Wolfgang Rüddenklau (* 1953 in Erfurt) bekam schon früh Ärger mit den DDR-Staatsorganen, die ihn als "eingeschworenen Feind unserer Gesellschaft" charakterisierten. Seine Weigerung, den Zwangsdienst in der Nationalen Volksarmee (NVA) abzuleisten, versperrte ihm den Weg zum Studium an den staatlichen Hochschulen. Nach dem früh abgebrochenen kirchlichen Theologiestudium am Sprachenkonvikt in Berlin absolvierte er eine Ausbildung als Kinder- und Jugendarbeiter im kirchlichen Dienst. Nach der Probezeit wurde er wegen "mangelnder Anpassungsfähigkeit" nicht übernommen. Anschließend arbeitete er u.a. als Nachtwächter, Hausmeister und Friedhofsarbeiter. Anarchistische und radikaldemokratische Literatur prägten seine Weltanschauung. Seit 1978 wohnt er in Berlin, wo er den Friedens- und Umweltkreis der Pfarr- und Glaubenskirche in Berlin-Lichtenberg gründete. Die erste DDR-Stellungnahme zum Super-GAU im sowjetischen Atomkraftwerk Tschernobyl 1986 stammt aus diesem Umweltkreis. Im September 1986 war Wolfgang Rüddenklau Mitbegründer der Ostberliner Umwelt-Bibliothek (UB). Zudem war er Gründungsmitglied und Redakteur der libertär-basisdemokratischen DDR-Oppositionsorgane Umweltblätter (1986 - 1989) und telegraph (seit 1989). Seine Aufsehen erregende Verhaftung im Zuge der Stasi-Aktion "Falle" gegen UB und Umweltblätter am 24./25. November 1987 sorgte für erfolgreichen Protest und bewirkte ein Anwachsen der DDR-Oppositionsbewegung.
Der erste Teil des Interviews endete mit der Frage, ob der Anarchist Michail Bakunin posthum mit der These - "Gib dem größten Revolutionär Macht und er wird zum Tyrannen" - Recht behalten habe (GWR-Red.).
Fortsetzung aus Graswurzelrevolution Nr. 343
Wolfgang Rüddenklau (WR): Pierre-Joseph Proudhon und andere haben das ähnlich gesagt. In der DDR wurde dann immer Rosa Luxemburg zitiert, dieser Aufsatz zur Russischen Revolution, in dem sie sich in ganz ähnlicher Weise drastisch ausdrückt.
Also, Demokratie ist sozusagen eine unabweisbare Angelegenheit.
Marx hat Ideologie und Moral für zweitrangig erklärt. Das wäre eine Frage von Bewusstsein. Das würde sich dann herausstellen, wenn das gesellschaftlich jeweils höchste Bewusstsein, in dem Fall das der Arbeiterklasse, zum Sieg kommen würde. Das würde dann die Moral prägen.
Damit hat man sozusagen einen Werterelativismus aufgemacht. Sozusagen alles das, was die Arbeiterklasse bzw. nach Lenin deren bewusstester Stoßtrupp gemacht hat, war dann Sozialismus. Damit hat man sich auf ein ganz anderes Boot gesetzt.
Für mich ist Sozialismus oder ich sage mal die Zukunftsgesellschaft, um das mal etwas diffuser oder offener auszudrücken, eben mit solchen ganz fest stehenden Werten verbunden, Grundrechten beispielsweise, Demokratie, in welcher Form auch immer, aber jedenfalls auch wirtschaftliche und möglichst wenig Staat. Man wird wahrscheinlich nie ganz auf so etwas verzichten können, aber möglichst wenig Staat und dergleichen.
Christoph Krebber (CK): Mich würde interessieren, wie es dann nach dem Mauerfall weiterging. Die Zielsetzung, wie du sie gerade beschreibst, stand dann ja im Grunde, oder? Diese Ziele, diesen „Zukunftssozialismus“, wie du ihn gerade beschrieben hast, den habt ihr doch damals Ende der 80er bestimmt für euch so formuliert, oder? Wie ging es denn dann weiter, mit eurer Zeitschrift, dem telegraph?
WR: Nein, das ist jetzt eine Sache, die ich sage und die in Diskussionen sicherlich für viele Leute so stand, die eine ganze Reihe von Leuten so sahen. Es gab andere, die andere Ansichten hatten.
