Die Frage gehört zu den kleinen Rätseln der Zeitgeschichte: Warum war der Anarchismus ausgerechnet in Spanien zu Beginn des 20. Jahrhunderts so einflussreich wie in keinem anderen Land der Erde?
Große und machtvolle anarcho-syndikalistische Bewegungen gab es schließlich auch anderswo: z.B. in Argentinien, in Frankreich, in Deutschland.
Aber nur in Spanien war seit der Mitte des 19. Jahrhunderts der Anarchismus die dominierende Strömung innerhalb der Arbeiterbewegung, und er blieb es bis zum blutigen Untergang der Republikanerinnen und Republikaner im Spanischen Bürgerkrieg (1936-1939).
Es ist im Laufe der Jahre viel Tinte über diese Frage geflossen. Nicht nur Anarchistinnen und Anarchisten, sondern auch weltberühmte Historiker wie Américo Castro wollten lange Zeit im Anarchismus so etwas wie die rebellische Substanz des „wahren Spaniers“ gespiegelt sehen: seinen übersteigerten Individualismus, seine unbedingte Freiheitsliebe und – warum nicht? – seine angeborene Gewalttätigkeit.
Die aktuelle Forschung mag von solch essentialistischen Formeln nicht mehr viel wissen.
Sie weist lieber auf das (relative) Scheitern des spanischen Staates hin, sich im 19. Jahrhundert als soziale Ordnungsmacht zu etablieren und dadurch ärmere Schichten in das Projekt einer „nationalen Gemeinschaft“ einzubinden.
Andere sehen in der unmittelbaren Handlungsaufforderung des Anarchismus sein eigentliches Erfolgsgeheimnis: Das Elend in den spanischen Arbeitervierteln und (vor allem) auf dem Lande sei einfach zu groß gewesen, als dass irgendeine Ideologie hätte verfangen können, die die Armen dazu aufforderte, mit dem Umsturz zu warten, bis die Wirtschaft einen bestimmten Entwicklungsstand erreicht habe. All dies ist zweifellos richtig – aber genügt es zur Erklärung des bemerkenswerten Siegeszugs des Anarchismus in Spanien?
Der schottische Anarchist Stuart Christie stellt in seinem (eher durchwachsenen) Buch über die Federación Anarquista Ibérica [‚Iberische Anarchistische Föderation‘] (FAI) fest: „Der Anarchismus zog die Aufmerksamkeit eines wesentlichen Teils der spanischen Arbeiterbewegung auf sich, weil er Werte, Lebensweisen und soziale Beziehungen spiegelte und artikulierte, die an der Basis der spanischen Gesellschaft existierten.“ So einfach war das? In der Tat: So einfach könnte es gewesen sein…
Die Gemeinschaft der Armen
Spanien ist bis heute, vor allem in seinen zentralen und südlichen Regionen, ein hartes und unwegsames Land – „la piel del toro“ [‚Die Haut des Stieres‘], wie die Spanierinnen und Spanier sagen. Unwirtliches Klima und extreme Armut machten es früh nötig, dass sich Menschen zusammenschlossen, um zu überleben. Die Regeln des Zusammenlebens waren darauf ausgerichtet, den Fortbestand der Gemeinschaft zu sichern. Es entwickelte sich, mit dem britischen Historiker Edward P. Thompson gesprochen, eine „moralische Ökonomie“, in der zum Beispiel individuelle Bereicherung auf Kosten anderer ein todeswürdiges Verbrechen sein konnte – schlicht, weil es das Überleben der anderen gefährdete. Solche Strukturen sind nichts typisch Spanisches, und zur Klärung der oben genannten Frage trägt ihre Existenz zunächst wenig bei: In Griechenland etwa, in dem die Lebenssituation der Landbevölkerung in vielem der Spaniens glich, blieb der Anarchismus bis ins 20. Jahrhundert hinein nur eine Randerscheinung.
Dennoch bildeten diese Strukturen gleichsam den Boden, in dem der Anarchismus in Spanien Wurzeln schlagen konnte. Denn schon im 18. Jahrhundert entwickelten sich unter der armen Bevölkerung kollektive Strukturen, die kaum oder gar keine Berührung mit der Staatsgewalt hatten; Notgemeinschaften, die man sich keinesfalls als idyllische Veranstaltungen vorstellen darf.
