Im Oktober 2009 haben GWR-Koordinationsredakteur Bernd Drücke und GWR-Praktikant Christoph Krebber im Studio des Medienforums Münster eine zweiteilige, 110minütige Radio Graswurzelrevolution-Sendung zum Thema "20 Jahre 'Wende' in der DDR" produziert, die im November im Bürgerfunk auf Antenne Münster (95,4 Mhz) ausgestrahlt und anschließend auf www.freie-radios.net dokumentiert werden soll. Telefonisch aus Berlin zugeschaltet war Wolfgang Rüddenklau (* 1. Mai 1953 in Erfurt). Wir drucken das Interview mit ihm in einer redaktionell bearbeiteten Version (GWR-Red).
Bernd Drücke (BD): In den 80er Jahren hat Oberstleutnant Zeiseweis von der Bezirksverwaltung Berlin eine Akte über unseren Interviewpartner angelegt.
Ich zitiere: „R. [Rüddenklau] ist zweifellos ein eingeschworener Feind unserer Gesellschaft, insofern ist eine Zielstellung, Straftaten gemäß §§ 219 oder 220 StGB nachzuweisen, ein Verniedlichen der feindlichen Grundposition des R. ; wir sollten alles unternehmen, den Staatsfeind R. zu enttarnen und zu beweisen.
R. und seines gleichen lassen sich schwer einsperren. Unser erstes Ziel sollte sein, ihn als Feind politisch unwirksam zu machen. Seine Machtambitionen, Herrschsucht, Anarchistische Position, Unbeherrschtheit, Homo- oder Bisexualität, Desinteresse an Umweltfragen usw. bieten Angriffspunkte gegen ihn.“
Hallo Wolfgang.
Wolfgang Rüddenklau (WR): Hallo.
Bernd Drücke (BD): Das ist ein Hammerzitat. Gefunden habe ich es im Internet, wo sich einiges zu deiner Person findet und wo du auch eine eigene Homepage – www.belfalas.de/wolfgang.htm – hast. Zeiseweis war kein Mitarbeiter des Verfassungsschutzes, sondern der Staatssicherheit der DDR, der Stasi. Wolfgang Rüddenklau war in den 80er Jahren Redakteur der Umweltblätter und später des telegraph. Das waren die wichtigsten Oppositionsblätter in der DDR. Er ist außerdem Mitbegründer der Umweltbibliothek, die ein wichtiger Treffpunkt und ein Mobilisationsort der basisdemokratischen Oppositionsbewegung in der DDR war.
Wolfgang, wie wurdest du zum „eingeschworenen Feind unserer Gesellschaft“ und zum „Staatsfeind“?
Wolfgang Rüddenklau (WR): Das fing früh an. Ich war Sohn eines evangelischen Pfarrers.
Das war in der DDR dann natürlich der Sohn des „Staatsfeindes“, weil die Religion ja, wie Marx es sagte, das „Opium für das Volk“ sei. So war ich die Geisel in der Schule, nachdem sich mein Vater 1961, als wir im Westen waren, entschlossen hatte, in die DDR zurückzugehen, um seine Gemeinde nicht im Stich zu lassen. Das waren mein Bruder und ich, und mein Bruder hat da noch etwas schwerer drunter gelitten als ich. Aber ich habe es eben auch schwer genug gehabt.
Dann kam der Zeitpunkt, wo ich, sozusagen aus meinem Leiden, aus der Situation in der Schule und dergleichen, mir etwas zurechtdenken musste.
Das ist in den 70er Jahren gewesen, nachdem ich zum ersten Mal in der 12. Klasse bei Stasis gewesen war: Ich wurde auf der Autobahn festgenommen. Sie holten mich aus einem Westlaster heraus, mit dem ich getrampt bin. Blöderweise hatte ich Texte von diesem verbotenen Dichter Wolf Biermann dabei. Das war wirklich eine Dummheit. Drei Tage und drei Nächte haben die mich vernommen, vom Karfreitag bis zum Ostersonntag – sehr pikant, in der Untersuchungshaft des Staatssicherheitsdienstes in Erfurt. Ein Riesending und übel, als das Tor da zuging – so ein dumpfer, metallischer Schlag, den man hörte, und da denkt man: „Jetzt biste drinne.“
Das war für mich übel, zugleich aber ein wichtiger Anstoß. Da war dieser Stasi-Mann, der sagte: „Also wissen Sie, was Sie mir hier anbieten so an Positionen, das ist für mich gar nichts, da fang ich gar nicht an zu diskutieren. Das ist doch Blödsinn.“
Das fand ich auch. Ich hatte zunächst nur ein mieses Gefühl bei der ganzen Geschichte.