Der Friedenskreis Friedrichsfelde bzw. Leute in deren Hintergrund, das waren Marxisten, durchaus demokratische in unserem Sinne, aber diesen Werterelativismus haben sie in ähnlicher Weise mitgetragen. Es gab ein breites Spektrum von politischen Anschauungen, von Rätesozialisten, Trotzkisten, Linksliberalen, Anarchisten bis zu Christen, die da zusammenarbeiteten und durch einen gemeinsamen starken Gegner zusammengehalten wurden, die sehr viel gemeinsamen Weg hatten, bis zu einer gewissen Stelle. Und die kam eben, als man sich entscheiden musste, als von der Bundesrepublik Deutschland sehr starke Anfragen Richtung Wiedervereinigung kamen, als das alte System sich verabschiedete, der Sowjetblock, Gorbatschow von der DDR Abschied nahm und sozusagen die Richtung Wiedervereinigung offen war und auch sehr viele Leute in der DDR das so wollten. Da trennte sich dann sehr vieles voneinander, da gab es die unterschiedlichsten Entwicklungen.
Wir sind das geblieben, was wir waren, eine kleine Gruppe, aber andere sind anderes geworden. Beispielsweise das Neue Forum, das ich durchaus noch mit sehr freundlichen Augen betrachten kann. Die haben versucht, eine basisdemokratische Sammlungsbewegung zu machen, die sich dann sehr bemüht haben, aber natürlich angesichts dessen, was da an westdeutschen Geldern reingeschickt wurde, aussichtslos waren. Die Etablierten hatten ja extra die Wahl vorverlegt, damit das Neue Forum und ähnliche Gruppen keinen Fuß auf die Erde bekamen. Das Neue Forum und die anderen Gruppen der Bürgerbewegung hätten eine Menge Zeit gebraucht, um so eine Wahl vorzubereiten, überall vor Ort hätten sie geradezu zu Fuß gehen müssen. Während die westdeutschen Parteien in der Situation mit ihren Hochglanzplakaten, ihren schicken Autos und den ganzen Apparaten der DDR-Blockparteien, die sie sich angegliedert hatten, natürlich dann den absoluten Overkill hatten.
Bernd Drücke (BD): Du hast 1992 zu den Ereignissen, zu den Umweltblättern und der Umwelt-Bibliothek mit „Der Störenfried“ im BasisDruck-Verlag auch ein sehr lesenswertes und wichtiges Buch gemacht. Wenn man sich jetzt die Medienberichterstattung zum Thema „20 Jahre Wende“ anguckt, das ist ein Problem. Was da zu sehen ist, das ist zum großen Teil auch eine Geschichtsverfälschung.
„Der Störenfried“ ist vergriffen.
WR: Ja, seit Jahren. Es gab eine zweite Auflage. Wenn man das wieder erneuern wollte, dann müsste man ein völlig anderes Buch schreiben, und dazu hatte ich zuviel Ekel.
BD: Zuviel Ekel?
WR: Zuviel Ekel.
BD: Es wäre aber doch wichtig, da eine Geschichtsschreibung von unten fortzusetzen.
WR: Ja, du bist jung. Und du solltest es unbedingt tun.
Aber diese Art von Gesellschaft flößt mir verschiedentlich einfach bloß Ekel ein. Und mein Ekel wächst, je mehr ich mich mit der Materie beschäftige. Und damit werde ich demotiviert und hänge rum und bin bloß noch traurig. Das ist schwierig. Da komme ich nur zeitweise raus. Das ist wirklich ein Problem für mich.
BD: Hm. 1989/90 sind auch sehr viele gesellschaftliche Freiräume in der DDR entstanden, ich meine vor dem 3. Oktober 1990.
WR: Ja.
BD: Allein in Ost-Berlin gab es 1990 zeitweise bis zu 130 instandbesetzte Häuser, es ist zum Beispiel auch die Freie Schule in Leipzig gegründet worden, einfach aus dieser sozialen Bewegung in der DDR,… Im Grunde war 1989/90 eine revolutionäre Phase.
WR: Es gab überall freie Zeitungen, freie Radios. Bloß: Null Chance. Ein Freund sagte mir damals: „Genieße die Zeit. Die Zeit zwischen zwei Systemen ist vielleicht die einzige Freiheit, die es wirklich gibt.“
Ich habe damals in einem besetzten Haus in der Kastanienallee gewohnt, mit ansonsten fast nur West-Autonomen zusammen. Und ich kann mich da noch sehr deutlich daran erinnern, wie bei der Vollversammlung, die sie einmal die Woche machten, der große Hordenführer erklärte: „Wir wollen ja nicht, dass es zugeht wie da draußen.“
Was ging da draußen zu? Das war die freieste Zeit des Landes. Das hat er überhaupt nicht begriffen. Ein Dogmatiker, wirklich übel.
