Vor zwanzig Jahren, als die Mauer fiel, wurde von einigen im Begeisterungstaumel befindlichen KommentatorInnen schon eine neue, gewaltarme und gerechtere Welt prophezeit, weil ja nun der Kalte Krieg zu Ende sei und der Grund für Stellvertreterkriege wegfiele. Die Naivität solcher Prophezeiungen lag vor allem darin, dass sich an den grundlegenden Institutionen und Strukturen im Westen und im Süden ja nichts geändert hatte.
Die Massengewalt kam sogar zurück nach Europa (Ex-Jugoslawien-Krieg); in Ruanda kam es von April bis Juni 1994 zu einem Genozid; in Darfur/Sudan wird über eine ähnliche Bezeichnung diskutiert; im kongolesischen Bürgerkrieg sind seit 1994 Millionen Menschen gestorben und die „Menschenrechts“-Kriege im Irak (1991 und seit 2003) oder Afghanistan (seit 2001) haben viel mit Formen des Massenmords und der Massengewalt zu tun.
Da nun der Sicherheitsrat der UN bei Verurteilung und Vorgehen nicht mehr durch die Vetopraxis der jeweils anderen Supermacht blockiert war, entstanden nicht nur eine Fülle neuer Beispiele militärischen Eingreifens durch UN, NATO oder die US-Armee und ihrer Verbündeten, sondern auch eine Reihe neuer internationaler Rechtsinstitutionen wie der Internationalen Tribunale gegen den Krieg in Ex-Jugoslawien und zum Genozid in Ruanda, die im Juli 2002 in den Rom-Statuten zur Schaffung eines Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag mündeten.
Das erste Urteil wegen Beteiligung an einem Genozid wurde am 2.9.1998 gegen den ruandischen Bürgermeister Jean Paul Akayesu ausgesprochen (wobei erstmals Massenvergewaltigungen als Bestandteil eines Genozids definiert wurden). Gleich danach wurde der damalige Premierminister Ruandas, Jean Kambanda, verurteilt.
Die Hoffnung der BefürworterInnen Internationalen Rechts war die, Verantwortlichen für Genozid oder Massengewalt, wenn nötig auch Staatschefs, mit Strafen vor Internationalen Gerichten zu drohen und so Massengewalt und Genozid präventiv eindämmen und reduzieren zu können.
Einerseits ist dadurch die absolute Staatssouveränität durchaus angetastet und willkürlichen Regimes und Diktatoren angezeigt, dass sie sich nicht alles erlauben können.
Andererseits ist der Glaube, sie würden sich dadurch abschrecken lassen, so realistisch wie die These, die Todesstrafe könne von Mord abhalten.
Diese Gerichte sind seit Bestehen zu Recht Ziel starker internationaler Kritik, weil sie bestimmte Fälle von Massengewalt, besonders infolge von Bombardierungen westlicher Militärs (Belgrads und Serbiens, des Irak, Afghanistans), völlig außen vor lassen und es undenkbar bleibt, dass sich etwa ein Schröder, eine Merkel, ein Bush, Blair, Obama, überhaupt irgendwelche befehlshabenden Bundeswehr-, US- und NATO-Militärs oder vergewaltigende, folternde und mordende westliche SoldatInnen jemals vor diesen Gerichten werden verantworten müssen.
Parallel dazu hat sich seit zwei Jahrzehnten eine veritable Genozidforschung entwickelt, u.a. mit Zeitschriften wie dem Journal of Genocide Research oder auf Websites wie der Online Encyclopedia of Mass Violence. (1) Einige neuere Publikationen geben darüber einen guten Überblick und sollen hier diskutiert werden. (2)
Erinnerung an Raphael Lemkin: Der Zusammenhang von Nationalsozialismus und Kolonialismus
Die Genozid-Konvention wurde am 9.12.1948 von der UN-Vollversammlung verabschiedet und geht hauptsächlich auf den Juristen für internationales Recht polnisch-jüdischer Herkunft, Raphael Lemkin (1900-1959), zurück. Lemkin führte schon 1944 in seinem Buch „Axis Rule in Occupied Europe“ (Die Herrschaft der Achsenmächte im besetzten Europa) (3)
den Begriff ‚Genozid‘ (griech. genos für Rasse, Volk oder Stamm; lat. caedere für töten; im Deutschen hat sich lange der Begriff Völkermord gehalten) für die Verbrechen der Nazis ein.
