anarchismus

Das Unbehagen an der Kultur

Antwort an meine veganen KritikerInnen

| Rüdiger Haude

Als Beitrag zur Diskussion um Tierrechte erschien in der Graswurzelrevolution (GWR) Nr. 340 Rüdiger Haudes Artikel "Anti-Speziesismus? Schmeckt mir nicht!" (http://www.graswurzel.net/340/tierrechte.shtml). In GWR 341, GWR 342 und GWR 344 haben wir zahlreiche LeserInnenbriefe dazu dokumentiert sowie in den Libertären Buchseiten (GWR 342) eine an die Diskussion anknüpfende Rezension zu dem Buch "Das steinerne Herz der Unendlichkeit erweichen. Beiträge zu einer kritischen Theorie für die Befreiung der Tiere" veröffentlicht. In GWR 343 erschien als Replik der Artikel "Die Geschmacklosigkeit des guten Geschmacks" von Tim Kröger. Im folgenden Beitrag antwortet Rüdiger Haude seinen KritikerInnen. (GWR-Red.)

Mein skeptischer Beitrag zum Antispeziesismus hat hohe Wellen geschlagen – innerhalb und außerhalb der GWR. Ich möchte kurz die Gelegenheit zu einer Replik ergreifen. Ich gehe nur auf wenige, wichtige Punkte ein und hoffe, dass die Debatte im Übrigen kontrovers weitergeführt wird (denn auch ich habe, selbst von einigen der unhöflicheren Beiträge, dazugelernt).

Die meisten, häufig empörten Reaktionen kamen erwartungsgemäß aus dem Lager der AntispeziesistInnen, und sie kulminieren – nach der Bemerkung, dass PETA und Peter Singer in ihren Kreisen „umstritten“ seien oder gar überhaupt keine Tierrechte verträten – regelmäßig in dem Credo: Die Tatsache, dass Tiere empfindungsfähig seien, müsse als „einziges Kriterium“ in dieser Frage gelten (vgl. z.B. Leserbrief von Gerborg Glanz in der GWR 342).

Das ist in der Tat die wichtige Frage! Ich möchte darauf bestehen, dass es noch andere Kriterien geben muss, die ich im Begriff der Kulturhaftigkeit der Menschen zusammengefasst habe: Fähigkeit zu moralischem Handeln, Reichweite der Mitempfindungsfähigkeit, kollektives Gedächtnis usw.

Gerade darum, da bin ich mir mit allen meinen GegnerInnen einig, muss die Empfindungs- und Leidensfähigkeit von Tieren ein Kriterium für unser Handeln sein (übrigens dürfte das Maß dieser Fähigkeit im Einzelfall viel schwerer zu bestimmen sein, als die Pauschalisierungen der TierschützerInnen nahe legen; wahrscheinlich variiert es typischerweise von Spezies zu Spezies).

Aber ich sehe daneben eben wichtigere Kriterien, die aus der Idee der Menschenrechte erwachsen – ein Konzept, mit dem die AntispeziesistInnen offenbar überhaupt nichts anfangen können.

Neben der Schelte der Gescholtenen gab es dann noch den klugen, nicht minder polemischen Beitrag von Tim Kröger, der ein paar Sätze der Entgegnung verdient. Kröger ist ein Anhänger des Veganismus, der selbst nicht antispeziesistisch argumentiert. Sein Text (in der GWR 343) ist gelehrt und über weite Strecken auch folgerichtig, aber er hat leider einen kleinen Zug zur Unredlichkeit.

Damit meine ich nicht so sehr, dass Kröger dauernd aus einem Text von mir zitiert, der unveröffentlicht und auch nicht zur Veröffentlichung vorgesehen ist und den ich ihm aus Kollegialität zur Verfügung gestellt habe. Sondern ich meine seine Verdrehungen meiner Positionen, die ich bei einem Autor seines Reflexionsniveaus nicht als Versehen werten kann. Nehmen wir als Beispiel meine Bemerkung, Adorno (auf den sich gewisse TierschützerInnen als einen „jüdischen Philosophen“ beziehen) sei vielmehr ein „deutscher Philosoph“.