Es war schon toll. Also, ich fahre auf dem Fußgängerweg mit dem Fahrrad, an der Bordsteinkante gehen zwei Polizisten, ich gucke die Polizisten an, sie gucken weg.
Aber die Sache hatte natürlich auch Haken. Letztlich war nichts zu retten, sobald die Wacht übergeben wurde.
Die damalige Bonner Regierung wanderte landauf, landab mit dem Scheckbuch herum.
Im Unterschied zu den Sagen, die man heute erzählt, sind die Stasileute richtig eingekauft worden, unter anderem auch mit diesem „Einigungsvertrag“, wo beispielsweise festgelegt wurde, dass dann der Abschluss dieser Stasihochschulen, wo die Stasiverhörer studiert haben, als Juradiplom anerkannt wurde, im Unterschied übrigens zu vielen anderen Berufs- und Studienabschlüssen der DDR, die nicht anerkannt wurden. Man hat geheime Armeen mit dem Scheckbuch unterdrückt.
Während wir dann natürlich eher im Wege rumstanden und blöderweise auch als unbestechlich galten. Die Bürgerbewegung, die Oppositionsgruppen, die wollte man aus dem Wege haben, bei aller Hochachtung, die man immer wieder versichert hat. Aber das waren halt „weltfremde Träumer“, die den neuen Machtverhältnissen im Wege standen.
Die Opfer des Kommunismus, über die man sich öffentlich ausweinte, bekamen erst 17 Jahre später eine spärliche Opferrente – und auch nur dann, wenn sie nachweisen können, dass sie bedürftig sind.
BD: Der telegraph erscheint bis heute weiter. Du bist aber irgendwann ausgestiegen.
WR: Ja.
BD: Möchtest du dazu etwas erzählen?
WR: Na ja, das ist eine Zeitschrift geworden, die sich wesentlich auf Westlinke bezieht und eben kaum noch eine Verbindung mit dem hat, was in der DDR geschehen ist, was wir an Lehren daraus gezogen haben.
Jetzt sind sie sogar für ihre neueste Ausgabe in der jungen Welt gelobt worden. (1) Das geschieht ihnen Recht. Dann ist man wirklich am Ende angelangt. Als „unsere Revolutionäre“ hat die marxistische Tageszeitung junge Welt sie apostrophiert. Sie haben endlich einen Teil der DDR-Opposition entdeckt, der ihnen in den Kram passt.
Ich bin damals ausgestiegen, weil ich das Gefühl hatte, dass ich immer wieder das Gleiche sage, wiederhole, und zwar ohne Resonanz wiederhole, dass ich ein Papagei bin. Und es wuchs bei mir eben, wie gesagt, der Ekel über diese Entwicklung. Ich konnte dann lange Jahre gar nichts mehr oder nur noch sehr wenig sagen. Das ist eigentlich auch nicht so richtig vorbei.
Es war ja tatsächlich so, dass wir mal einen kurzen Augenblick davor standen, unsere Vorstellungen verwirklicht zu sehen. Jedenfalls, wenn man ein bisschen durch die Finger guckte. Wir haben unsere alten Gegner besiegt und fallen sehen. Dann war es aber doch vorbei. Es war nur ein sehr kurzfristiger Sieg.
BD: Aber immerhin. Vor der nationalistischen „Wir sind ein Volk“-Konterrevolution und der Staats-Einverleibung durch die BRD gab es in der DDR eine Revolution, vielleicht eine gewaltfreie Revolution. Im Rückblick denke ich, war das eine großartige Leistung gewesen, auch gerade von Umwelt-Bibliothek, telegraph und Umweltblättern. Das waren ganz wichtige Mobilisatoren für die revolutionären Entwicklungen 1989.
