Am 6. Dezember 2009 jährt sich die Ermordung des 15-jährigen Aléxandros Grigorópoulos durch Polizeibeamte in Athen. In vielen griechischen Städten wird es aus diesem Anlass zu Gedenkdemonstrationen und aller Voraussicht nach zu Auseinandersetzungen mit den staatlichen Sicherheitskräften kommen. In den Tagen und Wochen nach der Erschießung des Schülers war es griechenlandweit zu Demonstrationen, Straßenschlachten mit der Polizei und Besetzungen öffentlicher Gebäude gekommen. Die gesellschaftlichen Kämpfe erreichten ein solches Ausmaß, dass viele von einem allgemeinen sozialen Aufstand sprachen (vgl. GWR 336, Feb. 2009).
Obwohl es nicht gelang, den Sturz der konservativen „Mörderregierung“ unter Ministerpräsident Kóstas Karamanlís zu erzwingen, erlebten außerparlamentarische Initiativen und die anarchistische Bewegung in den folgenden Monaten einen starken Aufschwung. Soziale Zentren entstanden, auf Freiflächen geplante Parkhäuser oder bestehende Parkplätze im Zentrum Athens konnten durch Besetzung und (Neu)-bepflanzung in selbstverwaltete Parks verwandelt werden (s. GWR 340, Sommer 2009). Bürgerinitiativen erzwangen den Baustopp weiterer Autobahnringe um Athen, Sendemasten von Telekommunikationskonzernen in Wohngebieten werden immer wieder in Massenaktionen sabotiert oder gleich ganz abgebaut.
Durch unabhängige Arbeitskämpfe, wie die der Gewerkschaft der Reinigungskräfte (PEKOP), konnten darüber hinaus wichtige Erfolge im prekären Arbeitssektor errungen werden.
Da gesellschaftliche Auseinandersetzungen in den seltensten Fällen geradlinig verlaufen oder zu Veränderungen führen, ohne Reaktionen hervorzurufen, blieben auch die nicht aus.
Ab dem Frühsommer 2009 suchte die unter Druck stehende konservative Regierung ihr Heil in der Mobilisierung rassistischer Ressentiments, bei gleichzeitigem Anziehen der Repressionsschraube.
Andauernde Kontrollen von Migranten und Migrantinnen sowie Massenverhaftungen von Flüchtlingen ohne gültige Papiere wurden im Vorfeld der Europawahl alltäglich.
Die Räumung der besetzten Häuser und Zentren als nicht zu tolerierende „rechtsfreie Räume“ wurde angekündigt, wahrscheinlich auf Grund der massiven Mobilisierung der BesetzerInnen jedoch nicht umgesetzt. Dafür fand die aus der Vergangenheit bekannte Zusammenarbeit militanter Faschisten mit der Polizei nun auf neuem Niveau statt.
So während der Belagerung eines von Flüchtlingen besetzten Gebäudekomplexes im Zentrum von Athen. Immer wieder verübten Faschisten Brandanschläge auf das ehemalige Gerichtsgebäude.
Die Polizei erschien jeweils nach dem Löschen der Brände, durchsuchte das Gebäude und nahm Menschen ohne gültige Papiere fest. AntirassistInnen, die sich zum Schutz der Flüchtlinge versammelten, wurden von Mitgliedern der faschistischen Organisation Chrysí Avgí (Goldener Morgen) und MAT-Einheiten (wie SEK) gemeinsam angegriffen.
Nach dreiwöchigem Terror wurden die letzten verbliebenen BewohnerInnen geräumt, das Gebäude wurde zugemauert.
Auch nach zwei Brandanschlägen auf das seit zwanzig Jahren besetzte anarchistische Zentrum Villa Amalías in Athen ermöglichten plötzlich auftauchende Polizeieinheiten die Flucht der von Hausbesetzern verfolgten faschistischen Brandstifter. Nach wiederholten rassistischen Übergriffen von AnwohnerInnen im Stadtteil Ágios Panteléimonas kam es nach antirassistischen Mobilisierungen zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen anarchistischen und antirassistischen Gruppen einerseits und Polizeieinheiten, fremdenfeindlichen Bürgerkomitees und Mitgliedern von Chrysí Avgí andererseits.
Machtwechsel der Dynastien
Nach einer herben Niederlage bei der Europawahl und neuerlichen, durch Brandstiftungen ausgelösten, katastrophalen Waldbränden war die konservative Néa Dimokratía (ND) schließlich am Ende.
