Mit den Büchern seiner „theorie.org“-Reihe möchte der Schmetterling-Verlag nach eigenen Angaben sowohl dem „neu erwachenden Interesse an theoretischen Grundlagen linker Politik als auch dem Bedürfnis nach Reflexion politischer Praxis“ Rechnung tragen: „Die Autorinnen und Autoren nähern sich ihrem Gegenstand sachlich, nüchtern und ohne Nostalgie, aber stets mit emanzipatorischem Anspruch. Dabei verpflichten sie sich einem hohen Maß an Verständlichkeit. ‚theorie.org‘ arbeitet die zentralen Themen linker Debatte kritisch auf, fasst Resultate zusammen und versucht zentrale Gedanken für die Zukunft festzuhalten. Die Reihe bietet fundiertes Überblickwissen, will Orientierungshilfe geben und Perspektiven aufzeigen.“
Diesen Anforderungen wird das 2006 in dieser Reihe erschienene Buch „Anarchismus. Eine Einführung“ von Hans Jürgen Degen und Jochen Knoblauch gerecht.
Mein Eindruck, den ich damals beim Lesen des Werks gewonnen habe, war, dass hier zwei verdiente Autoren des Anarchismus eine nüchtern formulierte Auftragsarbeit abgeliefert haben, der es nicht an Sachlichkeit, aber an Herzblut, Witz und Originalität mangelt.
Für ältere AnarchistInnen findet sich in dem Buch wenig Neues. Vieles, was wichtig gewesen wäre, kommt nicht vor. Und ob ein Einführungsband zum Anarchismus, der nicht enthusiastisch rüberkommt, Menschen überzeugen kann, darf bezweifelt werden.
Dabei geht es auch anders, wie z.B. die spannenden Texte in dem 2007 von Achim von Borries und Ingeborg Weber Brandies herausgegebenen Sammelband „Anarchismus. Theorie, Kritik, Utopie“ und der im gleichen Jahr erschienene Prachtband „Anarchie! Idee – Geschichte – Perspektiven“ von Horst Stowasser beweisen.
Solche Bücher begeistern für die Idee einer herrschaftslosen Gesellschaft und für die libertäre Praxis der Gegenseitigen Hilfe.
Anknüpfend an „Anarchismus. Eine Einführung“ erschien im Mai 2009 im Schmetterling Verlag der von Knoblauch und Degen herausgegebene Sammelband „Anarchismus 2.0“.
Meine Erwartungshaltung war diesmal nicht so übertrieben hoch wie beim Vorgänger-Buch. Und ich muss sagen: Diese Textsammlung ist absolut lesenswert!
Ein großes Lob an die Herausgeber. Die Rüffel aus der libertären Szene, die es 2006 an dem für meinen Geschmack etwas zu blutleeren Einführungsband gegeben hat, führten nicht dazu, dass sich Knoblauch und Degen beleidigt in die Schmollecke zurückzogen.
Stattdessen sind sie mit der Kritik konstruktiv umgegangen.
Ein Beispiel: Jens Kastner hat „Anarchismus. Eine Einführung“ im Oktober 2006 in den Libertären Buchseiten (GWR 312) verrissen und u.a. das Ausblenden des Zapatismus kritisiert.
Daraufhin haben Degen und Knoblauch ihn eingeladen, seinen zuvor exklusiv in der Graswurzelrevolution veröffentlichten Artikel „Ist der Zapatismus ein Anarchismus?“ für den „Anarchismus 2.0“-Band zu aktualisieren, was er getan hat.
Ein solch souveräner und kreativer Umgang mit Kritik ist in libertären Kreisen keine Selbstverständlichkeit. Allzu oft führen kritische Rezensionen dazu, dass die Kritisierten die RezensentInnen und die Zeitung, in der die Kritik veröffentlicht wurde, für ewige Zeiten mit dem Bannstrahl der Verachtung oder gar der Abokündigung strafen. Gelegentlich entstehen in diesem Zusammenhang sogar neue Verschwörungstheorien.
Aber zurück zum Thema. Die unterschiedlichen AutorInnen und Beiträge machen „Anarchismus 2.0“ abwechslungsreich. Nicht alle Artikel sind mitreißend, aber es kommt keine Langeweile auf. Die Beiträge neutralisieren in gewisser Weise die inhaltlichen Schwächen von „Anarchismus. Eine Einführung“.