WR: Das Blöde ist, dass die Leute nichts aus ihrer Geschichte lernen. Eigentlich sind die Menschen im Osten ziemlich kapitalismuskritisch, von dem, was sie an Schulunterricht, an Anschauungen über den Westen aus dem Osten heraus gewonnen haben. Aber wenn es Prämien gibt, dann werden sie alle verlockt und sobald sie verzweifelt sind, gehen sie leider in eine Richtung, die gar nicht angenehm ist: sehr viel rechte Bewegung in Ostdeutschland, die alten SED-Parteikader, die sich in der Linken vereinigt haben, sehr wenig basisdemokratische Ansätze. Es ist wirklich traurig.
Und im Westen läuft es ja kaum anders, denke ich mal.
BD: Ich würde die Situation nicht ganz so schwarz malen. Es gibt schon noch emanzipatorische, soziale Bewegungen. Man hat es gerade vor der Bundestagswahl in Berlin gesehen: 50.000 Menschen haben dort am 5. September 2009 gegen die Atompolitik demonstriert,…
WR: … und die FREIe HEIDe hat gewonnen!
BD: Genau. Die FREIe HEIDe hat gewonnen. Das ist doch großartig. Das haben wir in der Graswurzelrevolution auch ordentlich abgefeiert.
WR: Das ist wirklich erstaunlich, dass eine Bewegung über die Jahre so lange durchgehalten und dann auch noch einen Sieg davon getragen hat. Und die Probleme werden dann natürlich jetzt erst noch beginnen. Aber man sollte sich natürlich erst einmal darüber freuen. Das ist wirklich eine tolle Geschichte. Es war, glaube ich, die größte Bewegung.
BD: Die größten Ostermärsche in den letzten Jahren hat es in der FREIen HEIDe gegeben.
WR: Nicht nur in Ostdeutschland, sondern auch insgesamt. Sozusagen als lokale Bewegung ist es schon ziemlich einmalig.
BD: Ich glaube, wir müssen ein bisschen etwas zur FREIen HEIDe erklären. Also, das Bombodrom, das war zu Zeiten der DDR ein großer Bombenabwurfplatz des Wahrschauer Pakts. Vielleicht erzählst du da etwas zu?
WR: Das war russisches Manövergebiet, wo dann immer das Bomben geübt wurde. Das ist 1946 beschlagnahmt worden. Ein riesiges Gebiet zwischen vielen Dörfern, durch das man nicht mehr durchgehen konnte, das sind bestimmt fünf mal fünf Kilometer oder sogar mehr, wo man immer drum herum fahren musste. Dörfler, die miteinander zu tun hatten, hatten immer einen irrsinnigen Umweg zu fahren. Die Gelände sind verloren gegangen, und dann gab es die Frechheit, dass dieses Gelände nach der Wende nicht an die Eigentümer zurückgegeben wurde, wo in einer kapitalistischen Gesellschaft ja eigentlich das Eigentum heilig ist. Stattdessen bekam es die Bundeswehr. Das heißt, die wollte das Manövergebiet als Bombenabwurfplatz weiter benutzen.
Dann haben die Leute angefangen, sich zu wehren, und da sind dann sozusagen aus DDR-Zeiten vorgebahnte Gemeinschaften zusammen gekommen. Es waren viele Pfarrer dabei, auch die Graswurzler waren dabei. Ich habe noch das Bild in Erinnerung, wie der Bischof Fork, der alte Bischof von Berlin-Brandenburg, der da schon pensioniert war, dann auf offener Tribüne unter schwarz-roter Fahne predigte. Er hatte wenig Berührungsängste, wenn die Inhalte stimmten, dann hat er eben ja gesagt. Das ist genau der Punkt. Von schwarzen oder roten Fahnen kann man sich sehr wenig kaufen. Ich denke, dass es wirklich darauf ankommt, ob die Inhalte stimmen.
BD: Du hattest schon zu DDR-Zeiten gute Kontakte zu GraswurzelrevolutionärInnen im Westen.
WR: Ich kannte die Graswurzler schon lange. 1986 konnten wir dann mal kurz in den Westen reisen. Das war eine Aktion der Stasi. Viele Oppositionelle bekamen plötzlich ein Visum genehmigt. Offensichtlich mit der Zielstellung, uns loszuwerden. Wir sind aber blöderweise alle wieder zurückgekommen.
Aber dadurch hatte ich ein einziges Mal, obwohl ich ansonsten von der Stasi „Reisesperre für alle Länder der Welt“ hatte, die Möglichkeit, nach Westen zu fahren. Wir hatten persönliche Friedenspartnerschaften gemacht, ich mit Hans Hücking, einem grünen Stadtrat aus Dortmund, den ich bei der Gelegenheit natürlich besucht habe.
