Adi Winter (29) lebt in Tel Aviv. Sie ist Kriegsdienstverweigerin, Anarchistin und aktives Mitglied in libertären Zusammenhängen in Israel, u.a. bei den Anarchists Against the Wall (AATW). Derzeit reist sie wieder durch Europa, um über die Aktivitäten von AATW zu sprechen und um Spenden zu sammeln, damit der gewaltfreie Kampf gegen Besatzung und Barrierebau weitergeführt werden kann. Nach einer von der GWR mitorganisierten Veranstaltung im Dezember 2008, kurz vor Beginn des Gaza-Kriegs, hat sie für die Graswurzelrevolution folgenden Artikel geschrieben. Darin berichtet die 2008 mit der Carl-von-Ossietzky-Medaille ausgezeichnete Aktivistin über Standpunkte der anarchistischen Bewegung in Israel und mit welchen Aktionen sie gegen die herrschenden Zustände protestiert. (GWR-Red.)
Nach unserer Auffassung ist der Kampf in Palästina kein jüdisch-muslimischer oder israelisch-palästinensischer, sondern ein zionistisch-palästinensischer. Um ihn lösen zu können, müssen wir zurück gehen an seinen Ursprung, und das ist der Krieg von 1948. Solange Israel die Nakba (1) nicht als Ausgangspunkt einer Lösung des Konfliktes betrachtet, können wir niemals eine Übereinkunft finden, die auf Gerechtigkeit und nicht auf Macht basiert.
Das ist möglicherweise der größte Unterschied zwischen der radikalen Linken in Israel und dem, was gemeinhin als „Friedenslager“ oder „zionistische Linke“ bezeichnet wird. Während der 90er, in den Tagen von Oslo und Camp David, war in Israel der Geist des so genannten Friedens zu spüren.
Der Großteil der Bevölkerung dachte, von den Medien beeinflusst, dass der Frieden schon zum Greifen nah war.
Menschen, die keinen Bezug zu den besetzten Gebieten hatten, sprachen von Rückzug und Abkommen, während in den besetzten Gebieten mehr Siedlungen entstanden, mehr Checkpoints und Roadblocks errichtet wurden, es mehr Ausgangssperren, Absperrungen und Verhaftungen gab.
Zu jedem Zeitpunkt dieser Periode saßen über 10.000 PalästinenserInnen in israelischer Haft, fast 10% von ihnen ohne Verfahren.
Noam Chomsky erklärte den Unterschied zwischen der zionistischen Linken und der zionistischen Rechten mit schwarzem Humor, als er sagte: „Während die rechten Regierungen erklären, sie würden zehn neue Siedlungen bauen und schließlich nur eine errichten, erklären die Linken, sie würden lediglich eine Siedlung errichten, bauen schließlich aber zehn.“
Das gleiche „Friedenslager“, das 1987 überrascht war, als die erste Intifada ausbrach, war am überraschtesten, als im Jahr 2000 die zweite Intifada ausbrach.
Diese Linke und dieses Friedenslager, das davon ausging, dass man gegen die Besatzung sein und trotzdem in der Armee dienen könne, dass man sich den Frieden herbeisehnen könne, ohne über die Freilassung der Gefangenen oder über Flüchtlinge zu reden, dieses Friedenslager, das dachte, man könne einerseits Land zurückgeben und andererseits die Zahl der Siedlungen auf Kosten palästinensischer Dörfer verdoppeln – dieses Friedenslager fiel völlig in sich zusammen.
Was übrig blieb, war eine viel kleinere, aber radikalere und anti-zionistischere Linke. Eine Linke, die die Verbindungen zwischen Kapitalismus und der Besatzung in Israel sieht, die den ökonomischen Profit, der aus der Besatzung geschlagen wird, analysiert, und die die Verbindung zu anderen Kämpfen, ob es nun der Irakkrieg oder die Zapatistas, die Kämpfe im feministischen, schwul-lesbischen, ökologischen oder im Tierrechts-Bereich sind, zieht.
Anarchists Against the Wall
Vor diesem Hintergrund gründeten wir 2002 eine Aktionsgruppe: Anarchists Against the Wall.
Diese Gruppe entsprang ursprünglich einer kleineren Gruppe namens One Struggle – eine anarchistische Gruppe für Tierbefreiung – die an gemeinsamen Aktionen von Israelis und PalästinenserInnen teilnahm.
Ein wichtiger Hinweis, den ich erwähnen muss, ist, dass wir keine Diskussionsgruppe sind und die AktivistInnen unterschiedliche Ansichten über den Kampf und über Lösungsvorschläge haben. Was uns aber eint, ist unser Wille zu Handeln, um einen Wandel herbeizuführen.
Mas’ha
Die erste Gemeinde, mit der wir zu arbeiten begannen, war Mas’ha in der Salfit-Region.
Das Dorf sollte rund 90% seiner landwirtschaftlichen Fläche aufgrund der Mauer verlieren.