Dass die Theorie in sich stimmt, das war mir schon irgendwie klar, aber irgendwo war der böse Punkt, und das habe ich dann versucht, in den 70er Jahren herauszukriegen. Ich hatte mir in der Zeit in der Schule und danach einen bösen Ödipus zugezogen, das heißt, ich konnte mit keiner Autorität klarkommen und war von daher aus allen Ausbildungen herausgefallen, nicht nur als Pastorensohn, sondern auch deshalb, weil ich immer widersprechen musste. So habe ich dann in solchen Jobs gearbeitet wie Pförtner, Wachmann und dergleichen, wo man viel Zeit hat zum Lesen – und ich habe immer sehr darauf geachtet, dass ich einen Betrieb hatte, der eine gute Bibliothek hatte -, und mir Sachen zusammengelesen. Es war ja ziemlich viel in Giftschränken in der DDR Sperrliteratur, an die man schlecht herankam, aber man konnte es halt umgehen. Ich habe die ganzen Memoiren gelesen, aus dem 19. Jahrhundert sehr viel, Geschichte der deutschen Demokratie, Anarchismus, Geschichte der russischen Revolution und dergleichen mehr. Dadurch habe ich die Ausgangskenntnisse gehabt, mit denen ich in den 80er Jahren dann diese Zeitschriften machen konnte. Das war sozusagen eine exakte Vorbereitung, ohne dass ich das so genau wissen konnte.
BD: Auf deiner Homepage steht, dass du von Pjotr Kropotkin und Gustav Landauer beeinflusst warst. Gab es in der DDR überhaupt eine Möglichkeit, an Schriften von diesen, von den Staatssozialisten als „kleinbürgerlich pseudorevolutionär“ geschmähten Anarchisten zu kommen? Die waren praktisch als Feinde der autoritären Form des „Sozialismus“ verpönt.
WR: Sie hatten Ende der 40er, Anfang der 50er Jahre eine große „Ausrottungswelle“ gegen die verbliebenen Anarchistinnen und Anarchisten gemacht. Und Anarchismus gab es als Ideologie, als Weltanschauung nicht mehr richtig. Von da her hielten sie das weitgehend für ungefährlich – diese Bücher lagen vergessen in irgendwelchen Archiven herum. Gerade an Landauer und Kropotkin konnte man relativ gut herankommen. Erich Mühsam hatten sie sogar versucht, zur eigenen Figur zu machen. Der hatte ja zum Schluss dann noch in den frühen 30ern die KPD unterstützt und sich da ganz fürchterlich geirrt. Er hat immerhin seine Frau Zenzl gewarnt, auf keinen Fall nach Moskau zu gehen, aber das hat sie dann doch getan. Da war sie dann bis zum Schluss in so einer halben Gefangenschaft. Aber sie haben eben versucht, den Mühsam so umzuschreiben, dass er als eine ihrer Galionsfiguren gelten konnte. Dass man es mit ihm machen konnte, ist traurig.
Gerade Landauer und Kropotkin waren für mich wichtig, aber ich bin auch fasziniert gewesen von dieser deutschen Volkspartei, dem radikalen Flügel der deutschen Demokratie im 19. Jahrhundert, namentlich von einem gewissen Johann Jacoby – ein Königsberger Arzt, der zu verschiedenen Zeiten wichtige Sachen gesagt hat. Beispielsweise 1866 vor dem Norddeutschen Reichstag, dass „die Einheit eines Volkes allein kein so hoher Wert ist, dass sie um jeden Preis umgesetzt werden muss, auf keinen Fall auf Kosten der Freiheit“.
BD: Du hast dann 1986 die Umweltblätter und die Umweltbibliothek mit gegründet.
Kannst du erzählen, wie es dazu gekommen ist, und auch die Geschichte der Umweltblätter darstellen?
WR: Das ist nicht ganz einfach. Da müsste man die Voraussetzungen der DDR kennen. Ich merke es manchmal bei Gesprächen mit Schülerinnen und Schülern, wenn man versucht, es zu erklären. Es gab in den 80er Jahren zunehmend ein paar Freiräume, die unter anderem daher kamen, dass die evangelische Kirche mit der SED einen Vertrag gemacht hatte, der innerkirchliche Druckerlaubnis, Veranstaltungsfreiheit und dergleichen sicherte – sozusagen die einzige unabhängige Institution innerhalb dieses Staates und selbst für Ostblockverhältnisse eigentlich einmalig.