Erst durch die jüngere Wiederentdeckung Lemkins rückten auch seine anderen Studien ins Blickfeld des Interesses. Lemkin hatte außerdem zum Völkermord an den ArmenierInnen publiziert. Zwei weitere Arbeiten befassten sich mit der Kolonialherrschaft der Deutschen in Südwest-Afrika und dem Genozid an den Herero (1904) und den Nama (1904-1908); sowie eine mit der Massengewalt der Belgier im Kongo. Die Kolonialismus-Arbeiten Lemkins blieben unveröffentlicht.
An seiner zeitweiligen Vergessenheit während des Kalten Krieges ist Lemkin selbst nicht unschuldig, er war ein strammer Antikommunist und Verteidiger des britischen Kolonialismus, dem er das intentional auf Vernichtung ausgerichtete Vorgehen der deutschen Kolonialmacht gegenüberstellte. (4)
Die angenommene UN-Konvention definiert „Genozid“ seit 1948 als „Absicht, eine national, ethnisch, rassisch oder religiös bestimmte Gruppe teilweise oder ganz zu zerstören, mit der Intention
- Mitglieder der Gruppe zu töten,
- Mitgliedern der Gruppe schwere körperliche oder seelische Schäden zuzufügen,
- Die Gruppe unter Lebensbedingungen zu stellen, die geeignet sind, deren körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen (das war etwa bei den Herero der Fall, wo der deutsche Oberkommandierende von Trotha die Überlebenden nach der Schlacht am Waterberg in die Omaheke-Wüste zwang und dann die Zugänge abriegelte; d.A.),
- Maßregeln zu verhängen, die Geburten innerhalb der Gruppe verhindern sollen,
- Kinder der Gruppe in eine andere Gruppe gewaltsam zu überführen“. (5)
Die Genozid-Forschung legt vor diesem Hintergrund bei der Analyse des Nationalsozialismus und der Kriegsziele Hitlers viel Wert auf die Konzepte „Volk ohne Raum“, d.h. dass die Deutschen Kolonisierte tendenziell nicht für sich arbeiten lassen (wie die anderen Kolonialmächte), sondern sie vernichten wollten, um leeres Territorium für deutsche SiedlerInnen zu gewinnen. Der Russlandfeldzug war von Hitler als Kolonisierungsfeldzug geplant worden, und Hitler kannte die Kolonialgeschichte. (6)
Er sprach sogar nationalistischen Befreiungsbewegungen aus der „Dritten Welt“, die sich an ihn wandten, prinzipiell das Recht auf Unabhängigkeit ab, selbst wenn es sich beim Kolonisator um den Kriegsgegner England handelte. (7)
Durch diesen Zusammenhang hat sich in der Genozid-Forschung ein Strukturvergleich der nationalsozialistischen Eroberungspraxis mit derjenigen des Kolonialismus entwickelt. Neue Publikationen weisen die direkte Verbindung nach, wodurch sogar bisher übersehene Verbrechen des Nationalsozialismus ins Blickfeld rücken, zum Beispiel die Unterscheidung, die bereits beim Frankreich-Blitzkrieg 1940 zwischen weißen französischen Soldaten und schwarzafrikanischen französischen Soldaten (besonders den senegalesischen Artilleristen) gemacht wurde.
Die weißen französischen Soldaten wurden von den Deutschen wie Kriegsgefangene behandelt, die schwarzafrikanisch-französischen Soldaten in mehreren Massakern während des West-Feldzugs der Nazis erschossen (als sozusagen nicht satisfaktionsfähig für die Genfer Kriegskonvention).
Dies ohne dezidierte Anordnung von Hitler, ausgeführt durch Offiziere und Soldaten vor Ort, welche die rassistische Kolonialideologie plus den Nazi-Rassismus so verinnerlicht hatten, dass die konkrete Kampferfahrung im Krieg dann der – immer als zweite Bedingung notwendige – Auslöser für die Massengewalt war. (8)
Diskussionen über eine sinnvolle Geltung der Genozid-Konvention
Nun ist der Bereich der Nationalsozialismus- und Antisemitismus-Forschung ebenfalls in den letzten beiden Jahrzehnten ein hochgradig spezialisierter, personalintensiver Arbeits- und Forschungsbereich geworden, in dessen Mittelpunkt die historische Singularität der Shoah steht. Darin liegt ein Konfliktpotential mit der auf Kolonialismusanalysen basierenden Genozidforschung, das sporadisch immer wieder zum Vorschein kommt.
