Seit November 2009 demonstrieren bundesweit zigtausende StudentInnen und SchülerInnen. In vielen Uni-Städten haben sie im Rahmen des Bildungsstreiks spontan Hörsäle besetzt. Protestiert wird u.a. gegen miserable Lernbedingungen und den sogenannten Bologna-Prozess (siehe Artikel auf Seite 3), der die Bildungspolitik in Europa angleichen soll. Inspiriert wurden die Studis in Deutschland durch die seit Wochen anhaltenden direkten gewaltfreien Aktionen in Österreich. Aus Wien berichtet GWR-Korrespondent Jens Kastner (GWR-Red.).
Wackeln mit beiden erhobenen Händen, während eine Rednerin spricht, bedeutet Zustimmung. Solche Zeichen vermitteln ein „Stimmungsbild“, dies umgeht Minderheiten ausschließende Abstimmungen und führt leichter zu Konsensentscheidungen.
Die Kommunikationsformen der globalisierungskritischen Bewegung sind auch unter den aktiv streikenden Studierenden in Österreich allgegenwärtig.
Inhaltlich aber ist die Bewegung vielleicht sogar noch diffuser als die „Antiglobalisierungsbewegung“.
Aula und Audimax: Am Anfang
Alles begann am 20. Oktober 2009, als Studierende der Akademie der bildenden Künste Wien, in Anwesenheit und mit Unterstützung einiger ProfessorInnen, bei einer Pressekonferenz den Streik ausriefen.
Hier gab es einen konkreten Anlass: die anstehende Einführung der Bachelor- und Master-Studiengänge, die im Rahmen des so genannten Bologna-Prozesses auch an Kunsthochschulen umgesetzt werden soll. Die Studierenden besetzten aus Protest die Aula des neoklassizistischen Gebäudes im Zentrum der österreichischen Hauptstadt. Zwei Tage später solidarisierten sich Studierende der Universität Wien und besetzten das Audimax.
Warum sich in den folgenden Tagen und Wochen mehrere Tausend Studierende an dieser Besetzung beteiligten, stellt sich als eine lustige Aufgabe für die Soziale Bewegungsforschung. Denn die in Bologna vereinbarten Bestimmungen einer europäisch angeglichenen Hochschulpolitik sind an der Uni längst vereinbart.
Den Protesten schlossen sich in den Tagen darauf Studierende an der TU Wien und der Wirtschaftsuni Wien sowie an sämtlichen anderen Uni-Standorten Österreichs an wie Graz, Salzburg, Linz, Innsbruck und Klagenfurt.
Auch an diesen Institutionen wurden Hörsäle besetzt, unzählige Arbeitsgruppen gebildet, stundenlange Plena abgehalten – mit Nichtstun haben Streiks wie diese ganz offensichtlich nichts zu tun.
Lehrende und Forschende beteiligen sich ebenfalls an der Bewegung.
Am 27.Oktober fand ein erstes Treffen statt; nach der Lehrenden- und Forschenden-Versammlung am 29.Oktober, an der etwa 150 Leute von meist sozial- und geisteswissenschaftlichen Instituten teilnahmen, wurde eine Solidarisierungserklärung im Audimax verlesen.
Dass es sich hauptsächlich um Lehrbeauftragte (so genannte Externe) und Personal des Mittelbaus handelte – ProfessorInnen ließen sich an einer Hand abzählen -, wurde bei der Reaktion auf die Frage ins Plenum deutlich, wer denn in universitären Gremien arbeite, deren Bestreikung, anders als ausgefallene oder umgewidmete Lehrveranstaltungen, ja tatsächlich dem Betrieb schaden könnten. Hier meldete sich niemand.
Optimistischer stimmte die erste große Demonstration, die am 28. Oktober mit etwa 20.000 TeilnehmerInnen in Wien stattfand – es ging also etwa jede/r Sechste der insgesamt etwa 120.000 Wiener Studierenden (davon etwa 72.000 an der Uni) auf die Straße. In Graz demonstrierten etwa 5.000 Studierende.
Am 31.10.2009 fand ein so genannter „Bildungsball“ statt, eine Feier mit Symposiumscharakter, an dem neben linken ProfessorInnen wie Ulrich Brand (Politikwissenschaften) auch außeruniversitäre, gesellschaftspolitische AkteurInnen wie die in Wien sehr populäre Flüchtlingsberaterin Ute Bock und der Journalist und Gründer der Stadtzeitung Falter, Armin Thurnher, teilnahmen.