Hierbei muss man bedenken, dass diese Menschen bereits Großteile ihres Landes an umliegende jüdische Siedlungen wie Elkana verloren hatten. Sie baten um Hilfe von internationalen und israelischen AktivistInnen und so entstand ein Camp auf dem Land, das von der Mauer annektiert werden sollte.
Der Zweck des Camps war zuerst der, sich hinzusetzen und miteinander zu reden, sich kennen zu lernen und die Mauern der Separation, der Angst und der Entfremdung zu durchbrechen.
Was für mich wichtig zu erwähnen ist, ist, dass wir zum ersten Mal die Menschen mit ihren persönlichen Geschichten kennen lernten.
Wir teilten unsere Ängste und schufen gemeinsam ein stabiles Fundament des Vertrauens, bevor wir zusammen Demonstrationen veranstalteten.
Das Camp musste 24 Stunden lang besetzt bleiben und hatte auch eine permanente Präsenz israelischer und internationaler AktivistInnen, damit es aufrecht erhalten werden konnte. Es dauerte drei bis vier Monate, bis es von Armee und Polizei gewaltsam geräumt und alle Menschen, die dort waren, verhaftet wurden. Während dieser Monate demonstrierten wir gemeinsam und führten unsere ersten direkten Aktionen durch.
Bei einer dieser Aktionen wurde zum ersten Mal ein israelischer Aktivist vom Militär mit scharfer Munition angeschossen.
In den Jahren 2004/2005 schwappte eine Welle des Widerstands über die Westbank herein und die Popular Committees vieler Dörfer luden uns ein, bei ihrem Kampf mitzumachen. Ich würde hier gerne einige dieser Dörfer, mit denen wir eine lange Partnerschaft teilen, erwähnen. Sie haben es trotz der heftigen Repression geschafft, aufzubegehren und den Kampf fortzuführen.
Budrus
Budrus, eines der ersten Dörfer, das Widerstand leistete, hatte eine sehr starke Frauen- und Jugendbewegung.
Sie schafften es, die Mauer zurück auf die Grüne Linie (2) zu drängen und einen Großteil ihres Landes zu retten.
Ungefähr eine Woche später stürmte die Armee mitten in der Nacht das Dorf und nahm jeden männlichen Bewohner über zehn Jahre mit zur Mauer, machte Fotos von ihnen und verhafteten einige.
Leider brachte es die Repression der Armee fertig, dass in fast allen Dörfern, die gegen die Besatzung Widerstand geleistet hatten, dieser gebrochen wurde.
Wir machten die Erfahrung, dass neben brutaler Gewalt, Kollektivbestrafung, Invasionen und Verhaftungen die Armee in jedem Dorf eine andere Taktik einsetzte, um den Protest zu brechen.
In Beit Surik z.B. schleuste die Armee Soldaten in die Demonstrationen ein, die sich wie Palästinenser verkleideten, um Paranoia zu stiften.
In Beit Sira wurden Menschen, die sich in Demonstrationen engagierten, damit bedroht, dass sie ihre Arbeitserlaubnis in Israel verlieren würden.
Organisation
Ich möchte an dieser Stelle klarstellen, dass die Entscheidung, gegen die Mauer anzukämpfen, immer von den jeweiligen Dörfern gefällt wird. Und wir geben unser Bestes, um unsere Solidarität und Unterstützung zu zeigen. Wir taten dies durch: Treffen, Rechtshilfe, mediale Berichterstattung, Teilnahme an Demonstrationen und direkten Aktionen, wie z.B. das Zerschneiden von Zäunen oder das Beiseiteschaffen von Roadblocks, die Nacht über in den Dörfern Bleiben, um nächtliche Razzien zu stören, Vernetzung von AktivistInnen und Gefangenenarbeit.
Die Präsenz israelischer AktivistInnen dient dazu, die Gewalt der Armee zu reduzieren. Heute sind wir im Besitz von Dokumenten, die belegen, dass die Armee keine scharfe Munition verwendet, wenn sich israelische AktivistInnen unter den DemonstrantInnen befinden.
Bil’in
Das Dorf Bil’in hatte nach sieben Klagen vor dem höchsten israelischen Gericht recht bekommen, dass die Route der Mauer nicht nach sicherheitstechnischen Überlegungen gebaut wurde, sondern um mehr Land zu annektieren.
Von 2005 bis jetzt hat die Gemeinde den Protest am Leben erhalten. Was an Bil’in so speziell ist, ist die Kreativität, mit der sie protestieren. Wir sahen aber wiederum, dass auch die Armee sehr kreativ in ihren Repressalien war, von der brutalen Gewalt, den nächtlichen Razzien einmal abgesehen, die offensichtlich universell einsetzbar sind.
Die Demonstrationen wurden von der Armee auch dazu benutzt, um neuartige Waffen zu testen wie beispielsweise den „Schrei“ (3), Salzkugeln (4), Schwammkugeln (5), mit Farbe befüllte Wasserwerfer, etc. Das sind nur einige Beispiele der Gewaltmittel, die zum Einsatz kommen.