Dort traf ich dann auch die Dortmunder Graswurzler.
Da hatte gerade Reagan in Libyen gebombt und es gab eine Demonstration der Dortmunder Linken.
Das war schon toll, mal unter schwarz-roten Fahnen zu marschieren. Das ist eine rein äußerliche Geschichte, aber das fehlte uns schon ein bisschen – man wäre in der DDR dafür sofort verhaftet worden. Aber bezeichnenderweise fuhr dem Ganzen ein DKP-Lautsprecherwagen voran. Das ist mir sehr aufgestoßen. „Ja, das ist halt so, die haben halt die Logistik und die Technik. Und wir haben sie nicht und da kann man eben nicht anders und muss halt ein bisschen zusammenarbeiten.“ So war das.
Andererseits hat mich sehr geärgert, dass unsere Anarchos bei der großen Ostberliner Demonstration am 4. November 1989 unbedingt im Autonomen-Look, maskiert und in einem „Schwarzen Block“ auftreten mussten. Das war zu einem Zeitpunkt, als es darum ging, den gemeinsamen Willen Aller zu demonstrieren, nichts weiter als eine bombastisch-pubertäre Aufkündigung der Solidarität. Man macht eine Revolution nicht für sich selbst, sondern für die Leute und mit den Leuten des Landes. Die gleichen Leute haben dann durch ihre unkooperative Haltung die Gründung der Vereinigten Linken sabotiert – ohne jetzt den Beitrag der stalinistischen Dogmatiker vergessen zu wollen. Es geht nicht um Fahnen, sondern um Inhalte.
CK: Vielleicht noch einmal einen ziemlich weiten Sprung zurück. Du hast ganz am Anfang gesagt, dass dein Vater Pastor war, und wir haben gehört von der innerkirchlichen Druckerlaubnis. Wie ist denn dein Verhältnis zur Religion? War die katholische oder evangelische Kirche zu DDR-Zeiten sogar eher eine revolutionäre Kraft? Oder eine reaktionäre? Was bedeutet das für dich? Bist du gläubiger Christ als Anarchist?
WR: Das weiß ich nicht. Ich würde mich nicht direkt als gläubig ansehen. Ich weiß über diese Dinge nichts zu sagen. Kein Mensch weiß darüber genau etwas zu sagen. Ich verhalte mich abwartend. Für mich kommt es darauf an, welche Werte da vertreten werden. Die DDR-Kirche war durch die Situation im SED-Regime in eine schwierige Lage gebracht worden. Teilweise haben sie sich auf die EKD gestützt, auf die Evangelische Kirche Deutschlands, auf die Westkirche, und haben versucht, dort immer ein bisschen Mut und übrigens auch Geld zu tanken und dadurch zu überleben.
Es gab aber eben auch einen Reformflügel. Verschiedene Pfarrer, die kann man letztlich an zwei Händen aufzählen, quer durch die DDR, die versucht hatten, etwas Neues zu machen, die eine Chance sahen, die Evangelische Kirche zu erneuern, als revolutionäre Kirche, als soziale Kirche. Das hat zu verschiedenen, sehr interessanten Ansätzen geführt, von Sozialarbeiterausbildung, Arbeit mit Schlüsselkindern und dann eben diese berüchtigte Offene Arbeit. Man hat Jugendlichen, die auf der Straße lagen, Räume gegeben und man hat keine Voraussetzungen, keine Gebetsrunden da eröffnet, sondern einfach gesagt: „Ihr müsst sehen, was ihr wollt“. Diese Offene Arbeit, das waren selbstkontrollierte, selbstorganisierte, selbstregierte Gruppen. Die haben versucht, sich selbst zu finden, und sehr vernünftige Sachen gemacht. Diese Evangelische Kirche war natürlich in der Minderheit, aber dann doch in Teilen eine gesellschaftsoffene Kirche geworden.
All das ist nach der „Wende“ abgewickelt worden. Diese Leute sind entsorgt worden in Bereiche, in denen sie keinen Schaden mehr anrichten können.
BD: Du arbeitest in der Gedenkstätte Hohenschönhausen.
WR: Ja, der alte Stasiknast, wo ich mal fünf Tage lang gesessen habe. Bekannt geworden ist die Gedenkstätte durch die Aktionen und Moderationen von Dr. Hubertus Knabe, der immer sehr stark O-Ton-Adenauerstiftung redet.