„Was ist Basisdemokratie?“: Forderungen und Politisierung
Aber warum eigentlich? Was wollen die Streikenden?
Die Forderungen der Studierenden nannte der Schriftsteller Robert Menasse, der wie auch andere Intellektuelle seinen Solidaritätsauftritt im Audimax hatte, „bestürzend bescheiden“.
Sie lauten:
- Bildung statt Ausbildung,
- Freier Hochschulzugang,
- Demokratisierung der Universitäten,
- Ausfinanzierung der Universitäten,
- Das Behindertengleichstellungsgesetz muss an allen österreichischen Unis umgesetzt werden, um ein barrierefreies Studieren zu ermöglichen,
- Beendigung der prekären Dienstverhältnisse an den Universitäten,
- 50% Frauenquote in allen Bereichen des universitären Personals.
Vor allem die Forderungen eins bis vier sind noch näher ausgeführt, es geht zunächst grundsätzlich darum, das Studium nicht nach ökonomischen Kriterien auszurichten.
Hinsichtlich des Zugangs wurde explizit auch die Abschaffung der Studiengebühren für „Nicht-EU-BürgerInnen und Langzeitstudierende“ gefordert und die Demokratisierungsforderung zielt vor allem auf die in den letzten Jahren stückweise abgeschafften Errungenschaften der Post-68er Jahre wie z.B. die studentische Mitsprache in den universitären Gremien.
Ein von einigen Lehrenden und Studierenden von Akademie und Uni Wien verfasstes „Statement gesamtgesellschaftliche Einbettung und Forderungen“, datiert auf den 27.10.2009, abrufbar auf der Akademie-Streik-Seite www.malen-nach-zahlen.at, geht deutlich weiter: Es beginnt mit dem zapatistischen Motto „fragend schreiten wir voran“, endet aber um einiges weniger bescheiden mit der Forderung nach dem Ende „der Ausbeutung in allen Lebensbereichen“.
Dazwischen wird zudem die Rückgabe aller während der Shoah in den „Besitz“ der Hochschulen übergegangenen Güter und die Auseinandersetzung mit Kolonialismus und Nationalsozialismus eingefordert.
Das Gros der Studierenden ist in diesem Statement allerdings sicher nicht gespiegelt.
Viele Leute sind genervt von übervollen Hörsälen und machen hier ihre ersten Politisierungserfahrungen, was z.B. in Twitter-Meldungen wie „Was ist eigentlich Basisdemokratie? Klingt wie Volksrepublik“ zum Ausdruck kommt. Die während der ersten Großdemo im Dreisekundentakt geposteten Nachrichten drehen sich aber auch um zentrale Fragen wie „Wo bist Du gerade?“ oder „Wo gibt’s noch Bier?“
Die Nutzung aller verfügbaren Medien und Netzwerke ist weit verbreitet und sicher ein Grund für die Mobilisierungserfolge.
Es ist eine Facebook-Rebellion, bei der noch am zehnten Tag der Besetzung regelmäßig rund 1.500 Leute den permanenten Audimax-Livestream auf der Homepage http://unsereuni.at/ beobachten.
Die basisdemokratische Organisierung geht soweit, dass sogar die gewählte Bundesvertretung der Studierenden, die Österreichische HochschülerInnenschaft (ÖH), in Fernseh- und Zeitungsinterviews immer wieder genötigt wird zu betonen, von Anfang an mit dabei gewesen zu sein. Im Kommentar der linksliberalen Tageszeitung Der Standard (vom 30.10.2009) macht Tanja Traxler gar ein „Funktionärsdilemma“ aus und fordert die Studierendenvertretung auf, nicht mehr nur Kopierstelle zu sein und sich „als Institution“ zu politisieren.
Ein solcher Aufruf zur Politisierung dürfte schon als diskursiver Erfolg der Bewegung zu werten sein.
Mühen der Ebenen und „lebenslanges Lernen“: Hintergründe
Andererseits fallen, bei aller Spontaneität, Protestbewegungen wie diese auch nicht vom Himmel. Sie greifen immer auch auf die Mühen der bewegungsarmen Ebenen zurück.