Nach dem Motto „Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende“ rief Karamanlís, nur anderthalb Jahre nach seinem letzten Wahlsieg, vorgezogene Neuwahlen für den 4. Oktober aus.
Womit er den erneuten Machtwechsel zwischen zwei Dynastien einläutete. Denn sowohl Karamanlís als auch der neue Regierungschef, der Sozialdemokrat Giórgos Papandréou, stammen aus etablierten Politikerfamilien. 1963 hatte der Großvater des einen, Geórgios Papandréou, mit der Zentrumspartei die Wahlen und den Posten des Ministerpräsidenten gewonnen. Nach dem Sturz der Militärdiktatur wurde der Onkel des anderen, Konstantínos Karamanlís, der Vorsitzende der rechtskonservativen ND, 1975 zum ersten Ministerpräsidenten der neuen, parlamentarisch-demokratischen Ära.
Die Familie Papandréou eroberte 1981 mit der von Geórgios‘ Sohn Andreas nach dem Sturz der Junta gegründeten sozialdemokratischen Pasok erneut die Macht. Und im Jahr 2004 kam Konstantínos‘ Neffe Kostákis (der kleine Konstantínos) an die Reihe, nur um nun an Georgákis (der kleine Geórgios), den Sohn von Andreas Papandréou, zu übergeben.
Wie jeder Kandidat behauptete im Wahlkampf auch Papandréou, das Rezept gegen die Rezession und die allgegenwärtige Korruption zu kennen.
Doch nicht wegen seines vagen Programms hat er einen leichten Sieg errungen (Pasok 44 %, ND 33,5 %).
Aufgrund dubioser Geschäfte mit der Kirche, allgegenwärtiger Korruption, brutaler Polizeigewalt, diverser Sexaffären und Abhörskandale und ihrem Versagen bei der Bekämpfung der Waldbrände in den Jahren 2007 und 2009 wurde ND abgewählt. Auch die rechtspopulistische Partei Laos (Orthodoxe Sammlungsbewegung) hat von deren Unbeliebtheit profitiert und 5,6 % erreicht. Ebenfalls im Parlament vertreten ist Syriza (Allianz der radikalen Linken) mit 4,6 %, da nur eine Drei-Prozent-Hürde existiert. Der Stimmenanteil der Kommunistischen Partei (KKE) sank geringfügig auf 7,6 %, während die Ökologen, die im Juni den Einzug ins Europa-Parlament schafften, dieses Mal nur 2,5 % erhielten.
Der Kampf um Exárchia
Die Pasok-Regierung legte dann sofort los. In lupenreinem Orwellschen Neusprech wurde das „Ministerium für öffentliche Sicherheit und Ordnung“ – schon diese Bezeichnung bot Anlass zu zynischen Kommentaren – in „Ministerium zum Schutz der Bürger“ umbenannt.
Michális Chryssochoídis, der zuständige Minister, verkündete, „Übergriffe der Polizei“ künftig ahnden zu wollen. Gleichzeitig gab er Anweisung, den Stadtteil Exárchia polizeilich zu „befrieden“.
Das zentral gelegene, alternativ geprägte Athener Viertel gilt als Hochburg der anarchistischen Bewegung und verfügt über eine jahrzehntelange Tradition gesellschaftlicher Kämpfe. Vom hier befindlichen Polytechnikum ging der so genannte Studentenaufstand gegen die Militärdiktatur 1973 aus, hier wurde im Dezember 2008 Grigorópoulos erschossen, begannen die zwei Wochen anhaltenden Straßenkämpfe und Demonstrationen und hier befindet sich der noch immer umkämpfte, von AnwohnerInnen besetzte und gestaltete Navarínou-Park.
Viele BewohnerInnen fordern seit langem den vollständigen Abzug der Polizei aus Exárchia.
Der Traum eines polizeifreien Raumes scheint vorerst ausgeträumt. Gruppen von Beamten zu Fuß oder die berüchtigten Delta-Einheiten auf Motorrädern patrouillieren in den Straßen und schüchtern die Menschen ein. Beinah täglich finden massive Personenkontrollen statt. Nach Demonstrationen oder militanten Aktionen – auch in anderen Stadtteilen – fallen immer wieder ganze Hundertschaften ins Viertel ein oder besetzen den zentralen Platz. Ältere BewohnerInnen fühlen sich an die Zeit der Obristendiktatur erinnert, die jüngeren kennen ähnliches nur aus Filmen über Südamerika.