Der Überlebenskampf auf dem Land blieb auch im 19. Jahrhundert mörderisch – nicht zuletzt unter den Mitgliedern der Gemeinschaft selbst; vielleicht gerade, weil die kulturellen „Codes“, die das Zusammenleben der Menschen bestimmen sollten, überlebenswichtig waren. José García Pradas, während des Bürgerkriegs verantwortlicher Redakteur der Gewerkschaftszeitung CNT und 1910 in der Region Castilla y León geboren, erinnerte sich 1973 an den „colectivismo agrario [‚Agrarkollektivismus‘], […] den ich in meinem heimatlichen Valle de Losa – im Norden der Provinz Burgos – gesehen habe, als ich ein Kind war. Mir wurde klar, dass man dort ohne diese Grundlage gar nicht leben konnte“.
Vom sich entwickelnden Nationalstaat hatten das verarmte Landproletariat und die an Zahl nun stetig zunehmenden Industriearbeiter in Sevilla, Barcelona, Valencia oder Bilbao wenig Hilfe zu erwarten – und das nicht allein aus mangelndem Willen. Ende des 19. Jahrhunderts von einem ausländischen Journalisten befragt, wie weit sein Einfluss reiche, führte ein spanischer Minister ihn auf die Straße vor dem Ministerium, wies auf den Rinnstein und sagte: „Bis dorthin“. Die beiden einzigen landesweit funktionierenden Einrichtungen in Spanien waren, so der Historiker und Soziologe Santos Juliá, jahrzehntelang die katholische Kirche – und die Guardia Civil. Unter diesen Umständen verwundert es wenig, dass sich auch in den Industriestädten der Peripherie, wie Pere Gabriel nachgewiesen hat, im proletarischen Milieu solidarische Strukturen entwickelten, die neben den staatlichen bestanden und – das Industrieproletariat entstammte ja zum großen Teil den armen ländlichen Regionen – in vielem dem comunismo agrario des Südens glichen. „Ich verstand sehr gut den Satz, den meine Mutter ständig wiederholte“, erinnert sich der Anarchist Joan Ferrer: „‚Wenn wir, die Armen, uns nicht helfen, dann hilft uns niemand‘.“
Gegenseitige Hilfe als Überlebensgrundlage
Die solidarische Art des Zusammenlebens setzte in keiner Weise ein politisches Bewusstsein voraus – geschweige denn eine sozialrevolutionäre Gesinnung. Sie war eine tägliche Notwendigkeit, eine Regel, an die man sich hielt und die bei Verstößen Sanktionen nach sich ziehen konnte. Der Anarchismus bestätigte und politisierte eine Kultur, die seit langem Bestand hatte und zu ihrem Fortbestehen seiner eigentlich gar nicht bedurfte.
Ein Erfolgsgeheimnis des Anarchismus in Spanien wird gewesen sein, dass er der armen Bevölkerung gerade nichts spektakulär Neues mitzuteilen hatte. Er veränderte und erweiterte „nur“ den Horizont, vor dem sie ihr tägliches Leben wahrnahm. Dass er, als ideologische Option, wie man so schön sagt, „zur rechten Zeit am rechten Ort war“, mag in der Tat nichts weiter gewesen sein als ein historischer Zufall. Die Tatsache aber, dass er sich in Windeseile auch und gerade in Teilen der Bevölkerung verbreiten konnte, die (noch) nichts mit intellektueller Reflexion oder politischen Umtrieben zu schaffen hatten, lässt sich mit bloßem Zufall nicht erklären.
Die arme Bevölkerung Spaniens erkannte die Ziele des Anarchismus in ihrer gelebten Praxis wieder. Warum hätte sie – meist kaum gebildet und mit nur sehr begrenzten Kenntnissen über die Zustände im übrigen Spanien (zumal auf dem Lande) – zum Beispiel Zweifel daran haben sollen, dass ihr Modell des solidarischen Miteinander auch anderswo und in größerem Maßstab funktionieren konnte? Es hatte sich in ihrer comunidad doch bewährt…
Betrachtet man die Struktur des Zusammenlebens in den Arbeitervierteln Barcelonas oder einzelnen ländlichen comunidades genauer, so fällt auf, wie viel von dem, was die Anarchistinnen und Anarchisten als revolutionäre Ziele formulierten, dort – aus bitterer Not geboren – bereits umgesetzt wurde: Gegenseitige Hilfe, Gütergemeinschaft, soziale Absicherung, „Verbot“ von Ausbeutung und übermäßiger Bereicherung.