Zwischen Flugblättern und Bierdosen – in Österreich waren die Grünen noch nicht in der Bundesregierung, auf Errungenschaften wie das Dosenpfand wird also noch hingearbeitet -, haben sich auch die landläufig bekannten Politgruppen postiert: Tierrechts- und vor allem die in Wien ohnehin sehr präsenten trotzkistischen Gruppen (z.B. RSO, Linkswende, Der Funke) haben sich auf dem Gang vor dem Audimax mit Infotischen aufgebaut.
Auch AutorInnen der linksmarxistischen Zeitschrift Grundrisse haben Workshops veranstaltet.
Auf bildungspolitischem Terrain hatten in den Monaten zuvor schon kleinere Zusammenschlüsse wie IRDEI (Initiative for the Re-Democratization of Educational Institutions) oder das „Netzwerk emanzipatorische Bildung Wien“ (http://emanzipatorischebildung.blogsport.de/) auf sich und das ungerechte Bildungssystem aufmerksam gemacht.
Um dieses Bildungssystem geht es, und damit auch nicht nur um universitäts-, sondern gesellschaftspolitische Fragen.
Die Frage nach dem Warum der Bewegung zielt also nicht nur auf die Motivationen der Beteiligten, sondern noch auf etwas anderes: auf die sozialen Bedingungen.
Was aber ist so untragbar an der Situation jener meist der Mittelschicht entstammenden Jugendlichen, die im siebtreichsten Land der Welt an einer Hochschule eingeschrieben sind?
Mit dem Universitätsgesetz (UG) von 2002 wurden die österreichischen Unis in die so genannte „Vollrechtsfähigkeit“ entlassen, faktisch aber in politischen Entscheidungen entmachtet und dem Bildungsministerium unterstellt.
Das Ministerium kann die Unis z.B. verpflichten, Bachelor- und Masterstudiengänge einzuführen. Das Gesetz löste zudem einige der in den 1970er Jahren erkämpften, inneruniversitären Entscheidungsstrukturen auf. Der Bologna-Prozess, zu dessen Umsetzung das UG 2002 verabschiedet wurde, ist allerdings tatsächlich weit mehr als eine Umstrukturierung der europäischen Universitäten.
An diesem Prozess ließe sich durchaus zeigen, dass neoliberale Wirtschafts- und Sozialmodelle noch längst nicht Geschichte sind, denn hier wird ein Verständnis von Bildung formuliert, das in seinen Auswirkungen nicht auf Studierende beschränkt bleibt.
Es verbindet Bildung als Ausbildung, die rein auf Berufsqualifikation ausgerichtete Wissensproduktion und -aneignung, mit Bildung als Herstellung der Persönlichkeit, also mit der Bereitschaft, sich mit dem Berufswissen nicht zufrieden zu geben, sondern sich permanent weiter zu bilden und zwar mit vollem Körpereinsatz.
Verknüpft wird beides im Konzept des „lebenslangen Lernens“.
Zu dessen Förderung wird im Kontext des Bologna-Prozesses im Kommuniqué von Prag (2001) aufgerufen. Aber bereits im so genannten Schröder-Blair-Papier von 1999, dem Manifest der neoliberalen Umkehr der europäischen „neuen Sozialdemokratie“, wird das „lebenslange Lernen“ pathetisch als „wichtigste Form der Sicherheit in der modernen Welt“ gepriesen und die Regierungen werden dazu aufgefordert, einen Rahmen zu schaffen, der „es den einzelnen ermöglicht, ihre Qualifikationen zu steigern und ihre Fähigkeiten auszuschöpfen“.
Von früheren Generationen von SozialdemokratInnen noch als Mittel zur Verbesserung der kollektiven Lage gedacht, wird Bildung hier zum Schmiermittel individueller Karrieren umkonzipiert.
Neoliberale Think Tanks und Unternehmerverbände haben jahrelang an der Durchsetzung dieses Bedeutungswandels gearbeitet.
Der Wille zur Effizienz: GegnerInnen und Effekte
Als „Aufstand gegen die Kanalisateure des Wissens“ interpretiert der Wiener Philosoph Robert Pfaller (Der Standard, 30.10.2009) die Proteste daher auch nicht ganz zu Unrecht. Bei aller emanzipatorischen und anti-ökonomistischen Rhetorik darf allerdings nicht vergessen werden, dass auch jene Studentin Teil der Bewegung ist, die von der Demo aus in die Fernsehkamera keift, sie demonstriere, weil sie schließlich ihr Studium in der Regelstudienzeit abschließen und nicht zig Semester auf freie Kurse warten wolle.