Besonders die Motorräder der Delta-Einheiten sind gefürchtet. Zwar kommt es immer wieder zu Angriffen auf die Patrouillen, auf Polizeifahrzeuge oder die Polizeiwache, doch gibt es weder von anarchistischen Gruppen noch von Anwohnerinitiativen ein wirkliches Konzept gegen die Dauerbesatzung. Auf offenen Stadtteilversammlungen wird recht hilflos der Abzug der Polizeitruppen gefordert. Zwei lautstarke Stadtteilspaziergänge mit über tausend TeilnehmerInnen Ende Oktober machten zumindest deutlich, dass die Polizei unerwünscht ist.
Allgegenwärtige Polizeigewalt – Militante Gruppen – Angriffe bewaffneter Organisationen
Opfer staatlicher Gewalt sind jedoch in erster Linie Flüchtlinge und MigrantInnen. Im Morgengrauen des 26. September stürmten Polizisten die Wohnung pakistanischer Arbeiter im Athener Stadtteil Níkaia.
Die Anwesenden wurden zusammengeschlagen, Mohamed Karman Atif darüber hinaus verhaftet und auf die Wache geschleppt, da man ihn verdächtigt, einen Jugendlichen geschlagen zu haben.
Er beharrte darauf, nicht der Gesuchte zu sein, und wurde mit weiteren Schlägen und Elektroschocks gefoltert.
Als der Jugendliche ihn Stunden später nicht als Täter identifizieren konnte, musste er schwer gezeichnet freigelassen werden. Allerdings erst als der Bruder per Unterschrift bestätigte, dass Atif keine Verletzungen erlitten habe. Am 9. Oktober starb Atif aus bisher unbekannten Gründen. Viele gehen davon aus, dass er inneren Verletzungen auf Grund der Polizeifolter erlag.
Eine antirassistische Demonstration zur Polizeiwache in Níkaia wurde am 17.10. von MAT-Einheiten angegriffen.
Nach Straßenschlachten und Verhaftungen wurde das Rathaus Níkaias mit der Forderung nach Untersuchung des Todesfalls und sofortiger Freilassung der Verhafteten besetzt.
In den Tagen darauf folgen Besetzungen öffentlicher Gebäude in Thessaloníki, Chaniá, Iráklion, Athen, die nach der Freilassung der Verhafteten beendet werden.
Im Zusammenhang mit dem von vielen als erneuten Polizeimord empfundenen Vorfall steht ein Angriff auf eine Polizeiwache in Athen am 27.10., bei dem die Täter über einhundert Schuss abgaben und sechs BeamtInnen verletzt wurden. Seit der Zerschlagung des „17. November“ und des „ELA“ (Revolutionärer Volkskampf) 2002 und 2003 schien das Kapitel der Stadtguerillagruppen auch in Griechenland beendet zu sein. Seit 2006 kam es jedoch erneut zu größeren Bombenanschlägen der Organisationen „Revolutionärer Kampf“ (RK) und „Revolutionäre Zellen“.
Als RK dann im Sommer 2007 die US-Botschaft im Zentrum Athens mit einer Panzerfaust angriff, war das alte Konfrontationsniveau erreicht.
Nach der Erschießung von Grigorópoulos steigerten sich 2009 auch die gewohnten kleineren Anschläge und Brandstiftungen militanter Gruppen auf ein bisher nicht gekanntes Maß. Monatelang kam es fast täglich zu Angriffen auf Banken, Polizeiwachen, staatliche Einrichtungen und multinationale Konzerne.
Neue Organisationen griffen mehrmals mit Schnellfeuerwaffen Polizeiwachen an und forderten „alle um Befreiung kämpfenden“ zur Aufnahme des bewaffneten Kampfes auf.
Im Sommer übernahm eine sich selbst als „Revolutionäre Sekte“ bezeichnende Gruppe die Verantwortung für die Ermordung eines Beamten einer so genannten Antiterroreinheit.