Es haben dann viele aus alten Oppositionskreisen der 70er Jahre, das waren kleine illegale Zirkel gewesen, das Thema gewechselt und sich kirchlichen Friedenskreisen angeschlossen bzw. solche gegründet.
Wir haben das 1984 auch getan und einen Friedens- und Umweltkreis gegründet. Wir hatten von Anfang an vor, die beiden Themen zu verbinden, denn beide sind machtrelevant, beide hängen miteinander zusammen: Frieden wird gestört durch Macht und Umwelt wird zerstört durch Machtausübung. Wir waren dann recht aktionistisch drauf und haben unser Anliegen vor Ort immer recht gut illustrieren können. Wir sind ins Erzgebirge gefahren und haben uns diese für europäische Verhältnisse einmalig schlimmen Verhältnisse dort angeguckt – ganze Wälder, die da bloß noch als so eine Art Streichholzwald standen, also bloß noch die Baumruinen, die hat man gelassen, damit die Erde da nicht runter geschwemmt wird. Dann haben wir uns die Gegend um Bitterfeld mit der Chemie angeguckt – wo dann ein Freund sagte, der da später eine Firma gegründet hat, um das zu beseitigen, das wären Chemiemischungen, die man eigentlich eher auf anderen Planeten erwartet hätte. Alles, was da in der DDR schief lief und weitgehend unbeachtet blieb, haben wir in die Öffentlichkeit gezerrt mit Diavorträgen in kirchlichen Veranstaltungen.
1986 mussten wir dann die Kirchengemeinde wechseln, da es ein Pfarrer geschafft hatte, uns da heraus zu treiben.
Aber wir fanden in der Zionskirchgemeinde einen Pfarrer, den Pfarrer Simon, der sehr viel mehr bereit war, Leute machen zu lassen. Der stellte uns seine Kellerräume zur Verfügung und wir haben dann ein altes Projekt der Opposition verwirklicht – die Umweltbibliothek. Das heißt, wir haben dann die Bücher, die bisher in Privathaushalten verteilt waren – staats- und umweltkritische Bücher, Bücher zu politischen Themen, maßgeblich aus dem Westen -, zusammengeführt und erstmals einer kleinen Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt.
Es gab den Paragraphen „Verbreitung von Schmutz- und Schundliteratur“: Es sind sehr viele Leute, die solche Bücher geliehen oder verliehen haben, die solche Bücher gelesen haben und dabei erwischt wurden, eingesperrt worden. Wir haben versucht, dies unter dem Schutz der evangelischen Kirche zu machen, im Keller dieses Pfarrhauses. Das ist uns gelungen. Wir haben immer auf Öffentlichkeit gebaut.
Dann kam auch diese Zeitschrift dazu. Das hatte ich von Anfang an immer vor – eine Zeitschrift zu machen, die sich natürlich nicht eine solche nennen durfte. Da stand drauf: „Nur zur innerkirchlichen Information“.
Aber durch die Aktion des Staatssicherheitsdienstes wurde das dann nach dem November 1987 DDR-weit bekannt und es wurde dann das Nachrichtenblatt der Opposition (vgl. GWR 340). Eigentlich eine ziemlich verbreitete Angelegenheit, wenn auch eine sehr kleine Auflage. Wir hatten alte Wachsmatrizenmaschinen, mit denen wir das vervielfältigten. Die bringen halt nicht so sehr viel.
Andererseits kann man durch Handarbeit alles das ersetzen, was andere mit viel Geld realisieren müssen. Es war also vergleichsweise billig einerseits, aber relativ geringe Auflagen, andererseits waren die Umweltblätter so begehrt, dass sie landesweit erschienen – jede Ausgabe durfte bestimmt 20 bis 40 Leserinnen und Leser gehabt haben und viele haben es dann mit Schreibmaschinen abgeschrieben, mit so und so viel Durchschlägen, und dann weiterverbreitet. Es war erstaunlich weit verbreitet.
BD: 1986, nach Tschernobyl, habt ihr Strahlenwerte veröffentlicht.
WR: Ja, wir hatten diesen Strahlentelex aus Westberlin, der regelmäßig eingeschmuggelt wurde. Wir hatten es bis 1986 nicht gewagt, das Thema Atomkraft anzupacken. Das war ein heißes Thema, der absolute Sicherheitsbereich des Staates.
Aber nach Tschernobyl gerieten sie mit dem Rücken an die Wand und wir haben dann direkt in der Umweltbibliothek ein Seminar gemacht – „Morsche Meiler“ -, wo wir alle Kenntnisse rund um Atomkraft popularisiert haben, was im Westen an Kenntnissen vorlag, was unsere eigenen Leute hatten, Alternativ-Energien und dergleichen. Das haben wir dann permanent mitgetragen in unserer Zeitschrift.
