Am 19. Juni 1999 kamen die BildungsministerInnen aus 29 europäischen Staaten im italienischen Bologna zusammen, um über die Angleichung der Hochschulabschlüsse und Studienstrukturen ihrer Länder zu beraten. Ziel war es, die Mobilität europäischer Studierender durch Einführung international vergleichbarer Examina zu erhöhen, das Studium mehr als bisher auf die Notwendigkeiten der Berufspraxis auszurichten und strukturierende Maßnahmen durchzusetzen, die die Qualität des Studiums verbessern und die durchschnittliche Studiendauer verringern sollten.
Die MinisterInnen orientierten sich dabei (höchst oberflächlich) an den Bachelor- und Masterstudiengängen, wie sie in England und den Vereinigten Staaten üblich waren. Das Ergebnis war der sogenannte „Bologna-Prozess“, eine groß angelegte Bildungsreform im tertiären Sektor, die in den vergangenen zehn Jahren auch an deutschen Hochschulen umgesetzt wurde.
Diese Reform ist, gemessen an ihren Ansprüchen, gescheitert. Darüber herrscht mittlerweile weitgehend Einigkeit, sowohl in der kritischen Wissenschaft als auch in einem einflussreichen Teil der bürgerlichen Medien. Thomas Steinfeld zog am 27. Oktober 2009 in der Süddeutschen Zeitung eine ebenso vernichtende Bilanz wie Wolfgang Lieb in den Blättern für deutsche und internationale Politik (Heft 6/2009). Die Zahl solch kritischer Stimmen ließe sich mühelos vermehren.
Der Bologna-Prozess hat die internationale Mobilität der Studierenden nicht erleichtert, sondern erschwert
Es ist mittlerweile durch die Akkreditierung einer Flut von (oft nur dem Namen nach) hochspezifischen Studienfächern schwieriger geworden, auch nur innerhalb ein und desselben Landes die Universität zu wechseln. Studienleistungen und Hochschulzeugnisse werden im europäischen Ausland fast nur noch mit teurer staatlicher Beglaubigung akzeptiert – oder überhaupt nicht mehr. Die akademische Lehre ist, durch flächendeckende Umverteilung staatlicher Gelder auf prestigeträchtige Großprojekte wie Sonderforschungsbereiche oder Exzellenzcluster, in einem katastrophalen Zustand.
Die in vielen Bundesländern erhobenen Studiengebühren sanktionieren den status quo. Und obwohl das gerade einmal dreijährige Bachelor-Studium die Studiendauer unbestreitbar verkürzt hat, monieren mittlerweile selbst internationale Großkonzerne, auf deren Bedürfnisse die Reform doch wesentlich zugeschnitten war, die völlig unzureichende Ausbildung der Studentinnen und Studenten. Juristische und medizinische Fakultäten hatten – mit unterschiedlichen Begründungen – in Deutschland die Umstellung auf Bachelor- und Master-Examina ohnehin nie mitvollzogen.
Bei aller öffentlichen Kritik am Scheitern des Bologna-Prozesses fällt jedoch auf, dass ein wesentlicher Teilbereich der universitären Aufgaben merkwürdig unbeachtet bleibt: die LehrerInnenausbildung.
Dies verwundert umso mehr, als manchem noch das Schreckgeheule des „Pisa-Schocks“ in den Ohren klingt. Dabei wird der Bologna-Prozess in der LehrerInnenausbildung möglicherweise seine spürbarsten gesellschaftlichen Folgen haben.
Niemandem wird es einfallen, den Zustand der deutschen Unis „vor Bologna“ als den eines idyllischen Gartens zu beschreiben. Gerade in den geisteswissenschaftlichen Fächern – für die der Verfasser einzig aus Erfahrung wird sprechen können – lag vieles im Argen, und die Kritik etwa an der mangelnden Vorbereitung auf den Lehrberuf war eine Konstante zahlloser Diskussionen.
Die von der konservativen Kritik immer wieder vorgebrachte Behauptung, die Universitäten hätten vorrangig eine ihrer Aufgaben, nämlich die Ausbildung wissenschaftlichen Nachwuchses, zur verpflichtenden Vorgabe für alle Studierenden gemacht und deshalb weder angehende Lehrerinnen und Lehrer noch angehende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vernünftig (aus)gebildet, ist allerdings nur zutreffend, wenn man die Fähigkeiten, die ein Mensch im Laufe eines akademischen Studiums erwerben kann, vorsätzlich gering schätzt: Zusammenhänge herzustellen, sich auf dem neuesten Stand zu halten, neue Wissensbereiche eigenständig zu erschließen, diese auch vermitteln zu können und generell den Dingen der Welt mit einer kritisch-analytischen Distanz gegenüber zu treten, vor einem möglichst weiten Bildungshintergrund.
Niemand wird bestreiten, dass die LehrerInnenausbildung an deutschen Universitäten in einem dringend verbesserungswürdigen Zustand war. Sie ist es heute mehr denn je. Ebenso wenig allerdings ist zu bestreiten, dass die oben genannten Fähigkeiten für gute PädagogInnen allentscheidend sind – sofern man Wert legt auf angemessen informierte, freie, handlungsfähige und selbstständige Lehrerinnen und Lehrer, deren Kreativität nicht unnötig behindert wird.
Es ist widersinnig, hierzulande über den „geistigen Schleichgang“ an den Schulen zu jammern und gleichzeitig die Lehrerausbildung zu einem Muster finsterster, entmündigender Verschulung zu machen.
Bachelor- und Master-Studiengänge haben die fachlichen Wahlmöglichkeiten der Studierenden in den Geisteswissenschaften so gut wie abgeschafft.