Schließlich gewann die Gemeinde im September 2007 einen langen rechtlichen Kampf, der sich über Jahre hinweg zog, und erwirkte so, dass die Route der Mauer verändert werden müsse. Somit würde Bil’in mehr als die Hälfte des gestohlenen Landes wieder zurückerhalten.
Entgegen des Gerichtsurteils wird die Mauer immer noch weiter gebaut und die Siedlung expandiert ohne Genehmigung, weshalb die Demonstrationen weitergehen.
Ni’lin
Der Kampf in Ni’lin begann 2007. Zwei bis dreimal pro Woche gehen die Menschen auf ihre Ländereien in der Absicht, die Zerstörung von Bäumen und den Bau der Mauer zu stoppen. Oft waren sie in ihrem Vorhaben erfolgreich.
Um den Mut der Menschen zu brechen, verhängte das Militär eine Ausgangssperre über das Dorf, musste diese nach einigen Tagen jedoch wieder aufheben, da die Nachbardörfer mit den BewohnerInnen von Ni’lin großartige Solidarität zeigten. Bis dato wurden weit über 40 Menschen verhaftet und vier getötet.
Einer davon war der 10-jährige Ahmed Mussa, der mit scharfer Munition aus wenigen Metern Entfernung erschossen wurde, als er an einem Zaun rüttelte. Yousef, 17 Jahre alt, wurde während Ahmeds Begräbnis erschossen. Über das Dorf wurde wieder eine Ausgangssperre verhängt, diese wurde aber wieder aufgehoben, nachdem zumeist Jugendliche und BewohnerInnen aus den umliegenden Dörfern diese Ausgangssperre brachen und das Militär konfrontierten.
Nachdem Ahmed Mussa getötet wurde, hielten wir eine Solidaritätsdemonstration in Tel Aviv ab. Nach dem zweiten Todesfall demonstrierten wir vor dem Haus des zuständigen Offiziers der Armee.
Unterstützung von Gefangenen
Mousa Abu Maria, ein palästinensischer Friedensaktivist aus Beit Umar, einer Gemeinde, die viele direkte Aktionen durchführte, wurde in Administrativhaft genommen. Das bedeutet, man ist eingesperrt ohne Gerichtsverhandlung oder Anklage und man erhält keine oder nur wenig Informationen zu den erhobenen Vorwürfen. Sie kann alle sechs Monate immer wieder ohne Begrenzungen verlängert werden. Momentan befinden sich in etwa 1.000 PalästinenserInnen in dieser Situation.
Ein Weg, auf dem diese Form der Apartheid offensichtlich wird, ist, wenn man sich das Rechtssystem ansieht. Wenn israelische AktivistInnen verhaftet werden, so kommen sie im Normalfall am selben Tag wieder frei und wenn dem nicht so ist, müssen sie innerhalb von 24 Stunden vor ein Gericht gebracht werden.
PalästinenserInnen, die aufgrund des gleichen Vorfalles verhaftet werden, müssen erst nach acht Tagen das erste Mal vor Gericht gebracht werden, wobei es sich hier um ein Militärgericht handelt, wo es keine Aussicht auf ein faires Verfahren gibt und die Bestrafungen viel härter ausfallen.
Verfahren vor dem Militärgericht sind zumeist sehr langwierig und Angeklagte müssen oft die gesamte Zeit in Haft verbringen. Am Ende ist die Chance, dass man freigesprochen wird, sehr gering. Nachdem man verurteilt ist, verliert man auch zumeist die Erlaubnis, nach Israel zu fahren, um zu arbeiten.
Tel Aviv
Obwohl sich die meisten unserer Aktivitäten in der Westbank abspielen, führen wir auch Demonstrationen und direkte Aktionen in Tel Aviv durch, um die Besatzung nach Hause zu bringen.
Das sind kleine Versuche, um die israelische Öffentlichkeit dafür zu sensibilisieren, wie es ist, unter einer Militärbesatzung zu leben. Beispielsweise blockierten wir Straßen in Tel Aviv mit Stacheldraht und Warnschildern direkt von der Barriere.
Lange Zeit machten wir jeden Monat eine Critical Mass gegen die Besatzung, aber auch diese Demonstrationen litten unter der Polizeibrutalität.
Jedesmal wurden Leute verhaftet. Als sich die Besatzung das 40. Mal jährte, gab es eine ganze Woche voll mit Aktionen und anlässlich des Libanonkrieges 2006 blockierten wir eine Luftwaffenbasis und demonstrierten in Tel Aviv gegen den Krieg.
Anmerkungen des Übersetzers
(1) Arab. für Katastrophe, bezeichnet die Flucht bzw. Vertreibung von rund 750.000 PalästinenserInnen während des Krieges von 1948.
(2) Waffenstillstandslinie von 1949; de facto Grenze zwischen Israel und den besetzten Gebieten.
(3) Gerät, das ohrenbetäubenden Lärm von sich gibt, verursacht Schwindel und Brechreiz.
(4) Kugeln, die schmerzhafte, schwer heilende Wunden verursachen.
(5) Kugeln, die an der Haut haften bleiben.