BD: Du bist gerade schon kurz auf den November 1987 eingegangen. Kann man sagen, dass das, was da passiert ist, die Zeitenwende in der DDR und in der Oppositionsbewegung eingeleitet hat?
WR: Was die Zeitenwende eingeleitet hat, darüber streiten sich die Gelehrten. Es war ein starker Anstoß. 1987 versuchte die Staatssicherheit, uns beim Drucken einer Zeitschrift zu erwischen, die noch illegaler war als unsere, dem Grenzfall.
Das ging dann furchtbar in die Hose: Die sind nachts bei uns eingedrungen und haben uns glücklicherweise nicht beim Drucken des Grenzfall erwischt – weil so ein 14-Jähriger da war, den wir nicht reinziehen wollten. Wir wollten dann später damit anfangen. Damit standen sie sozusagen vor dem Nichts. Der seinerzeitige Generalstaatsanwalt der DDR, Gläsner, meinte später nach der „Wende“ in einem Artikel, es wäre „lieblos ermittelt worden“.
Diese Zusammenstellung fand ich in der Tat erstaunlich.
Die haben also verschiedenes einfach nicht gecheckt. Sie hatten dann zwar die Grenzfall-Maschine gefunden, hatten aber das Ersatzgerät, das dazu diente, die zum Drucken zu bringen, die Druckerschwärzepumpe, vergessen. Die lag dann immer noch im Keller herum. Sie mussten dann feststellen, dass das Ding nicht druckfähig ist.
Das wäre in den früheren Jahren kein Problem gewesen, weil sie nie was nachweisen mussten. Sie konnten einfach immer behaupten und mussten keine Rücksicht nehmen auf westliche Medienmeldungen.
Eben das war plötzlich notwendig. Alle aus den Oppositionsgruppen haben sich in einer Nachtsitzung entschlossen, als wir verhaftet worden waren, auf Öffentlichkeit und Protest zu setzen und auch auf Westmedien. Es gab eine relativ große Resonanz, sowohl in der DDR, wo für DDR-Verhältnisse erstaunliche Aktionen zustande kamen, meistens Mahnwachen, zum Beispiel in der Zionskirche, auch schon kleine Demonstrationen, als auch in den westlichen Medien, deren Unterstützung wir hatten. Die fanden es unverständlich, Leute sozusagen wegen Büchern oder Zeitschriften zu verhaften – sie fühlten sich dann auch ein bisschen mit ihrer Pressefreiheit angesprochen.
Also, das lief gut und schwappte dann auch in die amerikanische Presse herüber.
Das war der Zeitpunkt, wo Honecker nicht mehr mitkonnte. Die Sache war ohnehin in die Hose gegangen, insofern, als eben die Hauptforderung von Mielke, seit die DDR so fürchterlich pleite ging, nämlich westliche Öffentlichkeit zu vermeiden, nicht erreicht worden war. Und als das in die amerikanische Presse herüber schwappte, sah Honecker seinen geplanten USA-Besuch in Gefahr und hat dann persönlich befohlen, dass wir aus der Untersuchungshaft herausgelassen werden. Das dauerte noch ein paar Tage bzw. Wochen, ehe sie auch die Ermittlungsverfahren fallen ließen, aber da doch immer gedroht wurde mit der Fortsetzung der Mahnwachen und das auch wohl relativ glaubwürdig für sie war, haben sie, das Ministerium für Staatssicherheit, tatsächlich in dieser Öffentlichkeit zum ersten Mal eine fürchterliche Niederlage einstecken müssen.
Das war eine Show, als wir dann aus dem Stasi-Knast herauskamen: Für die ARD sind wir vom Gemeindehaus zur Kirche gelatscht, für das ZDF zurück.
Damit war sozusagen vor aller Augen, die DDR-Bürgerinnen und -Bürger guckten alle Fernsehen, klar, dass man ungebrochen da herauskommen kann, dass die keine richtig scharfen Zähne mehr haben, dass die nicht mehr richtig zubeißen können, dass der Kaiser nackt ist.
Das war ein großes Erlebnis für alle und eine Ermunterung für all das, was später passierte.
Das System versuchte immer zurückzuschlagen. Man merkte aber, sie waren aufgrund unterschiedlicher Gründe – wirtschaftliche Situation, Gorbatschow in Russland, der sich auf keinen Fall an der Niederschlagung eines Aufstands beteiligen wollte, innere Lähmung der SED – nicht in der Lage, die Terroraktionen durchzuführen, die sie in früheren Jahren bei solchen Situationen für angemessen hielten.