Bereits der ursprüngliche Text der UN-Genozidkonvention, die ja zentral auf Lemkins Strukturanalyse von Kolonialismus basiert, wurde durch andere Juristen (V. Pella und H. Donnedieu de Vabres) noch so abgeändert, dass ein zentrales Element für Lemkin, nämlich die Zerstörung der Kultur der betroffenen Gruppe (durch Verbot des Ausübens der Sprache, die Zerstörung religiöser Objekte oder historischer Bauwerke), nicht mit aufgenommen worden ist. Begründung dafür war schon damals die Gefahr, dass der Genozid-Begriff so ausgeweitet werden könnte, dass am Ende unvergleichbare Verbrechensdimensionen nebeneinander stünden. (9)
So ist der Konventionstext in der Genozid-Forschung ständiger Diskussions- und Streitpunkt bis heute. Kritisiert wird insbesondere die angeblich explizit notwendige „Intention“ zum Genozid.
Ein weiterer Streitpunkt ist die Zusammensetzung der Opfer, die keineswegs immer homogen sein muss, sondern in großem Ausmaß auch Angehörige ganz unterschiedlicher Gruppen betreffen kann (nicht nur angebliche „Klassen“ wie die Kulaken in der Sowjetunion, sondern auch die BewohnerInnen von Armenvierteln bei brutal durchgeführten slum clearings oder auch die Bombenopfer westlicher Kriegsführung).
Außerdem wird die Frage gestellt, ob grob diskriminierende Unterlassungen wie etwa die jahrelange Weigerung der südafrikanischen Regierung, einen auf dem gegenwärtigen allgemeinen Kenntnisstand der Medizin möglichen freien Zugang zu gegen Retroviren gerichteten Medikamenten zu ermöglichen und also Aids angemessen zu bekämpfen, als ein Akt des Genozids bezeichnet werden können.
Letzteres tat zum Beispiel die recht erfolgreich mittels Kampagnen des zivilen Ungehorsams kämpfende Basisbewegung Treatment Action Campaign (TAC), als sie immer wieder erklärte, durch Unterlassung ermorde die südafrikanische Regierung täglich 600 Menschen. (10)
Hier befindet sich der Diskurs auf dünnem Eis. Und das bricht ein, wenn ein lateinamerikanischer Forscher wie Alejandro Bendaña aus Managua – noch dazu im Namen einer zu entwickelnden süd-hemisphärischen Perspektive auf Genozid (11) – die Begriffe Genozid oder Holocaust gleich für viele, ganz unterschiedliche Beispiele synonym benutzt und sie schließlich zuletzt auf einen US-„genocide as a form of economic war or blockade“ (12) gegen Kuba anwendet (während Kuba in Wirklichkeit seinen Außenhandel jahrzehntelang gemütlich mit der Sowjetunion abwickelte).
Und das alles auch noch im Namen einer alternativen „Politics of Naming“ – einer Politik der Neubenennung all dessen, was die Medien des Nordens aus Sicht des Südens verschweigen.
Wer infolge marxistisch-autoritärer Ideologie willkürlich die Grenzen richtiger Benennung überschreitet und Massengewalt nicht angemessen und abgestuft beschreiben kann, endet also in der Ineinssetzung der Kuba-Blockade mit dem NS-Holocaust!
Damit liegt Bendaña ungefähr auf einer propagandistischen Linie mit Robert Mugabe, der seine Massaker im Matebeleland 1983-85 (13) und die gewaltsamen städtischen slum clearings in Zimbabwe 2005 (14) nicht nur offensiv verteidigt, sondern für alle Verbrechen und die Wirtschaftskrise im Land auch gleich noch die alten imperialistischen Mächte verantwortlich macht – so als hätte es post-koloniale Eigenverantwortlichkeit nie gegeben.
Bei solch antiimperialistischen Plattheiten sollte sich dann auch niemand mehr darüber wundern, wenn auf der anderen Seite rechtsextreme US-FundamentalchristInnen die weltweite Abtreibungspraxis als den allergrößten Genozid und Holocaust in der Geschichte der Menschheit bezeichnen. So wird eine ursprünglich sinnvolle Kategorie völlig wertlos gemacht.