Federico Arcos, der seine Kindheit im proletarischen Barcelona verbrachte, erinnert sich an den Zusammenhalt seines Viertels im Krankheitsfall: „Wenn jemand krank wurde – es gab ja weder Krankenversicherungen noch sonstige Hilfen – kam ein Nachbar, der etwas Geld gespart hatte, und legte es auf den Tisch. Es gab keine Verträge, keine schriftlichen Vereinbarungen, nicht einmal einen Händedruck. Wenn der Kranke dann wieder zu Kräften kam und zur Arbeit gehen konnte, zahlte er das Geld zurück, Céntimo für Céntimo. Das war einfach eine Sache des Prinzips und der Moral.“
Claude G. Bowers, während der II. Republik und des Bürgerkriegs US-Botschafter in Spanien und alles andere als ein Freund der Anarchisten, erzählt in seinen Memoiren: „In Südspanien fragte ich einen Freund, warum so viele anständige Bauern der Region Anarchisten seien. ‚Ich glaube, ich kann es mir denken‘, sagte er. ‚Diese Leute sind entsetzlich arm und ungebildet, aber freundlich und hilfsbereit. Wenn die Brotkiste des einen leer ist, macht ein Nachbar seine auf. Sie kommen aufs Freundlichste miteinander aus. Sie haben den Eindruck, dass, würde man sie nur in Frieden lassen, sie keinerlei Probleme hätten. Aber die Regierung erläßt Gesetze, die ihnen das Fischen verbieten. Die Guardia Civil setzt diese Gesetze rücksichtslos durch. Andere Regierungen verbieten ihnen ihre Produkte, unter dem einen oder anderen Vorwand, und schließlich kommen sie in ihrem einfachen Gemüt zu dem Schluss, dass sie glücklicher wären, wenn es keine Regierung gäbe‘.“
„Und wer erzieht die Kinder..?“
Selbst die Rolle der Frau unterschied sich von jener in der den Anarchisten so verhassten bürgerlichen Ehe. Der Gender-Forscher Robert W. Connell hat darauf hingewiesen, dass durch ökonomischen Zwang im historischen (und gegenwärtigen) Arbeitermilieu – trotz eines zuzeiten aggressiv herausgestellten Männlichkeitsgebarens – faktisch mehr progressive Experimente mit Alternativen zur traditionellen Rollenaufteilung zwischen Mann und Frau vorgenommen wurden als in bürgerlichen Familien. Connell spricht wörtlich von „[…] der wirtschaftlichen Logik, die gleichberechtigten Haushalten zugrundeliegt“. Die in einem solchen Milieu Heranwachsenden machten also unter Umständen ganz konkrete Erfahrungen mit „starken Frauen“ und „alternativen Erziehungsmethoden“.
Die anarchistische Forderung (höchst halbherzig umgesetzt) nach einer Emanzipation der Frau hatte für sie nichts Abwegiges oder Phantastisches. War eine Familie beispielsweise so arm, dass beide Elternteile arbeiten mussten, war an Kindeserziehung im „herkömmlichen Sinne“ nicht zu denken. Stattdessen entwickelten sich wiederum kollektive Strukturen: „Es gab so etwas wie die universale Familie“, erinnert sich Aurora Molina, ehemalige Aktivistin der Mujeres Libres: „In den Arbeitervierteln machten wir es so, dass wir abwechselnd auf die Kinder aufpassten […].„
Ironischer weise waren es während der 1970er Jahre gerade die alternden spanischen Anarchafeministinnen, die von Experimenten wie kollektiver Erziehung und Auflösung der Familie rein gar nichts wissen wollten. Die Sozialstrukturen waren in diesem Fall sogar fortschrittlicher als die revolutionäre Ideologie.
Der Fluch der Solidarität
Unter diesen Umständen verwundert es wenig, dass das vielleicht schwerwiegendste Vergehen, das die anarchistische Bewegung während der 1930er Jahre kannte, jenes der Entsolidarisierung mit kämpfenden Genossinnen und Genossen war. Sie lebte von der Solidarität. Ihre Strukturen waren auf sie angewiesen, zumindest dort, wo nicht, wie in den Gewerkschaftssektionen der CNT, noch andere, verbindliche Regeln bestanden.
