Als im Juni 2009 in ganz Deutschland 270.000 Lernende für bessere Bildung auf die Straßen gingen, blieben ihnen am Ende nicht mehr als ein paar Eingeständnisse seitens der Politik. Änderungen gab es keine. Deshalb sollten im Winter 2009 die Proteste fortgesetzt werden. Doch schon am 20. Oktober 2009 lief das Fass in Wien über (vgl. GWR 344): Studierende besetzten die Wiener Kunstakademie, zwei Tage darauf das Audimax der Wiener Uni. Die spontanen Proteste breiteten sich innerhalb weniger Tage zum Flächenbrand aus. Unter dem Motto "Uni brennt" besetzten Studierende viele österreichische Hochschulen.
Nach einzelnen Solidaritätsaktionen, Demos und Flashmobs fingen auch die Studis an den deutschen Unis Feuer.
Am Abend des 2. November 2009 besetzten Heidelberger Studierende ihren Audimax. Innerhalb kürzester Zeit folgten viele weitere Hochschulen.
Einen Schritt weiter
Mit den ersten Besetzungen kam die Protestwelle auch in Deutschland an. Innerhalb von zwei Wochen wurden circa 40 Hochschulen besetzt. Die Besetzungen waren die notwendige Konsequenz aus den Erfahrungen im Sommer: Das alleinige Demonstrieren und Fordern hat seinen Zweck nicht erfüllt. Die Verantwortlichen, PolitikerInnen und Unileitungen machten zwar Zugeständnisse, delegierten aber gleichfalls die Verantwortung für die Misere hin und her.
Die Reaktionen der Unileitungen fielen dabei unterschiedlich aus: Noch am selben Tag, als in Münster das Audimax besetzt wurde, besuchte Präsidentin Nelles ihren größten Hörsaal und setzte den dort Anwesenden ein Ultimatum.
Als darauf nicht eingegangen wurde, ließ sie den Raum am übernächsten Morgen durch die Polizei räumen.
Unbeeindruckt von dieser Machtdemonstration wurde kurze Zeit später ein neuer Raum besetzt. Auch diesmal wich das Rektorat einer Diskussion aus und antwortete mit psychischem Druck. Es stellte den Strom im Gebäude ab und ließ im Hörsaal einen Störton laufen. Außerdem versuchte das Rektorat mit gezielten Täuschungen die Studierenden zur Aufgabe zu bringen. Als auch das nicht half, wurde ein zweites Mal die Polizei geschickt.
Dagegen gab sich der Osnabrücker Präsident Rollinger anfangs entgegenkommend.
Er verwies auf die konstruktive Arbeit der Studis in den zahlreichen Arbeitskreisen und Diskussionsrunden und beteuerte, dass man doch an einem Strang ziehe. Schließlich bot er den BesetzerInnen dauerhaft einen eigenen Raum an, wenn sie den größten Seminarsaal der Uni Osnabrück verließen.
Hinterrücks wurde allerdings versucht, andere Studierende gegen ihre KommilitonInnen auszuspielen, um dann zu behaupten die Studierendenschaft stände nicht hinter dem Protest. Trotz circa 3.300 Unterschriften für die Besetzung und einer Vollversammlung, bei der mehr als 600 Menschen (bei nur 2 Gegenstimmen) dem Protestmittel zustimmten, ließ der Präsident räumen.
So unterschiedlich diese Herangehensweisen waren, beide verfolgten die Absicht, dem Protest den öffentlichen Raum für Diskurse zu nehmen.
Die Forderungen
Zwar waren die Geschehnisse in Österreich der Auslöser für den Protest, doch nicht nur aus Solidarität mit den österreichischen Studis kam es zu diesen direkten, gewaltfreien Aktionen. Auch dienten sie dazu, den eigenen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Sie waren selbst eine Umsetzung der Forderung nach mehr Freiraum für ein solidarisches Miteinander.
Ein bundesweiter Flyer gibt Auskunft über die Forderungen der Studierenden:
1) Soziale Öffnung der Unis
2) Abschaffung von Bachelor/Master in der derzeitigen Form
3) Demokratisierung des Bildungssystems.