Man kann unterschiedliche Schlussfolgerungen ziehen. Für mich ist der Punkt Grundrechte wesentlich. Man kann den Wert von Grundrechten sehen, wenn man sieht, was passiert, wenn es keine Grundrechte gibt.
Das möchte ich Leuten nahe bringen, diese Werte zu achten. Auf diese Werte acht zu geben auch gegenüber den regierenden Häuptern, die da ja jedes Jahr mächtig dran herumsägen. Das sage ich dann auch immer, dass das kein vergangenes Problem ist, sondern durchaus ein sehr gegenwärtiges.
Es gibt Leute, die da andere Führungen machen, andere Schlussfolgerungen ziehen, keine Frage, aber das ist eben meine Schlussfolgerung, und das halte ich für wichtig.
BD: Hast du ein Fazit oder eine wichtige Information, die du hier noch loswerden möchtest? Jetzt, gerade auch 20 Jahre nach der Wende?
WR: Nein, tut mir leid. Ich kann nichts Allgemeines sagen.
Wenn man etwas älter wird, dann fehlt einem das Organ für die Dinge. Man wird bescheidener. Vielleicht bin ich schon etwas zu unbescheiden gewesen.
BD: Nein, vielleicht eher etwas zu bescheiden. Ich denke, durch deine Arbeit damals ist ja viel in Gang gesetzt worden.
WR: Wir im Osten liebten die Bescheidenheit. Das kam vom System her, weil jeder, der auffiel, sofort von der Stasi besucht wurde. Ich sage immer: Wenn im Osten ein Ei gelegt wurde, dann ist man still beiseite gegangen, denn es bestand gar nicht die Gefahr, dass übersehen wird, dass ein Ei gelegt wurde. Sofort kam die Stasi und alle möglichen anderen Organe und brüllten rum „Es ist ein Ei gelegt worden! Ein Ei! Wer war der Eierleger?“
Heutzutage muss man schon, selbst wenn man kein Ei gelegt hat, in jedem Fall gackern, sonst könnte der Verdacht aufkommen, dass man keine Eier legen kann.
Wir im Osten haben gerne unser Licht unter den Scheffel gestellt. Das finde ich angenehmer als Haltung. Und übrigens ist auch der Anteil von persönlicher Leistung und kollektivem Denken an einem Ergebnis immer schwer zu klären. Man sollte da lieber auf der Seite der Bescheidenheit bleiben.
BD & CK: Herzlichen Dank für das Gespräch.
(1) Anm. des Setzers BD: Eine ähnliche Kritik könnte Wolfgang Rüddenklau auch auf die Graswurzelrevolution anwenden. Sie wurde in den letzten Jahren nämlich ebenfalls in der Jungen und Mädchen Welt positiv gewürdigt. Das ist erstaunlich, weil die GWR aus marxistisch-leninistischer Sicht natürlich nach wie vor ein "kleinbürgerlich pseudorevolutionäres" Anarcho-Blatt ist.
Anmerkungen
Die im Oktober 2009 im Studio des Medienforums Münster produzierte Radio Graswurzelrevolution-Sendung mit dem telefonisch aus Berlin zugeschalteten Interviewpartner Wolfgang Rüddenklau wurde im November u.a. vom Stadtradio Münster, von Radio Corax (Halle) und dem coloRadio (Dresden) ausgestrahlt. Die Radiosendung findet sich gekürzt (und wegen GEMA online leider ohne Musik) auf: http://www.freie-radios.net/portal/content.php?id=30582
Wolfgang Rüddenklaus Anregung, ein neues Buch zum Thema zu machen, wird aufgenommen. Voraussichtlich im Sommer 2010 erscheint das von Bernd Drücke herausgegebene / geschriebene Buch "Die Beschleunigung der Zeit. Libertäre Bewegungen, Alternativmedien und revolutionärer Umbruch in der DDR 1986 - 1990" (Arbeitstitel) im Verlag Graswurzelrevolution (Nettersheim, ca. 240 Seiten, ca. 19.80 Euro).
Vorbestellungen und Anregungen bitte an: redaktion@graswurzel.net
Zum Thema siehe auch: Anarchy in East-Germany. Ohne Umweltblätter und telegraph hätte es die "Wende" 1989 nicht gegeben, Artikel von Bernd Drücke, in: GWR 340, Sommer 2009, www.graswurzel.net/340/1989.shtml
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