1934, während der „spanischen Oktoberrevolution“, wurde Francisco Ascaso, immerhin ein Drittel des berühmten „Kleeblatts“ (mit Buenaventura Durruti und Juan García Oliver) und damals Sekretär des katalanischen Regionalkomitees der CNT, aus dem Amt gejagt, weil ein von ihm beauftragter Bote (!) in einer Radioansprache den revolutionären Streik in Asturien für illegitim erklärt hatte. Umgekehrt nutzten militante Gruppen (wie „Los Solidarios“ [‚Die Solidarischen‘] oder „Nosotros“ [‚Wir‘]) geschickt den „moralischen Kodex“ der Bewegung und brachten die CNT mit gewalttätigen Aktionen in Zugzwang, die schwerste staatliche Repressionen zur Folge hatten.
Sich einfach von diesen Gruppen zu distanzieren, kam für die Spitze der CNT nicht in Frage – auch wenn sie es gelegentlich vielleicht gerne getan hätten.
Solidarität, ohnehin ein Grundwert der Arbeiterbewegung, war für die Anarchistinnen und Anarchisten zum konstitutiven Merkmal ihrer Bewegung geworden: Sie vertrauten weit mehr den individuellen Qualitäten des Einzelnen als einer Organisationsstruktur, die Menschen zu bloßen Funktionsträgern „herabwürdigte“ und das freiwillige Miteinander durch Regeln bestimmen wollte.
Als nach dem Sieg Francos der bewaffnete Widerstand gegen das neue Regime zunahm, offenbarte sich dies in der Art, wie Kommunisten und Anarchisten ihren Kampf organisierten. Wer zum klandestinen Netzwerk der Kommunisten gehörte, kannte von seinen Kontaktleuten in der Regel nur die Decknamen.
Sonst wusste er, gehörte er nicht zum eng begrenzten Führungskreis, nichts. Fiel er der Polizei in die Hände, konnte er, selbst unter Folter, nichts verraten. Die anarchistischen Gruppen dagegen setzten sich häufig aus Aktivistinnen und Aktivisten zusammen, die sich seit ihrer Kindheit kannten. Schlugen Kommunisten über diese „Unverantwortlichkeit“ die Hände über dem Kopf zusammen, pflegten die Anarchisten zu antworten: „Verrätst Du einen Freund?“.
Solidarität hatte für Anarchistinnen und Anarchisten nichts Abstraktes. Als politische Forderung war sie die Ausweitung ihres gelebten Miteinanders auf die Gesellschaft; der Wandel einer (über)lebenswichtigen Notlösung zur sozialen Utopie.
Dass ein solcher Wandel nicht ohne weiteres möglich ist, dass die Anarchistinnen und Anarchisten für ihr Menschenvertrauen einen hohen Preis bezahlen mussten und dass das Fehlen verbindlicher Regeln zu heillosem politischen Wirrwarr führen konnte, braucht hier nicht diskutiert zu werden. Es mag allerdings sein, dass die Existenz kollektiver, solidarischer Strukturen – und mit ihnen einhergehend einer Vielzahl von kollektiven Identitäten lange vor dem Aufkommen des Anarchismus – ihre Rolle dabei gespielt hat, dass diese, und nicht irgendeine andere Strömung, die revolutionäre Arbeiterbewegung in Spanien prägte wie nirgends sonst.^
Anmerkungen
P.S.: Die Literaturangaben zu dem oben stehenden Essay wären für eine Zeitung zu umfangreich gewesen. Wer sich für sie interessiert, möge sich bitte an die Redaktion der GWR wenden. Ich werde sie ihr bzw. ihm dann gerne zuschicken.
Anm. d. Red.: Der Hispanist und Literaturwissenschaftler Martin Baxmeyer forscht gegenwärtig an der Uni Münster zur anarchistischen Poesie des Spanischen Bürgerkriegs. Gemeinsam mit Bernd Drücke und Luz Kerkeling hat er 2004 das Buch "Abel Paz und die Spanische Revolution. Interviews und Vorträge" (Verlag Edition AV, Frankfurt/M.) herausgegeben.