Wir haben dadurch quasi einen Freiraum bekommen, der von der Öffentlichkeit garantiert war. Wir haben dadurch die Opposition in eine größere Öffentlichkeit führen können und sozusagen Voraussetzungen für die „Wende“ schaffen können.
Christoph Krebber (CK): Ich habe eine Frage zur Umwelt-Bibliothek. Ich habe gelesen, dass die Kellerräume nicht nur als Redaktionsbüro dienten, sondern dass dort auch Künstlerinnen und Künstlern ein Freiraum geboten wurde. Ist das richtig, dass auch Skulpturen oder Bilder ausgestellt wurden?
WR: Das gehörte zum Konzept. Das waren dann nicht nur die Kellerräume, sondern das war ein Gemeinderaum in dieser Zionskirchgemeinde, da machte man dreimal in der Woche die sogenannte „UB-Galerie“. Und da gab es dann Ausstellungen von Künstlern, ziemlich spektakuläres Zeugs, nämlich Sachen, die staatlich unterdrückt waren und keinen Ort fanden. Ich denke da an die Punk-Art-Ausstellung von Ingo Tatschke, wunderschönes Zeug im Raum mit Punk-Art gefüllt, alles auf Packpapier aufgeklebt, die bizarrsten Geschichten.
Wir haben auch Schriftstellern und Dichtern, die ähnliche Probleme hatten und keine Räume fanden, Raum gegeben. Und die Möglichkeit, ihre Sachen vorzutragen, durchaus durchmischter Qualität. Das Problem ist ja, wenn in einem Staat alles verboten ist, was irgendwie staatsfeindlich ist oder zu sein scheint oder was irgendwie aus dem Rahmen herausfällt, dann stellen sich auch alle möglichen Hochstapler ein, die ihre Dinge dann vortragen, unter dem Vorzeichen, dass es verboten ist. Das war dann auch gelegentlich ziemlich mieses Zeug, aber oft auch wirklich gute Dinge.
CK: Das gilt dann wahrscheinlich auch für Musikerinnen und Musiker? Konzerte gab es auch?
WR: Ja.
CK: … Seminare, wie du sagtest.
WR: Damals vor allem Liedermacher, die noch nicht so vergrätzt und unbeliebt waren wie heutzutage. Man konnte sich das durchaus anhören, ohne gleich mit den Augen zu rollen.
Ich habe neulich einen Zeichentrickfilm gesehen, da bestand die Hölle daraus, dass man sich mit einem Liedermacher die Zelle teilen musste. Ich weiß nicht, ob sich an den Liedermachern etwas geändert hat oder an unseren Empfindungen bezüglich solcher Sachen.
BD: Die Umweltblätter haben eine ganz andere Öffentlichkeit, eine Gegenöffentlichkeit hergestellt. Ihr habt schon lange vor der „Wende“ über Naziübergriffe auf Punks, Langhaarige und Vietnamesen in der DDR berichtet, viele Informationen verbreitet, die ansonsten nirgendwo zu finden waren.
WR: Es war eine geradezu ideale Atmosphäre für einen Journalisten. Im Lande wurde unheimlich viel verschwiegen, es war viel verdeckt, aber letztlich ziemlich leicht zu entdecken.
Wir haben das dann veröffentlicht, immer mit einer gewissen Vorsicht. Man musste aufpassen, dass man nicht in die Grube fällt, dass man sozusagen den Bogen nicht überspannt. Aber wir sind dann doch zunehmend frecher geworden und haben die unterdrückten Nachrichten der DDR veröffentlicht.
Das war unser Konzept. Wir wurden sozusagen das Beschwerdebuch des Landes.
Wir haben gar nicht soviel recherchiert, sondern bekamen die Informationen von überall aus dem Lande her, die Leute wollten gerne, dass das und das und das veröffentlicht wird. Und das haben wir dann gemacht. Ein bisschen problematisch vielleicht, weil wir vieles nicht überprüfen konnten. Wir haben immer versucht, Probesonden zu machen. Also, das kennt man, darüber weiß man Bescheid, das ist im Bereich des Wahrscheinlichen, aber ab und zu ist es dann auch mal in die Hose gegangen.