Konkret bedeutet eine soziale Öffnung an Hochschulen, dass Studiengebühren und Zulassungsbeschränkungen durch Schaffung von weiteren Studienplätzen verworfen werden.
Am Bachelor- und Master-System kritisieren die Studis vor allem die Verschulung und die daraus resultierende fehlende Freiheit als auch den Zwang zum „Bulimie-Lernen“, also ein Lernen, welches auf stumpfe Akkumulation von Wissen ausgerichtet ist, das man dann in der Prüfung wieder auskotzt. Demokratisierung meint schließlich Mit- und Selbstbestimmung für Studierende, sowie den Abbau von wirtschaftlichen Zwängen im Bildungsbereich.
Dem Föderalismus geschuldet gibt es in jedem Bundesland, selbst an jeder Uni spezifische Probleme, sodass dieser selbst geschaffene Freiraum häufig genutzt wurde, um einen auf die eigenen Belange zugeschnittenen Forderungskatalog auszuarbeiten. Auch hier zeigten sich die Studis gewillt, dass der Zweck sich in den Mitteln widerspiegelt: Während Demokratie in den meisten Hochschulgremien kaum auffindbar ist, da Studierende hoffnungslos unterrepräsentiert sind und ihnen dazu meist nur eine Beratungs- statt einer Entscheidungsrolle zukommt, wurde von den Besetzenden möglichst versucht, basisdemokratische Entscheidungen zu treffen, um alle Teilnehmenden in den Prozess zu integrieren.
Ein weiteres fundamentales Triebfeld der Bewegung sind die Studiengebühren. Als sozial untragbar lehnt ein Großteil diese kategorisch ab.
Zwar gelang eine Abschaffung in Hessen auf parlamentarischem Weg aufgrund einer „linken“ Mehrheit im Landtag, aber in bürgerlich regierten Ländern dürfte diese Hoffnung gering sein und auch die Grünen und die SPD lehnen keinesfalls vollständig die Bildungsmaut ab.
Aber auch hier regt sich selbstorganisierter Widerstand.
Gute Konzepte, wie die Errichtung eines Treuhandkontos, auf das Studierende ihre Gebühren risikofrei einzahlen können, scheiterten in der Vergangenheit an der mangelnden Teilnahme, sodass diese die Unis nicht unter Handlungszwang stellten. Doch von den diesjährigen Protesten befeuert, hat der für das folgende Jahr in NRW geplante Studiengebührenboykott größere Chancen auf Erfolg.
Auch viele SchülerInnen beteiligten sich an den Bildungsprotesten. Sie forderten z.B. die Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems, Demokratisierung, mehr LehrerInnen, kleinere Klassen, die Abschaffung von Kopfnoten und Schulzeitverkürzung (G8).
Bisher fehlt den Protesten noch der gesamtgesellschaftliche Kontext, aber wenn weiter an den Forderungen festgehalten wird, leiten sie notwendig zu der Frage hin, ob sich das Bildungsideal in diesem System umsetzen lässt. Ohne sich von parteilichen Organisationen instrumentalisieren zu lassen, sollten die Studis beginnen über den Tellerrand zu schauen. Bemühungen diesbezüglich gab es natürlich schon: In Osnabrück versuchten sie, die ArbeiterInnen der insolventen Automobilbaufirma Karmann für die Demo zu gewinnen.
Weiterhin wurde versucht, die Besetzung sozial zu öffnen und sie aus der universitären Nische heraus ins gesellschaftliche Leben zu holen. Leider blieben diese Versuche rudimentärer Natur. Aber eine solche Ausrichtung ist nötiger denn je. So weisen z.B. der so genannte Bologna-Prozess (vgl. GWR 344 und nebenstehenden Artikel) und die Agenda 2010 frappierende Ähnlichkeiten auf. Beide haben ein negatives Menschenbild zur Grundlage, das wiederum Maßnahmen wie die Beschneidung der Freiheit legitimieren soll.
Anzeichen zu so einer Ausrichtung finden sich schon in der Kritik der Verdinglichung der Bildung sowie der Ablehnung der wirtschaftlichen Orientierung. Dies geschieht bisher aber ohne dass die gesamte Bewegung eine eindeutige Stellung zum herrschenden ökonomischen System bezieht. Sicher ist die Bewegung eine heterogene, aber letztlich muss sich jeder Mensch, unter Berücksichtigung seiner eigenen Ansprüche an das Bildungssystem, die Frage stellen, ob das richtige Leben im falschen möglich ist.