„Extrem gewaltsame Gesellschaften“: Exorzismus des Staates
Der Genozid-Forscher Christian Gerlach hat deshalb ein alternatives Konzept zum „Genozid“ vorgeschlagen, nämlich „extrem gewaltsame Gesellschaften“. Damit sollen jüngere Fälle von Massengewalt besser beschrieben und ihre Ursachen erklärt werden, vor allem Ruanda 1994.
Gerlach grenzt sein Konzept gegenüber der bisherigen Genozid-Definition durch vier Punkte ab:
- Die intentionale Ursachenanalyse für den Massenmord an den europäischen Juden und Jüdinnen sei auf aktuelle Beispiele nicht mehr übertragbar. Viel häufiger sei individuelle Verantwortungslosigkeit bei der Ausführung massenmörderischer Handlungen.
- Bisher seien die Genozid-Analysen zu staatszentriert gewesen. Zuwenig sei auf die Rolle „autonom“ handelnder sozialer Gruppen bei der Durchführung von Massengewalt geachtet worden.
- Die meisten Genozid-Analysen hätten sich bisher auf eine Opfergruppe konzentriert. Es gehe nunmehr immer häufiger um mehrere, unterschiedliche Opfergruppen.
- Bisherige Analysen würden sich auf Rasse- und Ethnizität-Identitäten als Ursache von Massengewalt konzentrieren. Nunmehr müsse von einem Bündel von Ursachen, von einer „Multi-Causality“ ausgegangen werden. (15)
Ich gehe nur auf Punkt 2 ein: Was mich hier verwundert, ist die Relativierung staatlicher Politik oder bürokratischer Strukturen in der Ursachenanalyse, immerhin wurde der Genozid in Ruanda 1994 von einer Hutu-Gruppe aus der herrschenden Elite durchgeführt, d.h. vom Militär im komplett in Besitz genommenen Staatsapparat: durch öffentliche Ausgabe von Waffen, propagandistische Aufstachelung und Mobilisierung der Mehrheitsbevölkerung (von rund 85 Prozent damals) gegen die Minderheit der Tutsi (15 Prozent).
Nun aber soll die Mobilisierung von Massengewalt nur ein gesellschaftliches Phänomen sein?
In einer teils zustimmenden, teils kritischen Auseinandersetzung mit Gerlach bemüht sich Anthony Court sogar darum – im Anschluss an Hannah Arendts Totalitarismus-Analyse (16) -, nun schon im Nationalsozialismus eine Mobilisierungsgesellschaft zu sehen, mit chaotischer Organisierung durch zwei, drei oder gar vier unabhängig nebeneinander agierende, trotzdem zuständige Behörden, Gruppen oder Institutionen, wodurch keine stabile Hierarchie und Bürokratie mehr erkennbar sei. Hitler selbst sei nur noch eine Funktion seiner eigenen Bewegung, der Mobilisierungsgesellschaft.
Der Staat sei im NS der dynamischen Bewegung untergeordnet gewesen, quasi abwesend. (17)
Das alles halte ich – auch wenn Hannah Arendt hier als Gewährsfrau dienen mag – für falsch, ja in Teilen aberwitzig.
Gerade der Nationalsozialismus soll kaum Stabilität, klare Hierarchien, keine klare Befehlsstruktur, keine effektive Bürokratie gekannt haben? Absurd! Die Organisation des Holocaust war bürokratisch und funktionierte mit klarer Befehlskette von oben nach unten.
Die vielfältigen Ausformungen von Staatswesen werden hier von Gerlach und Court, scheinbar nach irgendeiner neuen Mode, einfach reduziert auf eine mögliche Staatsform, nämlich eine stabile, moderne, bürokratische: die bürgerliche – und die wird freigesprochen dadurch, dass nur noch eine staatslose Mobilisierungsgesellschaft als zur Massengewalt fähig erklärt wird.
Stattdessen wäre es doch naheliegender, vom NS als einem Mobilisierungs-Staat zu sprechen. Denn die Steuerung der Mobilisierung blieb in den Händen Hitlers und seiner Führungsclique. Sie hielten ihre Leute und die Bevölkerung ständig mit neuen Kampagnen, die vom Staatsapparat ausgingen, in Atem, bevor der Gedanke an Protest oder Widerstand auch nur aufkommen konnte. Dito der Stalinismus oder der Maoismus mit seiner permanent mobilisierenden „Kulturrevolution“.