Das war also z.B. diese Situation, als in der „Luxemburg-Affäre“ – als Krawczyk, Klier und viele andere wegen Beteiligung an einer staatsoffiziellen Demonstration zu Rosa Luxemburg mit eigenen Transparenten verhaftet wurden – jemand die Nachricht brachte, in Templin hätte am Stasi-Gebäude gestanden „Freiheit für Krawczyk und Klier“. Und wir haben das auch veröffentlicht. Das stimmte aber nicht, wie sich dann zeigte. Das Blöde war, indem wir das veröffentlicht haben, war das dann so, als hätte es dran gestanden. Die DDR-Medien waren ja absolut unglaubwürdig. Das ist ein merkwürdiger Effekt, der mir ein schlechtes Gewissen gemacht hat, wo dann eine Mutter aus dem Erzgebirge schrieb, die Umweltblätter sind wie eine Mutter, und eine Mutter darf ihre Kinder nicht belügen.
Das ist ein Problem, wenn man in einem zum Schweigen verurteilten Land zu den Wenigen gehört, die die Chance haben, die Wahrheit zu veröffentlichen, dann unterlaufen einem ab und zu Dinge, die peinlich sind. Man ist halt irgendwie in einer Position eines Gottes, kann und will es aber nicht sein.
BD: Wie waren eure Kontakte in den Westen? Kannst du dazu etwas sagen?
WR: Es gab traditionell Kontakte zu verschiedenen unabhängigen Gruppen, die Graswurzler waren die einen. Die Grünen waren eine andere Gruppe, die hatten relativ viele Möglichkeiten, indem die Bundestagsabgeordneten unkontrolliert in den Osten einreisen konnten und ab und zu direkt mit Honecker verhandelten. Dadurch war ein guter Hebel geschaffen worden. Diese Kontakte waren für uns wichtig.
Ab 1988 hatten wir zum Umweltzentrum Münster Kontakt. Die kamen bei uns vorbei. Es gab Beratung und Austausch. „Wie kann man Promotion machen?“, war dann später das Thema, als wir an den Westen angeschlossen wurden. Aber vorher haben wir uns über verschiedene, jeweils eigene, sowie gemeinsame Probleme unterhalten und ausgetauscht. Das war wichtig.
BD: In Münster haben wir im Umweltzentrum Ende der 80er Jahre zum Beispiel den Atomkraft Nein!-Kalender produziert. Der wurde euch auch gebracht. Ich habe die Umweltblätter damals regelmäßig im Umweltzentrum gelesen. taz, Graswurzelrevolution, Interim und Schwarzer Faden haben Texte aus den Umweltblättern nachgedruckt. Die Umweltblätter ermöglichten auch uns Libertären im Westen einen bewegungsnahen Blick auf die Realität in der DDR. Ihr habt sie 1989 in telegraph umbenannt. Wie ist es dazu gekommen, warum habt ihr das umbenannt, was hat sich dann entwickelt?
WR: Na ja, der Kulturhistoriker Jakob Burckardt spricht in seinen „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ vom Zeitalter der Revolutionen so, dass man es daran merkt, dass sich die Zeiten beschleunigen. Zuerst ändern sich Sachen, die sich innerhalb von 20 Jahren nicht verändert haben, innerhalb von Jahren, dann innerhalb eines Jahres, dann innerhalb von Monaten, schließlich innerhalb von Tagen und Stunden. Zum Schluss sogar innerhalb von Sekunden. Genau diese Beschleunigung der Zeit trat ein.
Noch im Sommer 1989, kann ich mich erinnern, krakelte Reinhard Schulz rum über diejenigen, die sich einbildeten, hier herrsche eine revolutionäre Situation. Aber genau das war tatsächlich eingetreten: eine revolutionäre Situation. Und die brauchte ein schnelles Organ, ein relativ rasch herzustellendes und relativ schnell erscheinendes Blatt. Das war dann dieser telegraph. Das war jedenfalls die Zeitschrift, die bis in den Januar 1990 praktisch das einzige Blatt war, das weiter erschien. Wir machten weiter. Alle anderen setzten sich an irgendwelche Runden Tische und machten diese oder jene Organisation oder Partei.
Wir empfanden es als unsere Pflicht, diese Information weiterzuführen. Das war für uns die Aufgabe, fanden wir. Allerdings war das nicht besonders bequem, in einer Situation, in der alle möglichen Leute alles mögliche anders machten.
BD: Ihr habt den telegraph zeitweise mehrmals wöchentlich herausgebracht.
WR: Ja, alle zwei bis drei Tage, je nach Ereignissen. Später dann jede Woche einmal, dann alle 14 Tage, dann monatlich, als sich die Welle dann zunehmend zurückzog.
CK: Mit was für einer Auflage?