Mit der Verschulung des Studiums geht eine erkennbare „Verschülerung“ im Verhalten der Studierenden einher.
Ein vollkommen unproduktiver, bürokratischer Prüfungsdruck, mit teilweise bis zu zehn Klausuren pro Semester, führt (etwa in den Literaturwissenschaften) dazu, dass Studierende die den Seminaren zugrundeliegende Literatur überhaupt nicht mehr lesen. Nicht, weil mit einem Mal eine Generation blasierter, arbeitsscheuer junger Menschen an die Universitäten gespült worden wäre, sondern weil Ihnen ihr „Studium“ zu einer gründlichen Lektüre keine Zeit mehr lässt. Man behilft sich mit Kurzzusammenfassungen, Kindlers Literaturlexikon oder – letzter Notanker – mit Wikipedia.
Bot der tertiäre Sektor bisher (zumindest prinzipiell) die Möglichkeit, nach den relativ strikten Vorgaben der Schule eigene Interessen zu entdecken und zu entwickeln – und so mithin die ersten Schritte ins Erwachsenenleben zu tun -, gilt für einen Großteil der Studierenden heute Rilkes Satz: „Wer spricht von siegen? Überstehen ist alles.“ Seminare werden, wenn überhaupt, nicht nach Thema oder Kompetenz gewählt, sondern nach dem Ruf der Lehrenden, mehr oder weniger „hart“ zu sein.
Der Siegeszug des „Weges des geringsten Widerstands“ ist logische Folge der neuen Struktur des Studiums und kein Indikator für mangelnde Leistungsbereitschaft: Wem man selbstständiges Handeln unmöglich macht, der wird unselbstständig handeln – oder gehen. Niemanden sollte es noch wundern, dass Studierende zeitaufwändig um jede Note kämpfen – notfalls gerichtlich, sie schlägt immerhin in der Gesamtnote der Module zu buche, und die entscheidenden Kurse werden keineswegs jedes Semester angeboten -, dass die Zahl der Plagiate bei Haus- und Examensarbeiten bedrohlich steigt, dass Studierende fremdsprachiger Philologien es sich dreimal überlegen, ob sie ein Semester im Ausland verbringen, und die Quote der Studienabbrecher so hoch ist wie nie zuvor.
Wer sich unter diesen Umständen aus Neugier in einer Woche voller Pflichtveranstaltungen noch in eine fachfremde Vorlesung setzt, gilt fast schon als nicht mehr ganz richtig im Kopf.
Der Niveauverlust, den der Bologna-Prozess in der LehrerInnenausbildung bewirkt hat, ist erschreckend – sowohl, was fachliche, als auch, was außerfachliche Kompetenzen betrifft. Vor allem aber wird er sich in einer gesellschaftlichen Abwärtsspirale weiter fortsetzen: Denn solcherart „ausgebildete“ Lehrerinnen und Lehrer werden schließlich an den Schulen eine neue Generation potentieller Studentinnen und Studenten unterrichten, und immer so fort.
Es ist zu früh, um verlässliche Aussagen über den Wert des Master zu machen.
Den Bachelor aber hat der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann 2006 ein „Examen für Studienabbrecher“ genannt. Es dürfte schwer fallen, heute jemanden zu finden, der ihm widersprechen wollte.
Die Bildungsreformen der vergangenen zehn Jahre haben, neben ihren mittlerweile landläufig bekannten Verheerungen, vor allem eines bewirkt: den massiven Abbau demokratischer Strukturen und ein unmäßiges Wuchern der Kontrolle.
Über Bachelor und Master, verschärfte Schulkurrikula, eine Flut von (meist ungelesenen) Lehrberichten und das fortgesetzte Gerede von den „Bedürfnissen des Marktes“, auf die das künftige „Humankapital“ zugeschnitten werden müsse, ist der selbstständig denkende und handelnde Pädagoge heute fast schon zu einem Sicherheitsrisiko geworden.
Wer aber so redet, sollte auch den Mut haben, öffentlich das gewünschte Gegenmodell zu preisen: den meinungs- und (weitgehend) kenntnisfreien Vollzugsgehilfen einer wirtschaftsnahen Kultus-Expertokratie, der seinen Unterricht nur mehr nach den Vorgaben einer überschaubaren Gruppe von „Erleuchteten“ gestaltet – oder den Clicks und Bits eines teuren E-Learning-Programms von Bertelsmann.
Ob man mit Hilfe einer Lehrerausbildung, die ein solches Berufsprofil favorisiert, aus der viel beschworenen „Pisa-Krise“ herauskommt, darf mit Recht bezweifelt werden. Es geht aber längst nicht mehr nur um technische Nachbesserungen an einer verfehlten Bildungspolitik, so notwendig diese auch sein mögen. Der Bologna-Prozess ist im Grunde ein konservativer „Back-Lash“- nicht nur im Pädagogischen. Es ist an der Zeit, eine Diskussion darüber zu führen, welche Vorstellungen – und welches Menschenbild – künftig mit dem Begriff „Bildung“ verbunden werden sollen, und wie diese in einer Gesellschaft Gültigkeit behalten können, in der Bildung mehr und mehr mit einem prähistorischen, entmündigenden Konzept von „Ausbildung“ verwechselt wird: Studierende werden mit nutz- und zusammenhangslosem Fachwissen vollgestopft, das sie (bestenfalls) im gegebenen Moment wieder „absondern“.
Der Soziologe Wolfgang Eßbach hat eine solche „Bildung“ drastisch als das Heranziehen von „Bulimie-Lernenden“ bezeichnet. Wer ein solches Lernideal auch für die Schule pflegt, möge sich melden.