Entzerrter Protestzeitraum
Unter dem Motto „Education is not for sale“ fand vom 9. bis 18. November 2009 weltweit eine Global Week of Action gegen die Ökonomisierung der Bildung statt. Schon der Warm Up Tag, der 5. November 2009, war stark mit Studierendenprotesten frequentiert: 20.000 demonstrierten und solidarisierten sich allein in Österreich an diesem Tag mit den Protesten und auch in Deutschland kam es zu vereinzelten Aktionen.
Der ursprünglich vorgeschlagene Protestzeitraum des bundesweiten Bildungsstreiks sollte am 17. November 2009, dem internationalen Studententag, mit dezentralen Demonstrationen als Initialzündung beginnen. Angefeuert von den zahlreichen Besetzungen demonstrierten bundesweit in 60 Städten mehr als 85.000 Menschen gegen das desolate Bildungssystem. Vor allem in Frankreich und Italien gingen an diesem Tag unzählige Menschen für bessere Bildung auf die Straße.
Schätzungsweise dürften es in Europa circa 300.000 Demonstrierende gewesen sein. In Folge dessen gab es massenhaft neue Besetzungen. Anfang Dezember zählten sich europaweit circa 100 Besetzungen von Bildungseinrichtungen. Erstmals wurden zudem diverse Schulen von SchülerInnen besetzt.
Auch kam es in einigen Städten während und nach den Demos zu völlig unverhältnismäßigem Verhalten seitens der Polizei. In Essen wurden über 60 Schülerinnen und Schüler unter 16 Jahren von der Polizei festgenommen und mit dem Einsatz von Pfefferspray und Elektroschocks bedroht.
Einen Tag vor Beginn der „Hochschulrektorenkonferenz“ (HRK) in Leipzig besetzten circa 100 Protestierende am 23. November 2009 den Sitzungsraum der selbsternannten „Stimme der Hochschulen“. „Keine Stimme ohne uns“ hielten die Besetzenden dagegen und forderten unter anderem, dass die HRK jene Selbstbezeichnung ablegt, dass sie sich zur Studiengebührenfreiheit bekennt und fortan öffentlich tagt. Eine Demo vor Ort am Tagungstag mit schätzungsweise 10.000 Teilnehmenden richtete sich ebenfalls gegen die demokratisch nicht legitimierte Konferenz. HRK-Präsidentin Margret Wintermantel gestand zwar ein, dass manche Forderungen berechtigt seien, aber den Protest hielt sie insgesamt für unberechtigt und die Studierenden für „furchtbar ungeduldig“.
Die Verantwortung für die Bildungsmisere schob sie unterdessen auf die Länder, die die Hochschulen unterfinanziert ließen.
Vom 30. November bis zum 6. Dezember 2009 fand in vielen Städten eine Aktionswoche statt. Angedacht waren über die Woche verteilt dezentrale, kreative Aktionen, selbstverwaltete Veranstaltungen und ähnliches. Am darauf folgenden Wochenende gab es in Bochum einen „Alternativen Bildungsgipfel“ der als Kontrastveranstaltung zur anstehenden „Kultusministerkonferenz“ (KMK) konzipiert war. Neben verschiedenen Workshops wie „Traumschule“ und „Wie beeinflusst das Bildungssystem unser Menschenbild?“ war ein Ziel, ein Positionspapier auszuformulieren, das den KultusministerInnen auf ihrer Konferenz vorgelegt werden sollte.
Damit die KMK, die am 10. Dezember in Bonn tagte, Zeit hat ihre Politik zu überdenken, entschloss man sich die „KultusministerInnen nachsitzen“ zu lassen. Im Anschluss an eine Demo mit ca. 10.000 Teilnehmenden wurde folglich versucht, die Straßen zum Tagungsort zu blockieren.