Das Überlaufen zu den StreikgegnerInnen, deren Facebook-Gruppe „Studieren statt Blockieren“ sich nach zwei Wochen Streik auch schon auf über 17.000 Mitglieder summiert hat (im Gegensatz zu etwa 23.000 Facebook-StreikbefürworterInnen zum gleichen Zeitpunkt), scheint da vorprogrammiert.
Der Unmut über die verschlechterte Studiensituation treibt schließlich nicht unbedingt den Willen zur Effizienz wieder aus, der bei vielen längst in Fleisch und Blut übergegangen ist. Auf das Desinteresse an den unterschiedlichen Ausgangspositionen und Zugangsmöglichkeiten ist letztlich nur eine Parole die richtige Reaktion, zu lesen auf einem Audimax-Transparent: „Reiche Eltern für alle!“
Während vom Unistreik außerhalb des ersten Bezirks, der Wiener Innenstadt, wenig bis gar nichts mitzubekommen war, solidarisierten sich im Laufe der Zeit doch Studierende von London bis Berlin.
Eine Audimax-Besetzung in Münster wurde nach zwei Tagen am 6. November 2009 polizeilich geräumt. Am Tag zuvor waren die sich anbahnenden Ermüdungserscheinungen des Studierendenprotests mit einem erfolgreichen bundesweiten Aktionstag aufgefangen worden, am Sternmarsch zum Wiener Urban-Loritz-Platz beteiligten sich rund 10.000 Menschen, in Salzburg demonstrierten am gleichen Tag immerhin etwa 1.000 Leute.
Nimmt man die Meldung in Der Standard vom folgenden Tag ernst, „Der Studentenprotest hat einiges erreicht: Die Politik beschäftigt sich mit Uni-Politik“, lässt sich nur ein Widerspruch in sich konstatieren: Denn erreicht hätten die Proteste nur dann etwas, wenn es eben nicht bloß um Universitätspolitik, sondern um Bildung als gesellschaftspolitisches Thema gehen würde, um prekäre Arbeitsbedingungen, um den neoliberalen Umbau von Staat und Gesellschaft.
Daran jedoch hat die politische Klasse kein Interesse, Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) griff nach knapp zwei Wochen die Proteste auf, um laut über neue Zugangsbeschränkungen für die österreichischen Unis nachzudenken. Eine Maßnahme, die auch das einflussreiche rechte Boulevardblatt Kronenzeitung nahe gelegt hatte – insbesondere, um die Masse an jungen Deutschen abzuwehren, die vor dem Numerus Clausus an deutschen Unis in Österreich Zuflucht suchten. Ähnlich unverfroren, da dem Impetus der Proteste ebenso diametral zuwider laufend wie die Kanzlergedanken, reagierte die konservative Tageszeitung Die Presse: „Vielleicht wäre es höchste Zeit für mehr Markt.“
(Franz Schellhorn, 08.11.2009) Im Standard wird diese Position zwar verworfen, auch von der Ausweitung der Proteste in eine „soziale Rebellion“ hält man aber überhaupt nichts – zumindest Kolumnist Hans Rauscher (7./8.11.2009) warnt davor.
Im Gegenzug hält er aber auch den Anfang November erst für den 25.11. angesetzten Gesprächstermin, den der konservative Bildungsminister Johannes Hahn (ÖVP) den BesetzerInnen anbot, für eine „bewährte Methode, Probleme totzureden“.
Hahn hatte während der ersten Streik-Woche die Proteste noch mit einem überheblichen Lächeln und der Beteuerung abgetan, es handele sich hier nur um einzelne, nicht autorisierte Gruppen von Studierenden, mit denen er nicht sprechen müsse.
Am 30.10.2009 stellte er plötzlich zusätzlich 34 Millionen Euro für Bildungsausgaben in Aussicht, in einer ORF-Sondersendung zum Thema saß er neben anderen BildungsexpertInnen erstmals einer Audimax-Besetzerin öffentlich gegenüber.
Auf die drängende und nicht nur in dieser Sendung gestellte Moderatorenfrage, wann und unter welchen Bedingungen die Besetzung beendet werden würde, gab auch diese Studierendenvertreterin – und das blieb der Stand bis zum Redaktionsschluss dieser GWR – keine konkretere Auskunft als: „wenn unsere Forderungen erfüllt sind.“