Gerlach und Court exorzieren hier den Staat aus ihrer Ursachenanalyse – nichts könnte falscher sein. Doch zum Glück scheinen sie damit innerhalb der Genozid-Forschung auf Widerspruch zu stoßen. Andere AutorInnen sind mit Gerlachs Konzept keinesfalls einverstanden und haben bereits eindeutige Gegenpositionen formuliert.
Das notorische Vergessen einer antimilitaristischen Analyse: Ruanda
Der Krieg ist bei allen GenozidforscherInnen immer etwas Normales, SoldatInnen dürfen sich umbringen. „Massengewalt“ ist auch bei Gerlach immer noch „verbreitete Gewalt gegen Nicht-Kombattanten, d.h. außerhalb des unmittelbaren Kampfes zwischen militärischem oder paramilitärischem Personal“. (18)
Wenn sich SoldatInnen nicht ehrbar wie die alten Ritter bekämpfen, schreiten die Genfer Konvention, die Genozid-Konvention und der Internationale Strafgerichtshof ein, so die Idee des Internationalen Rechts, Kriegsrechts usw. Doch solch einen Krieg gibt es nicht, und sicher nicht in der Moderne. Brutalisierungsprozesse, das Abtöten von emotionalen Hemmungen schon nach dem ersten Morden, die Negierung persönlicher Verantwortung sind dem Krieg, dem Soldatenleben inhärent. Dass fast alle Genozide in oft lang anhaltenden Kriegsperioden und -dynamiken stattfinden, ist für die ForscherInnen kein Grund zu explizit antimilitaristischer Analyse.
Dabei springen Kriegsdynamiken und Militarismen bei den Beschreibungen immer wieder ins Auge: In den Ursachenanalysen zu Ruanda gerät z.B. neuerdings die „Hamitische Hypothese“ ins Blickfeld, eine behauptete Abstammung der „Tutsi“ von kaukasischen Eroberern.
Das hatte 1863 der englische Afrikaforscher John Hanning Speke behauptet.
Über den Anthropologen Charles Seligmann lernte der erste deutsche Kolonialgouverneur von Ruanda/Urundi (1908), der „kaiserliche Resident“ Richard Kandt, die Hypothese kennen und machte daraus starre, essentielle Rasseeinteilungen.
Die Belgier (1916-61 Kolonialmacht in Ruanda) setzten das fort und institutionalisierten die Einteilungen 1933. Danach waren die eher hager und groß gewachsenen Tutsi – meist wohlhabend durch Viehzucht – plötzlich eine gebietsfremde Rasse, eine Eroberer- und Kriegerrasse. Die als einheimisch, „indigen“ geltenden „Hutu“ waren mehrheitlich Ackerbauern. Die rassistische Einteilung wurde in den Pässen explizit vermerkt. Diese Pässe waren beim Völkermord entscheidend.
Die „Tutsi“ mussten ihre Pässe herzeigen, bevor sie mit der Machete abgeschlachtet wurden. Das ist der Anteil der Kolonialmächte, des modernen Rassismus und des bürokratischen Passwesens auch an diesem Völkermord.
Doch beide Gruppen hatten im Laufe der Zeit die Kategorien auch selbst verinnerlicht: Viele „Tutsi“ waren stolz auf ihr vorkoloniales Krieger-Königreich in Ruanda, verinnerlichten ihren Kolonialstatus als „Eroberer“ und wehrten sich so gegen Ansprüche der aus ihrer Sicht zum Dienen geborenen „Hutu“-Untergebenen.
Nun trug der Mythos der bewaffneten Revolution zur Verschärfung bei: 1959 kam es zu einer Bauern-Revolte der Hutu, die bereits klar nach Rassekriterien durchgeführt wurde.
Nicht irgendeine herrschende Funktionselite, sondern 10.000 Tutsi wurden dabei getötet, rund 150.000 Tutsi flohen nach Burundi und Uganda – das alles verbrämt durch eine Sprache der revolutionären bewaffneten Unabhängigkeitsbewegung.
1961 wurde Ruanda offiziell unabhängig. Im Exil kultivierten die Tutsi-Flüchtlinge einen Diskurs der rückkehrenden Eroberer-Krieger und patriarchalischer Rache – es gab immer wieder vereinzelte Invasionsversuche, die von der Hutu-Regierung Ruandas zunächst zurückgeschlagen wurden und in isolierten Massakern gegen die gebliebene ruandische Tutsi-Minderheit mündeten.