Wie schon die Woche zuvor bei der Räumung der Frankfurter Besetzung, schritt die Polizei hier mit Gewalt ein, um die friedlichen DemonstantInnen bei ihrem Protest zu behindern. Aber Gründe, die MinisterInnen nachsitzen zu lassen gab es ausreichend, denn die beschlossene Reform der Reform, die im Wesentlichen die Stofffülle begrenzen, die Studienzeiten vereinzelnd flexibilisieren und den Hochschulwechsel erleichtern soll, kratzt höchstens an der Oberfläche des Problems.
Kritik
Bleibt zum Schluss die Frage, was die Proteste, die mit Sicherheit zu den größten Studierendenprotesten der letzten Jahrzehnte gehörten, erreicht haben. Auf parlamentarischer Seite gab es diesmal ein paar konkretere Lippenbekenntnisse.
So vermeldete das Land Niedersachsen, die Umsetzungen des Bologna-Prozesses reformieren zu wollen und Bundesministerin für Bildung und Forschung Annette Schavan (CDU) kündigte, entgegen vorheriger Aussagen, am Auftakttag der Proteste spontan eine BAföG Erhöhung an (als Ergänzung des schwarz-gelben Stipendienprogramms, welches die Vergabe von Stipendien an die leistungsstärksten 10% der Studierenden vorsieht).
Diese Maßnahmen zeigen deutlich, dass PolitikerInnen den Kern des Protestes nicht begriffen haben, denn ob das Bildungssystem durch solche peripheren Änderungen freier, demokratischer und sozial durchlässiger wird, ist fraglich.
Interessanter ist es dagegen, die Entwicklung der Protestbewegung „Bildungsstreik“ zu betrachten. Gestalteten die einzelnen Bündnisse im Juni noch vereinzelnd ihre Aktionen, gelang es innerhalb des Streikes, eine umfangreiche Vernetzung zwischen den Bildungseinrichtungen und Standorten aufzubauen. In der Hochzeit fand beinahe täglich irgendwo ein Vernetzungstreffen statt, auf dem inhaltliche Diskussionen geführt und gemeinsame Aktionen geplant wurden.
Gerade die Besetzungen, welche den nötigen Raum sowie die Zeit für Debatten schafften, dürften einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet haben.
So gab es diesmal nicht nur einen festen Platz in der Hochschulöffentlichkeit, sondern auch die Medien konnten nach der massiven Ausweitung das Thema nicht mehr totschweigen. Diese geschaffenen Strukturen sind zudem eine ausgezeichnete Grundlage für zukünftige Proteste. Leider nutzen auch fragwürdige Medien wie bild.de den Protest zur Selbstinszenierung und vielleicht auch zum Selbstschutz (die ’68er wollten Springer bekanntlich noch enteignen) aus, als sie zusammen mit dem sozialen Netzwerk Studi.VZ „Deutschlands größte Beschwerdeliste“ der KMK vorlegen wollten.
Die große öffentliche Zustimmung offenbarte auch weitere Schattenseiten, denn sie wurde durch einen Minimalkonsens erkauft: Die Forderungen wirken im Vergleich zu früheren, radikalen Forderungen aufgeweicht. Doch es liegt im Wesen eines Streiks, utopische Forderungen zu stellen, damit sich beide Parteien am Ende in der Mitte treffen. Wie sagte schon Bakunin: „Diejenigen, die immer nur das Mögliche fordern, erreichen gar nichts. Diejenigen, die aber das Unmögliche fordern, erreichen wenigstens das Mögliche.“
Weiterhin bleibt das Problem, dass bei den Protesten immerzu die Studierenden im Mittelpunkt stehen. SchülerInnen treten meist nur peripher auf und die Auszubildenden sind praktisch nicht vertreten.
Sicher liegt es in der Natur der Sache, dass an Unis eine andere Protestkultur und -möglichkeit besteht, dennoch sind auch andere Gruppen vom desolaten Bildungssystem betroffen und sollten daher in folgende Aktionen besser integriert werden.
Trotz der Zugeständnisse und Ankündigungen von Verbesserungen wäre es fatal, sich jetzt zufrieden zu geben und die Verantwortung an jene abzutreten, die es schon mal verpatzt haben. Vielmehr sollte dieser Streik als verspäteter Beginn einer Protestbewegung gesehen werden, die (nicht nur) das Bildungssystem zugunsten der Bedürfnisse der Menschen verändern könnte.