpunkt der gemeinsamen kapitalistischen Verwertbarkeit ist es insofern durchaus legitim, von einem neuen „Prekariat“ zu sprechen.
Dankenswerterweise verzichtet die Gruppe Blauer Montag weitgehend auf diesen Begriff – impliziert er doch erstens ein vermeintliches neues ‚revolutionäres Subjekt‘, wo keines ist, und spaltet er zweitens in die neu Proletarisierten und die traditionellen ProletarierInnen.
Der Begriff wird gerade von Intellektuellen gerne im Munde geführt, die ein neues Subjekt suchen, damit eine Homogenität zwischen der polnischen Putzfrau und dem deutschen Promovierenden implizieren und sich dann wundern, dass erstere nicht bei dem ‚Euro-MayDay‘ auftaucht.
Auch hier wirkt das, was der BZA in der zitierten Pressemitteilung ausdrückt: Es ist ein Unterschied um das Ganze, ob man schlecht bezahlte Arbeit annimmt, weil man sonst keine bekommt, oder aber, weil man sich die eigene Flexibilität – für eine Promotion, die politische Aktion oder Treffen mit FreundInnen – erhalten möchte. Der Ansatz „Prekariat“ geht ferner davon aus, dass die Vollzeitbeschäftigten gerne bis zum 65. oder 67. Lebensjahr arbeiten würden und man selber ganz ‚anders‘ sei.
Daraus entstehen regelmäßig Konflikte innerhalb der Klassenlinken. Nach der Tätigkeit in der Leiharbeitsklitsche freut sich der Grafikdesigner, endlich ein schwarz-rotes Plakat, das er inhaltlich wichtig findet, bezahlt für ver.di statt unbezahlt für die anarchosyndikalistische FAU zu layouten, und der CallCenter-Agent kungelt mit dem Professor, um zu dozieren statt zu telefonieren.
Regelmäßig sorgt das für Konflikte in einer vermeintlichen ‚Szene‘. Irgendjemand hat immer zu viel Engagement in seine Karriere gesteckt, statt dies einem gewählten oder eingebildeten Kollektiv zur Verfügung zu stellen. Der Gruppe Blauer Montag gebührt der Verdienst, diese Vorgänge in den beschriebenen Gesamtzusammenhang gestellt zu haben.
In Organisationen wie diesen, die eine über Jahrzehnte geführte Debatte reflektieren und dennoch keinen Abstand von einer linken Alltagspraxis nehmen, überwintert die Revolution.
Gruppe Blauer Montag: Risse im Putz. Autonomie, Prekarisierung und autoritärer Sozialstaat, Assoziation A, Berlin/Hamburg 2008, ISBN: 978-3-935936-72-9, 192 Seiten, 14 Euro