WR: Ich glaube, 6.000 bis 7.000 Stück. Allerdings haben wir mehrmals nachgedruckt. Ich kann es nicht genau sagen. Die Situation kann man sich nicht vorstellen. Also, in der Gethsemane-Kirche und an anderen Orten, wo Veranstaltungen waren, wo Demonstrationen waren, wurden uns diese Dinger aus der Hand gerissen.
Wir nahmen, glaube ich, eine Ostmark pro Exemplar. Wir bekamen dann Bescheid, in Gethsemane würden mehrere Säcke Geld stehen, wir sollen die endlich abholen. Das war Kleingeld, aber das war eindrucksvoll, da so ganze Plastiktüten mit Geld zu schleppen, so Riesendinger. Das war eine erstaunliche Zeit. Gustav Landauer sagt ja so schön, dass die Revolutionen die Träume im Leben der Völker seien, dass man eigentlich in diesen Zeiten versuchen müsste, soviel wie möglich zu erreichen, weil die spätere Zeit dann eben nur Rückschritte brächte. Aber leider haben wir dann nicht sehr viel erreicht.
BD: Na ja, immerhin habt ihr einen Staat abgeschafft.
Obwohl der dann sozusagen annektiert wurde. Das war ja nicht das, was ihr wolltet. Ihr wolltet einen freiheitlichen Sozialismus, etwas in der Art? Oder was war eure Utopie?
WR: Diese Diskussionen hatten praktisch erst angefangen. Wir waren in den letzten DDR-Jahren immer noch sehr durchdrungen von der Aussichtslosigkeit unseres Kampfes. Wir wollten kleine Spielräume schaffen, weiter ging unser Wunsch erst einmal gar nicht, soviel wie möglich Freiheitsspielräume und die verteidigen, das war sozusagen unser Anliegen. Solche Diskussionen, was kann man denn tun, wenn man die Möglichkeit erhält, und unter welchen Bedingungen erhält man die Möglichkeit, das hatte gerade erst begonnen.
Wir kamen praktisch ab der „Zions-Affäre“ 1987 nicht mehr aus den Aktionen heraus. Da kam ein Schlag nach dem anderen, da kam eine staatliche Aktion nach der anderen, eine Reaktion unsererseits darauf nach der anderen. Wir kamen praktisch nicht mehr richtig zum Diskutieren. Und als dann die Situation da war, da waren wir dann eigentlich sehr unvorbereitet.
Weit verbreitet war die Vorstellung, dass die Enteignung der Wirtschaft an sich gar nicht so ein schlechter Vorgang war, dass man bloß dazu kommen müsste, diese staatseigenen Betriebe zu vergesellschaften, denen eine andere, eine demokratische Basis zu geben. Nur, dass diese Wirtschaft völlig am Ende war.
Morton von der englischen Botschaft meinte, wir müssten in der DDR eine revolutionäre Identität finden. Für einen englischen Konservativen war das ein ganz schön heißer Spruch. Die Engländer waren zwar gegen die Wiedervereinigung, hatten aber eben auch nicht das Geld, uns das Land zu reparieren. Immerhin hätten wir die westdeutsche Regierung mit Flüchtlingszahlen förmlich erpressen können.
BD: Ich kann mich erinnern an eine telegraph-Ausgabe, die direkt, nachdem die Mauer gefallen und die Grenze geöffnet worden war, erschien, da hattet ihr kritisiert, dass das eben auch wieder ein Akt von oben gewesen sei, um sozusagen ein Ventil zu öffnen, aber eben nicht von unten durchgesetzt.
WR: Ja doch, also, das eigentlich schon. Die Leute hatten sich gesammelt. Es war über das Fernsehen und auch über die Westmedien gekommen, dass die Mauer geöffnet wäre, und zwar sofort, hatte Schabowski gesagt. Eine Reiseregelung, dass man das Land sofort ohne Visum und dergleichen verlassen kann. Daraufhin hatte sich eine irrsinnige Masse von Leuten gesammelt, an der Bornholmer Straße waren es Zehntausende, die sich da die Straße herunter stauten. Dadurch entstand ein ungeheurer Druck.
Natürlich wäre das in den 60er und 70er Jahren kein Problem gewesen. Dann hätten sie halt das Militär eingesetzt. Aber als die DDR pleite und auch auf das Wohlwollen des Westens angewiesen war, und zudem noch der Russen, war das eine nicht lösbare Situation. Also, insofern haben die Leute schon die Grenze überrannt. Die Fragestellung ist bloß die, ob das nicht in irgendeiner Weise vorbereitet war, ob das wirklich eine Panne war, darüber spekulieren ja immer noch die Leute. Tatsache ist, dass man das eigentlich hätte absehen können, dass man eigentlich eine Voraussetzung hätte schaffen müssen, beispielsweise eine Zollgrenze. Also gut, in Zeiten der Revolution wird kein Zoll gezahlt. Das war dann einfach das Überrennen dieser Hindernisse, dieser Betonmauer, das war schon sehr eindrucksvoll. Also, ich fand das schon toll, dass die Leute das geschafft haben.