1972 kam es auf der anderen Grenzseite zu Massenmorden an Hutu im von Tutsi regierten Burundi, bei der rund 200.000 Hutu umkamen.
So war das unabhängige Ruanda bis zum Genozid permanent von martialischen Drohungen der exilierten Eroberer-„Rasse“ bedroht – extremistische Hutu-Fraktionen konterten mit Drohungen und Propaganda in den regierungseigenen Medien gegen die innerhalb Ruandas verbliebenen Tutsi, sie massenhaft umzubringen, wenn die Invasion stattfinden sollte.
Die kam dann als Guerillakrieg durch die Rwandan Patriotic Front (RPF) seit Oktober 1990 von Uganda aus. Die Hutu-Extremisten organisierten sich ebenso seit 1990 unter dem Dach der herrschenden Hutu-Elite, die mehr und mehr mit der relativ gemäßigten Regierung von Präsident Habyarimana unzufrieden waren.
Von 1990-1993 kam es bereits zu einzelnen Massakern an einheimischen Tutsi. Die Realität des Guerillakrieges, beständige rassistische Propaganda und Gegenpropaganda führten zu einem Aufschaukeln der Situation. Die Angst vor neuer Unterdrückung durch eine Tutsi-Rückkehr half dabei, die Hutu-Massen für das Ziel der Hutu-Extremisten zu gewinnen. (19) Nur noch der Anlass zum Losschlagen fehlte. Der kam dann durch die bis heute ungeklärte Ermordung Habyarimanas, die propagandistisch sofort der Tutsi-Guerilla zugeschrieben wurde. Gleich danach begann der Genozid, rund 800.000 von etwas über 1 Mio. Tutsi in Ruanda wurden getötet.
Nur wer bei den Arbeiten der Genozid-ForscherInnen konsequent antimilitaristisch zwischen den Zeilen liest, erfährt quasi im Nebensatz, dass Kagames RPF (von Uganda hervorragend ausgestattet und militärisch der ruandischen Hutu-Armee weit überlegen) aus machtstrategischen Gründen bei weitem nicht so schnell vorrückte wie möglich, um den Genozid zu beenden.
Eine Machteroberung auf der Basis eines Genozids schien internationale Anerkennung zu versprechen! (20)
„Die RPF war Komplize der Gewalt in vielfacher Weise. Die RPF-Invasion war ein Schlüsselelement im gefährlichen Mix, der zum Genozid führte.
Sie verübte einen Gutteil der Gewalt während des Bürgerkriegs. RPF-Soldaten führten Rachemorde an Zehntausenden während und nach dem Genozid aus.
Im April 1995 waren RPF-Soldaten verantwortlich für die Tode von vielleicht 5.000 Menschen im bereits notorisch gewordenen Kibeho-Massaker“ (21), wo wahllos in die Menge fliehender Hutu-Flüchtlinge in einem kongolesischen Flüchtlingscamp geschossen wurde.
In einem eigenen Tutsi-Flüchtlingscamp außerhalb Kigalis vergewaltigten RPF-Soldaten Tutsi-Frauen, „manche sollten sogar durch die Hand der RPF sterben“ (22).
Mit der Darstellung der Verbrechen von Milizen, Guerillas und protostaatlichen militärischen Verbänden kommt bei der Ursachenanalyse eine zweite militärische Seite ins Spiel, und die Entstehung des Genozids im Rahmen einer Kriegssituation rückt stärker ins Blickfeld.
Hinzu gesellen müsste sich weiter eine antimilitaristische Analyse der Frage, ob UN-Militäreinsätze in der Lage waren, Massengewalt zu stoppen, oder ob konkret eine gut ausgerüstete und entschlossen zuschlagende UN-Militärmacht – die dann ja doch eher von NATO oder US-Armee gestellt oder dominiert wird – in Ruanda den Genozid hätte verhindern können, wie westliche Medien vielfach und vorschnell behauptet haben.
In Ruanda jedenfalls unterstützten die belgischen und französischen UN-Truppen während des Genozids die falsche Seite, die Hutu-Regierung nämlich. Das ist ein historischer Fakt, aber Frankreich will sich dieser Verantwortung bis heute nicht stellen.