Die Brutalität dieser Angriffe und die ideologische Herkunft der Gruppen sind vielen suspekt. Für den Schusswaffenangriff am 27.10. übernahm die bisher unbekannte Organisation „Opla“ im Sprachstil der 70er Jahre die Verantwortung. Opla war die Selbstschutzorganisation der KKE. Auf ihr Konto gehen allein im Bürgerkrieg von 1945-49 die Liquidierung vieler vermeintlich oder tatsächlich rechter Widersacher und mehr als 2.000 Morde an „Linksabweichlern“, Anarchisten und Trotzkisten.
In diesem einschüchternden – sowohl staatlicherseits, als auch von klandestinen, oft nihilistisch argumentierenden Gruppen geschürten – Klima der Gewalt muss die anarchistische Bewegung sehr darauf achten, nicht zwischen den Fronten zerrieben zu werden.
No Border, no Nation, stop Deportation
Monatelang revoltierten im überfüllten Internierungslager Pagáni auf der Insel Lesbos die inhaftierten Flüchtlinge.
Eine Einrichtung, die der stellvertretende Innenminister Spíros Voúgias nach einem Besuch Anfang November als „schlimmer als Dantes Inferno“ beschrieb.
Die Proteste hatten im Sommer begonnen und wurden auch vom No-Border-Camp, das Ende August auf Lesbos stattfand, unterstützt.
In dem für 300 Personen vorgesehenen Lager wurden monatelang über 600 Menschen zusammengepfercht.
Die sanitäre Situation war katastrophal. Eine Toilette für 150 Menschen, viele schliefen auf dem Boden oder auf dreckigen Decken und wurden krank. Jetzt hatten die ständigen Aufstände endlich Erfolg. Nach Voúgias Visite ließ das Innenministerium das Lager – vorläufig – schließen, die letzten Insassen wurden freigelassen.
Indymedia-Athen berichtete allerdings schon am 10. November von 40 erneut in Pagáni untergebrachten Flüchtlingen.
Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl prangern seit Jahren das griechische Haftregime, den fehlenden Zugang zu rechtsstaatlichen Asylverfahren und brutale Polizeiübergriffe gegen Flüchtlinge an.
Die Anerkennungsquote für AsylbewerberInnen liegt bei unter einem Prozent. Auch über illegale Abschiebungen unter Androhung von Schusswaffeneinsatz über den Grenzfluss Évros in die Türkei gibt es Zeugenaussagen.
Am 29. Oktober beriet der oberste Bürgerschützer Chryssochoídis mit EU-Vizepräsident Jacques Barrot über die illegale Einwanderung und die Asylsituation in Griechenland.
Er gab bekannt, dass man die Wiederaufnahme des Dublinverfahrens anstrebt, da Griechenland benachteiligt werde. Gemäß des Dublinverfahrens ist der EU-Staat, in den AsylbewerberInnen als erstes einreisen, zuständig für alle weiteren Asylverfahren dieser Personen. Mit 13.676 Kilometer hat Griechenland Europas längste Küste.
Nach Angaben der europäischen Grenzschutzagentur Frontex ist das Land derzeit die erste Anlaufstelle für Flüchtlinge, da von insgesamt 51.600 Menschen, die an EU-Außengrenzen festgenommen wurden, 35.600 in Griechenland ankamen.
Streiks gegen Privatisierung
Konfrontiert ist die neue Regierung auch mit Arbeitskämpfen gegen weitere Privatisierungen wie die der Wasserversorgungsbetriebe Thessaloníki.
Ein Treffen mit den Hafenarbeitern von Piräus, die sich seit Anfang Oktober im Streik befinden, hatte Loúka Katséli, die Ministerin für Wirtschaft, Wettbewerb und Handelsschifffahrt am 5. November.
Die Arbeiter verlangen, einen bereits unterzeichneten Vertrag des griechischen Staates mit der staatlichen chinesischen Firma Cosco rückgängig machen, der Cosco für einen Zeitraum von 35 Jahren die Nutzungsrechte für den wichtigen Verladekai 2 im Hafen von Piräus überträgt.
Dort haben sich inzwischen rund 10.000 nicht abgefertigte Container angesammelt.
Der Vertrag wurde noch unter der ND-Regierung unterzeichnet, Papandréou hatte vor der Wahl angekündigt, dass er „geändert“ werden müsse.
Der Vorsitzende der Athener Industrie- und Handelskammer, Konstantínos Michálos, klagte, dass der Streik täglich drei Millionen Euro koste.
Das Verwaltungsgericht in Piräus erklärte die Kampfmaßnahmen am 10. November für illegal. Manche Bürger werden eben etwas mehr geschützt!