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Nach der Bundestagswahl

Der Widerstand ist notwendiger denn je

| Bernd Drücke

Von den über 82 Millionen EinwohnerInnen der Bundesrepublik waren lediglich 62.168.489 wahlberechtigt.

Rund 20 Millionen BewohnerInnen dieses Landes waren 2009 also von vornherein von der Bundestagswahl ausgeschlossen, weil sie nicht das Privileg haben einen deutschen Pass zu besitzen oder noch keine 18 Jahre alt sind.

Aber selbst wenn wir nur die Zahl der Wahlberechtigten als Grundlage für eine Berechnung nehmen, ist das in den Medien veröffentlichte Wahlergebnis falsch.

Rund 30 % der Wahlberechtigten haben nämlich gar nicht gewählt. Sie werden bei der offiziellen Berechnung der Stimmenanteile jedoch nicht berücksichtigt.

Das tatsächliche Endergebnis der Bundestagswahl 2009 sieht also so aus:

Von den Wahlberechtigten haben rund 10,2 % (statt der offiziellen 14,6 %) die FDP, 8,4 % (statt 12 %) die Linke, 7% (statt 10 %) die Grünen, 16,1 % (statt 23%) die SPD, 4,6% (statt 6,5 %) die CSU und 19,1 % (statt 27,3 %) die CDU gewählt.

Alle Parteien und Medien äußerten ihre Enttäuschung über die geringe Wahlbeteiligung.

Problematisch sind aber nicht die 30% NichtwählerInnen, sondern die Tatsache, dass viele von ihnen resigniert haben, anstatt sich in den sozialen Bewegungen zu engagieren und nach basisdemokratischen Alternativen zum pseudodemokratischen Parlamentarismus zu suchen.

Als Anarchist musste ich mir im Vorfeld dieser Bundestagswahl sogar von FreundInnen und GenossInnen Vorwürfe anhören, „unverantwortlich“ zu handeln, weil ich mein Kreuzchen nicht wenigstens für das – aus Sicht der KritikerInnen – „kleinere Übel“ (die Linkspartei?) mache.

Die eigene Außenseiterposition wurde mir auch bewusst, als ich nach der Wahl nicht in das vehemente Gejammer großer Teile meines Freundeskreises über das Ende der Großen Koalition einstimmen wollte, sondern stattdessen zum Engagement in den außerparlamentarischen Bewegungen aufgerufen habe.

Wie soll der Anarchismus eine wachsende Bedeutung bekommen, wenn sogar viele, sich als libertär Verstehende ihre eigenen herrschaftsfeindlichen Positionen nicht mehr ernst nehmen, sondern sich stattdessen parlamentaristischen Illusionen hingeben?! Ist das Bekenntnis an keiner Bundestagswahl teil zu nehmen neuerdings sogar in bisher libertären Kreisen gleichbedeutend mit gesellschaftlicher Isolation?

Ja, eine anarchistische Haltung entspricht nicht dem Mainstream. Wer Parlamentarismuskritik übt und es nicht übers Herz bringt, ein Kreuzchen bei einer der Parteien zu machen, wird oft als „Dogmatiker“ und „Unrealist“ gebrandmarkt.

Aber es gibt gute Gründe, die eigene libertär-sozialistische Weltanschauung ernst zu nehmen. Ich will nicht herrschen, aber auch beherrscht nicht werden. Ich will keine Macht über andere Menschen haben. Und ich möchte andere Menschen nicht dazu legitimieren Macht über andere auszuüben. Das sind keine „nostalgischen Parolen“, sondern wichtige, oft über Jahre gefestigte persönliche Lebenshaltungen, ohne die die Verwirklichung einer menschengerechten Gesellschaft reine Utopie bleiben dürfte.

Jede Partei ist auf Macht und auf eigene Pfründewirtschaft orientiert. Jede Partei, sobald sie an der Macht beteiligt ist, dient der Perfektion von Herrschaft. Selbst vermeintlich „pazifistische“ Parteien wandeln sich zu Kriegsparteien, wenn sie ihr Ziel der Machtbeteiligung erreichen und diese durch ein Festhalten an pazifistischen Positionen gefährdet wäre.

Das zeigt auch das Beispiel der einstmals unter dem Motto „basisdemokratisch, gewaltfrei, ökologisch, sozial“ angetretenen Grünen, die seit ihrer Machtbeteiligung 1998 jedes (rot-grüne) Regierungsverbrechen – vom NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien, über Hartz IV bis zum Afghanistan-Krieg – mitgetragen haben.

Der Glaube an das parlamentarische System nimmt bisweilen wahnhafte Züge an und hat oft katastrophale Folgen. Erinnert sei hier an die „legale“ Machtübernahme durch die NSDAP 1933. Nicht zuletzt, weil die Nazis damals durch eine „ordentliche Wahl“ als legitimiert galten, war der antifaschistische Widerstand gegen das Naziregime in Deutschland so marginal.

Die großen Gewerkschaften und linken Parteien im Deutschen Reich riefen 1933 nicht zum Generalstreik auf, sie forderten die Bevölkerung nicht zu Sabotage und massenhaften direkten Aktionen auf, weil in ihren Augen Hitler durch die Wahl legitimiert war, weil er für viele vielleicht sogar als „kleineres Übel“ galt.

Anders als z.B. in Spanien 1936, wo es eben eine in großen Teilen anarchistisch denkende und in der anarchosyndikalistischen CNT organisierte Bevölkerung war, die durch eine soziale Revolution einen „kurzen Sommer der Anarchie“ verwirklichte und den von Hitler und Mussolini massiv unterstützen Franco-Faschisten drei Jahre erbitterten Widerstand entgegensetzte.

Wer sein Kreuzchen bei einer Wahl macht, gibt seine Verantwortung aus den eigenen Händen. Und legitimiert die Regierung, ob sie einem nun passt oder nicht.

In der im September 2009 erschienenen Zivilcourage Nr. 4, dem „Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK“, findet sich ein sehr lesenswerter Artikel von Ullrich Hahn, dem Vorsitzenden des deutschen Zweigs des Internationalen Versöhnungsbunds. Hahn stellt darin u.a. klar: „Die Teilnahme an einer Parlamentswahl ist notwendig getragen von dem Wunsch auf Teilhabe an der Staatsgewalt und ist damit die Beteiligung an dem Versuch, die eigene politische Meinung per Gesetz, Macht und letztlich per Gewalt den Andersdenkenden aufzuzwingen. Mit dem Bekenntnis grundsätzlichen Gewaltverzichts sind auch die Wahlen in einer repräsentativen Demokratie nicht zu vereinbaren. Wer Macht und Herrschaft über Menschen überwinden will, wird nicht um diese Macht kämpfen, sondern auf sie verzichten.“

Notwendige gesellschaftliche Veränderungen können durch soziale Bewegungen durchgesetzt werden. Anstatt die Lügen vom rot-grünen „Atomausstieg“ und vermeintlichen „Friedenseinsätzen“ der Bundeswehr zu glauben, sollten wir Druck von unten machen. Und zwar gegen jede Regierung, gegen jeden Krieg, gegen Atompolitik, Militarisierung, Sozialkahlschlag, Gentechnik und andere Verbrechen an der Menschheit. Für einen sofortigen Atomausstieg, für eine gewaltfreie und herrschaftslose Gesellschaft.