Eine Kritik daran war, dass dort Anarchosyndikalismus, Gewaltfreier Anarchismus, Anarchafeminismus und „Postanarchismus“ nur unzureichend bzw. gar nicht beschrieben werden.
In „Anarchismus 2.0“ findet sich nun ein Beitrag von FAU-Aktivist Hansi Oostinga zum „Anarchosyndikalismus“, Wolfram Beyer (IDK Berlin) widmet sich dem Thema „Gewaltfreier Anarchismus“ und Friederike Pfaff beschreibt aktuelle Entwicklungen des Anarchafeminismus.
Ulrich Klemm breitet sein Lieblingsthema „Anarchismus und Pädagogik“ aus, Gerhard Senft beleuchtet den oft unterbelichteten Themenkomplex „Anarchismus und Ökonomie“ und Elisabeth Voß wirft einen Blick auf die Geschichte und Gegenwart alternativer Praxis: „Arbeit und Leben: Wohnprojekte, Kommunen, Genossenschaften“.
Der Anarchismusforscher Hans Jürgen Degen fasst in dem Artikel „Anarchismus in Deutschland (1945-1968)“ seinen Forschungsschwerpunkt prägnant zusammen. Daran knüpft Rolf Raasch mit seinem Text zum Thema „Neo-Anarchismus: 1968 und die Folgen“ an.
Lesenswert sind auch Jochen Knoblauchs Exkurs „Von bolo’bolo zu KraftWerk1“, Anja Kraus‘ Beitrag über indigene Frauen im bolivischen Aymara, „Anarchismus und Internet“, sowie Maurice Schuhmanns Annäherung an eine anarchistische Kulturtheorie.
Besonders gefreut habe ich mich über Ralf Landmessers „Neue Soziale Bewegungen: Von der Alternativszene bis Attac“. Er hat von 1983 bis 2000 Jahr für Jahr den großartigen schwarz-roten Kain Kalenda produziert und nichts von seiner erfrischenden Schreibe eingebüßt. Wie er in seinem Artikel kenntnisreich die regionalen Eigenheiten verschiedener libertärer Szenen und das jeweilige Umfeld analysiert, ist entzückend.
Wenig überraschend war dagegen Jürgen Mümkens „Postanarchismus“-Artikel, der den vielen Tippfehlern zum Trotz durchaus lesenswert ist.
Erstaunt hat mich, dass ich dort als „Traditionalist“ geschmäht werde, der sich und seine „Ideen immer von dem Neuen bedroht“ sieht.
Aha? Das war mir bisher neu.
Auslöser für Mümkens Klage war meine ironisch formulierte Kritik an dem m.E. irreführenden Begriff „Postanarchismus“. Diese findet sich von der Redaktion zusammengekürzt in einem Interview in der Jungle World Nr. 35 vom 30. August 2007.
Auch wenn ich den Begriff „Postanarchismus“ nach wie vor als missverständlich empfinde, weil viele damit einen von den Begriffschöpfern nicht gemeinten „Nach-Anarchismus“ assoziieren werden, halte ich die Auseinandersetzung mit dem Thema „Postmoderne“ und „Poststrukturalismus“ für sinnvoll. Der Begriff „Anarchismus“ muss jedoch nicht als „traditionalistisch“ entsorgt werden, nur weil nicht alles, was AnarchistInnen in den letzten 170 Jahren von sich gegeben haben, richtig war.
Gegen „Anarchismus in der Postmoderne“ habe ich nichts einzuwenden. Das klingt im Gegensatz zu „Postanarchismus“ nicht wie eine klammheimliche Distanzierung vom Anarchismus. Schließlich ist der Anarchismus im Gegensatz zum Marxismus keine festgefahrene Ideologie, die ihre alten TheoretikerInnen zu Säulenheiligen verklärt. Der Anarchismus ist eine freiheitlich-sozialistische Weltanschauung.
Und das Buch „Anarchismus 2.0“ ist eine prima Lektüre, ein wichtiger Beitrag, der die libertäre Theoriebildung voranbringen kann.
Oder, um hier sinnentstellend den üblen Anarchismushasser Lenin zu zitieren: „Lesen! Lesen! Lesen!“
Hans Jürgen Degen / Jochen Knoblauch (Hg.): Anarchismus 2.0. Bestandsaufnahmen. Perspektiven. Schmetterling Verlag, Stuttgart 2009, 320 Seiten, ISBN 978-3-89657-052-9, 14,80 Euro