Die Thematik überschreitet den Rahmen dieses Artikels, insbesondere müssten alle bisherigen UN-Einsätze kritisch untersucht werden. Ebenfalls müsste eine Perspektive der historischen Abfolge und der Lehren aus den jeweiligen UN-Militäreinsätzen eingenommen werden, denn Ruanda 1994 folgte auf die Erfahrung von Somalia 1992, wo ein massiver US-Militäreinsatz im Auftrag der UN gerade zur Brutalisierung des Konflikts beitrug. (23)
Eine antimilitaristische Komponente der Genozid-Forschung müsste all diese Fragen mit einbeziehen.
(1) http://www.massviolence.org/
(2) Revisiting the Heart of Darkness - Explorations into Genocide and Other Forms of Mass Violence, Themenbuch von Development Dialogue, Nr. 50, Dezember 2008, Dag Hammarskjöld Foundation, Uppsala/Schweden; Raffael Scheck: Hitlers afrikanische Opfer. Die Massaker der Wehrmacht an schwarzen französischen Soldaten, Verlag Assoziation A, Berlin 2009; Conor Foley: The Thin Blue Line. How Humanitarianism Went to War, Verso, London/New York 2008.
(3) Das Buch von Lemkin wurde bisher zwar ins Französische und Spanische übersetzt, aber noch nicht ins Deutsche.
(4) Einen guten Überblick über Lemkin und seine Kolonialismustheorie im Zusammenhang mit Völkermord gibt Dominik J. Schaller: Colonialism and Genocide - Raphael Lemkin's Concept of Genocide and its Application to European Rule in Africa, in: Revisiting the Heart of Darkness (siehe Anm. 2), S. 75-93.
(5) Dominik J. Schaller, ebenda, S. 80.
(6) Vgl. dazu Jürgen Zimmerer: Colonialism and the Holocaust: Towards an Archeology of Genocide, in: Revisiting the Heart of Darkness (siehe Anm. 2), S. 95-117.
(7) So Hitler gegenüber dem befreiungsnationalistischen Inder Subhas Chandra Bose, vgl. Lou Marin: Der Feind des Feindes. Die indische Unabhängigkeitsbewegung und die Nazis, in: iz3w, Nr. 291, S. 10-13.
(8) Vgl. Raffael Scheck: Hitlers afrikanische Opfer, siehe Anm. 2.
(9) Dominik J. Schaller: Colonialism and Genocide, siehe Anm. 4, S. 79.
(10) Elina Oinas und Katarina Jungar: A luta continua! - South African HIV activism, embodiment and state politics, in: Revisiting the Heart of Darkness (siehe Anm. 2), S. 239-258.
(11) Alejandro Bendaña: Is there a south perspective on genocide? In: Revisiting the Heart of Darkness (s. Anm. 2), S. 279-291.
(12) Ebenda, S. 288.
(13) Vgl. Ian Phimister: The Makings and Meanings of the Massacres in Matabeleland, in: Revisiting the Heart of Darkness (s. Anm. 2), S. 197-214.
(14) Vgl. Mary E. Ndlovu: Mass Violence in Zimbabwe 2005 - Murambatsvina, in: Revisiting the Heart of Darkness (s. Anm. 2), S. 217-237.
(15) Anthony Court diskutiert Gerlachs Konzept in seinem Artikel: Do We Need an Alternative to the Concept of Genocide? In: Revisiting the Heart of Darkness (s. Anm. 2), S. 125-152, hier 137-148.
(16) Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Piper, München/Zürich 1991.
(17) So die Thesen Anthony Courts, siehe Anm. 16, hier S. 127-137.
(18) Gerlach zit. nach Court, ebenda, S. 138.
(19) Mohamed Adhikari: Hotel Rwanda - The Challenges of Historicising and Commercialising Genocide, in: Revisiting the Heart of Darkness (siehe Anm. 2), S. 173-185, hier 179-186; sowie Ulrike Kistner: Lineages of Racism in Genocidal Contexts - Lessons from Hannah Arendt in contemporary African Genocide Scholarship, in: Revisiting the Heart of Darkness (s. Anm. 2), S. 155-171.
(20) Mohamed Adhikari, s. Anm. 20, S. 192, Fußnote 41.
(21) Ebenda, S. 191f.
(22) Ebenda, S. 188
(23) Das beleuchtet anschaulich der durch viele Erfahrungen skeptisch gegenüber Militäreinsätzen gewordene humanitäre Arbeiter Conor Foley in: The Thin Blue Line, siehe Anm. 2, zur Abfolge Somalia-Ruanda besonders S. 44-68.