BD: Auf jeden Fall. Also, ich kann mich noch erinnern, als dann die Mauer gefallen ist. Es gab in Münster das Themroc, das war ursprünglich ein reines Anarcho-Zentrum, dann hat sich das Anfang 1989 geöffnet und jeder Tag wurde von einer anderen Gruppe gemacht. Mittwoch war der „Anti-Imp-Tag“, das waren sozusagen die autonomen Kommunisten.
Als Anarcho, Kopfsprung– und Umweltblätter-Leser habe ich den Umbruch in der DDR als positiv gesehen. Da haben wir Libertären gedacht, jetzt entwickelt sich ein Freiraum in der DDR, vielleicht sogar ein freiheitlicher Sozialismus.
Das war natürlich blauäugig. Ich bin dann am „Anti-Imp-Tag“ ins Themroc gegangen und alle Kommunisten dort waren niedergeschlagen, weil sie gedacht haben, der Sozialismus sei am Ende. Ich bin dann da rein gegangen und habe gesagt: „Ich schmeiß ne Runde auf den Niedergang des Staatskapitalismus. Ein Staat weniger!“
Das hat die Anti-Imps auf die Palme gebracht.
WR: Das Furchtbare ist ja, es sind entsetzliche Dinge passiert in diesem ganzen Zeitraum, 25 bis 30 Millionen Menschen waren Opfer des Stalinismus und auch danach noch furchtbare Dinge – und das nehmen die dann sozusagen als Kosten der Geschichte in Kauf. Sie brauchen diese Kosten ja nicht zu tragen. Die müssen dann die anderen tragen. Das konnte ich nie nachvollziehen. Das konnte keiner von uns nachvollziehen, weil wir da drinnen saßen, im Bauch des Ungeheuers. Und da kann man dann auch erzählen vom Niedergang des Sozialismus. Ich weiß nicht, ich kann mich dieser Art von Betrachtungsweise nicht anschließen.
Russland war ja mitnichten ein industrialisiertes Land, wenn man schon von Marx ausgehen will, sondern ein halbbäuerliches Land. Und dass gerade sich in Russland diese Art von Verstaatlichung der Industrie durchsetzt, das sollte man mehr als Fortsetzung der russischen Staatsgeschichte im Sinne der „Geheimdiplomatie des 18. Jahrhunderts“ von Marx ansehen, anstatt als irgendeine sozialistische Entwicklung im Sinne seiner Sozialismustheorie.
Ich glaube, dass sich da gezeigt hat, dass Marx mit seinen Kategorien der Kompliziertheit des Geschehens in keiner Weise gerecht wird. Sie konnten natürlich diese Nummer benutzen, dieses Prädikat „Sozialismus“, aber mit dem, was Leute geträumt haben oder geglaubt haben vom Sozialismus, hat das eben überhaupt nichts zu tun gehabt. Wenn man diese fürchterlichen Dinge kennt, die da in Sibirien und anderswo passiert sind, das ist wirklich unverzeihlich.
BD: Im Grunde könnte man ja auch sagen, dass Bakunin posthum Recht behalten hat. Ein Streit zwischen Bakunin und Marx war, dass Bakunin gesagt hat, jede Diktatur führe letztlich zur Sklaverei und nicht zur Freiheit. Und die marxistische „Diktatur des Proletariats“ sei letztlich nur die Diktatur der Partei. „Gib dem größten Revolutionär Macht und er wird zum Tyrannen“, hat Bakunin 1869 formuliert. Das hat sich in der Geschichte immer wieder bewahrheitet. Es war geradezu prophetisch.
WR: Ich kann mich da an ein Zitat erinnern: „Ich appelliere an unsere Brüder, die manchmal feindlichen Brüder, die Staatssozialisten: Traut euren Führern nicht. Mit ihren Interessen wird sich auch ihr Bewusstsein verändern. Sie werden nicht länger eure Interessen vertreten. Wie schon der Dichter des Maha Bharata sagt: ‚Der Mensch, der im Wagen fährt, wird niemals der Freund dessen sein, der zu Fuß geht.'“
Anmerkungen
www.freie-radios.net/portal/content.php?id=30582
Teil 2 dieses Interviews erscheint im Dezember 2009 in der GWR 344.