Das ist im Rahmen meiner Argumentation als Argument zu einem Diskurszusammenhang leicht zu erkennen (sonst wäre es auch wohl kaum in der GWR gedruckt worden): Für die Art zu philosophieren ist es wichtig, in welchem Land, in welcher Sprache ich bevorzugt spreche, schreibe und diskutiere, mit welchen Kollegen ich mündlich und schriftlich kommuniziere usw.

Kröger fragt sich daraufhin, ob ich Adorno zum „Deutschnationalen“ habe stempeln wollen oder doch eher biologistisch zu dem „Blut“ mich äußern wollte, das in Adornos Adern floss.

Über sein „hartnäckiges Fremdschämen“ vergisst Kröger hier leider das viel dringlicher fällige Selbstschämen.

Ein weiteres Beispiel: Ich hatte von „anthropologischen Rahmenbedingungen“ gesprochen, um gegen bestimmte biologisch-deterministische Argumente der AntispeziesistInnen anzugehen. Dabei hatte ich durchgängig die Variabilität menschlicher Kultur betont.

Kröger liest daraus eine „deterministische Aufhebung der Geschichte“. Geschichtlichkeit bedeute vielmehr, die Dinge als geworden und mithin also auch als vergänglich zu begreifen.

Da sind Kröger und ich uns also einig – auch wenn ich der Biologie zugestehe, dass z.B. Sexualität oder Nahrungsaufnahme zu den – jeweils kulturell zu formenden – „anthropologischen Rahmenbedingungen“ gehören dürften.

Und es gibt eben noch eine weitere, besonders wichtige: Die Menschen (und nur sie) sind zur Kultur „verurteilt“ (und damit auch zur Geschichte), weil ihr Verhalten im Wesentlichen nicht von Instinkten gesteuert wird. Es ist völlig falsch, wie im bekannten Pop-Hit zu sagen, Menschen seien „nothing but mammals“ – und die in jenem Schlager folgende, erotisch gemeinte Aufforderung „so let’s do it like they do on the Discovery Channel“ würde ja zu einer bedenklichen Reduzierung der möglichen Sexualpraktiken führen! Die „Verurteilung“ zur Kultur ist nämlich auch eine Befreiung zu ihr!

Da liegt auch der Pferdefuß in der wohlklingenden Formulierung Krögers, „artgerecht“ sei für alle Tiere „allein die Freiheit“. „Die“ Freiheit? Nichtmenschliche Tiere sind im Wesentlichen Sklaven ihrer Instinkte, und wer mit großem Pathos so tut, als könnten sie Subjekte derselben Freiheit sein wie Menschen, entwertet die humanistische – und anarchistische – Idee menschlicher Freiheit, die viel mehr besagt, als wiederkäuend in der Steppe zu stehen anstatt auf der eingezäunten Weide.

Kröger scheint das auch zu ahnen, aber ihm ist bei diesem Sachverhalt wesentlich unwohler als mir. Dass „die beste aller möglichen Welten“ sich in der Geschichte noch nicht entfalten konnte, stimmt ebenso wie, dass man sie gleichwohl anstreben sollte. Aber ist das Archiv menschlicher Kulturen wirklich so trostlos? Kröger räumt die „Besonderheit der menschlichen Kulturhaftigkeit“ ein, um daran anknüpfend zu fragen: „Aber welche Kultur meinen wir? Die Kultur des Schlachthofs, die Kultur des Patriarchats, die Kultur des Rassismus, die Kultur des Kapitalismus oder gar die Kultur, die Auschwitz möglich machte?

Eine Kultur, auf die sich berufen ließe, wäre erst noch zu erschaffen.“ Was für ein Panorama! Ich würde zunächst dagegen halten, dass eine Kultur, auf die man sich berufen könnte, nicht perfekt sein muss.

Dann ließe sich vielleicht auf die Kultur der Pariser Commune berufen? Auf die Kultur der Anti-Atomkraft-Bewegung? Auf die Kultur des Renaissance-Karnevals? Vielleicht darf ich auch einen Gang zurückschalten und mich auf Johann Sebastian Bachs „Wohltemperiertes Klavier“ berufen? Auf die Bilder Paul Klees? Auf die Erfindung des Gleitflugzeugs?

Nein; ich will lieber einen Gang hochschalten: Diesseits der Binsenweisheit, „die beste aller möglichen Welten“ habe noch nicht existiert, ist zu betonen, dass die Menschen, die seit etwa 2 Millionen Jahren diesen Planeten bevölkern, erst vor 5.000 Jahren den Staat erfunden haben. Die ganze Zeit davor lebten die Menschen, und viele auch noch in den letzten fünf Jahrtausenden, in „herrschaftsfreien Gesellschaften“, in „sociétés contre l’état“ oder „Regulierten Anarchien“, wie die EthnologInnen das bezeichnen. Wer sich ein wenig mit der kulturellen Vielfalt dieser Anarchien beschäftigt, kann schon so etwas wie eine Bewunderung für die Möglichkeiten menschlicher Kultur entwickeln.

Aber: alles FleischesserInnen! Die meisten: „Jäger und SammlerInnen“, viele auch ViehzüchterInnen. Was nun: hinfort damit? Die Inuit, eine faszinierende Kultur, von ihren Nachbarn, den Algonkin, als „Fischfresser“ („Eskimo“) gedisst, hatten aufgrund ihres nordpolaren Lebensraums überhaupt keine pflanzliche Nahrung auf dem Speisezettel. Was nun: umsiedeln?

Gerborg Glanz schreibt in ihrem Leserbrief an die GWR: „Vegane Ernährung kommt in der Kulturgeschichte nicht vor, weil ‚findige‘ Leute schon immer wussten, wie manipuliert, Macht ausgeübt wird.“ Schon immer: das hieße u.a. bei den Inuit. Aber sie macht eine historische Ausnahme geltend: die Griechen und Römer der Antike. Diese hätten wenig Tierisches gegessen und vielmehr die „Barbaren“ als Fleischesser verachtet. Da haben wir sie wieder, die Parteinahme fürs Imperium und gegen die staatslosen Gesellschaften. So darf man freilich denken; aber ist das dann libertär?

Am Ende treffen sich also Tim Kröger und meine antispeziesistischen KritikerInnen in ihrem expliziten oder impliziten Unbehagen an der Kultur. – Kürzlich stieß ich auf ein Diskussionsforum im Internet mit dem Titel „Komplementärforum“. Dort hat ein gewisser „Mesiu“ am 17.10. meinen Beitrag Satz für Satz aus antispeziesistischer Sicht zerpflückt und kommentiert.

In der Einleitung bezeichnet er seinen Text als bereits ältere Sammlung von „Fragen und Anmerkungen“ an mich; und auf eine entsprechende Rückfrage in dem thread entblödet er sich nicht, 15 Stunden, nachdem er seinen Text gepostet hat, zu bemerken: „Haude hat selbstverständlich bis heute nicht reagiert“; so, als hätte er mir seinen Text persönlich zugeschickt, was „selbstverständlich“ nicht der Fall war.

Als ich diese Diskussions-Seite fand, enthielt sie auch die Einlassung eines Achim Stößer, der meinen Hinweis auf die Geschmacklosigkeit der PETA-Holocaust-Kampagne, jüdische Kinder ausgerechnet mit Schweinen zu parallelisieren (die für gläubige Jüdinnen und Juden ein „Gräuel“ sind), so pariert: „Hier müßte er [Haude] sich fragen lassen: Inwiefern sind religiöse Wahnvorstellungen ethisch relevant?“ Es ist nicht nur die Sorglosigkeit bemerkenswert, mit der in diesem Statement die Überlebenden der Shoah mit Hohn überschüttet werden. Auch die Annahme, dass ethische Relevanz ganz und gar ohne kritischen Bezug auf die auch religiösen Wurzeln der Ethik begründet werden könnte, mutet befremdlich an.

Es bleibt dabei: Menschliche Kultur, und damit auch menschliche Ethik, sind bei den extremen TierfreundInnen nicht in den allerbesten Händen.

Auf eine Weise ähneln sie der alten Dame aus dem vierten Stock, die ihren „Fiffi“ umso abgöttischer liebt, als sie von allen Menschen schwer enttäuscht ist. Rührend. Aber nicht zur Nachahmung empfohlen.