Die Soziologin Pinar Selek (*1971) veröffentlichte u.a. eine Studie über Gewalt an Transsexuellen und Transvestiten in ihrer Heimatstadt Istanbul.
Am 9. Juli 1998 kam es in Istanbul zu einer Explosion, bei der sieben Menschen getötet und über 120 verletzt wurden. Selek wurde verhaftet und beschuldigt, den Anschlag im Namen der PKK durchgeführt zu haben. Seitdem wird die Friedensaktivistin und Feministin von der Justiz verfolgt.
Sie ist Mitbegründerin der Frauenkooperative Amargi und organisierte nach ihrer Haftentlassung Frauentreffen für einen Dialog in kurdischen Städten. 2004 erschien ihr Buch "Barismadik" ("Wir haben keinen Frieden geschlossen"), in dem sie die Friedensbewegung und den Militarismus in der Türkei analysiert. Ihr neues Werk wird gerade ins Deutsche übersetzt und soll im Februar 2010 unter dem Titel "Männlichkeit und Gewalt" im Orlanda Verlag erscheinen. Darin beschreibt sie das türkische Militär als eine Art Zwangsinitiationsstation zur Konstruktion männlicher Identität. Pinar Selek hat der GWR über das Frauenhaus Kassel die folgende kritische Reflexion ihrer Erfahrungen mit "Opferpolitik" zukommen lassen. (GWR-Red.)
Gegen Ende 2006 organisierte El Fem in Italien eine europäische Konferenz zur Gewalt, an der viele feministische Aktivistinnen und Politikerinnen aus verschiedenen Ländern teilnahmen. Da diese Konferenz, auf der viel über die Frauenbewegung und die Linke geredet wurde, uns auch einen Eindruck von unserem eigenen Verhältnis zum Opferstatus vermitteln kann, beginne ich meinen Text damit.
Das Ziel der Konferenz bestand darin, den Plan einer internationalen Kampagne gegen Gewalt zu erarbeiten. Man wollte dafür eine gemeinsame Perspektive entwickeln bzw. die Hauptthemen der Kampagne festlegen. Die Konferenz ging allerdings zu Ende, ohne dass es dazu kam.
Es gibt viele Gründe hierfür: Der „europäische Feminismus“ hat seinen Charakter einer Systemopposition längst eingebüßt und verdient eigentlich ausführlichere Diskussionen. Allzu hoch waren meine Erwartungen daher auch nicht, aber dennoch verblüffte mich die Konferenz. Sie sollte ja eine praxisorientierte Angelegenheit werden, das Ziel war ja eine Kampagne.
Geredet wurde allerdings nicht über das, was zu tun ist, sondern ausschließlich über verschiedene Formen von Opferdasein.
Ich musste mir drei Tage lang anhören, was wir alles erleiden.
Sobald ich in Italien ankam, bat man mich, ein Referat mit dieser Stoßrichtung zu halten. Vorgegeben war ursprünglich, dass es in meinem Vortrag über den Krieg gehen sollte. Ich hatte mich darauf vorbereitet, über die theoretischen und politischen Dimensionen der Frage zu sprechen, warum es der feministischen Bewegung nicht gelingt, eine wirksame Haltung gegen Kriege zu entwickeln.
Doch die Veranstalterinnen verlangten von mir, darüber zu sprechen, in welchen Formen Frauen in der Türkei zu Opfern von Gewalt werden. Man nahm mich in die Arme und sagte mir: „Wir wissen, was du durchmachst… Erzähl uns davon…“ Während einige mir die Haare streichelten, drückten mich andere immer fester. Man ging sehr zärtlich, sehr liebevoll und beruhigend miteinander um. Doch je mehr alles verniedlicht wurde, desto schwieriger wurde es, da herauszukommen. Ich sagte: „Nein. Ich bin hier als Vertreterin einer Frauenorganisation und möchte über das eigentliche Thema diskutieren.
Wäre unser Anliegen das, wie wir uns über unser Leid austauschen, so hätte ich viel zu erzählen. Wir sollten aber über unseren Kampf reden.“
Nach langer Überzeugungsarbeit schienen sie meine Sturheit auf meinen psychischen Zustand zurückzuführen. Denn einige kamen auf mich zu, um zu fragen, ob ich „Hilfe“ bräuchte, und versuchten, mir beizubringen, dass sie mich mit allen Mitteln unterstützen würden. Ich begann dann meine Rede mit dem besagten Thema: „Ich werde Ihnen keine Opfergeschichten erzählen.“ Ich versuchte darzulegen, was man einer Feministin aus der Türkei für eine Rolle zuschrieb, und ging zum eigentlichen Thema über.
Auf dem Höhepunkt der Diskussion ergriff eine Frau aus Bosnien das Wort und erzählte von ihrem Leid. Daraufhin änderte sich die Diskussion grundlegend. Denn die Intention der Frauen, die das gesamte Europa vertraten, war eher die, sich mit den von ihnen selbst gewählten Benachteiligten zu solidarisieren und dadurch eine Erleichterung zu empfinden, anstatt ernsthaft etwas gegen Gewalt zu unternehmen.
Nach diesem Treffen beschloss ich, einen Text über das Opfersein zu schreiben, eine Idee, die mich schon lange beschäftigte.
Ja, seit einiger Zeit denke ich darüber nach, was es heißt, ein Opfer zu sein. Ich habe sehr lange über dieses Thema nachgedacht. Es ist ermutigend, noch einmal die eigenen Erfahrungen Revue passieren zu lassen und neu darüber nachzudenken. In erster Linie ist es ein Beitrag dazu, zum Subjekt des Seins werden zu können. Eine Gesellschaft zu erleben oder andere Erfahrungen zu interpretieren, ist natürlich leichter. Schwierig ist es, sich mit den eigenen Erlebnissen auseinanderzusetzen. Ab einem bestimmten Punkt weigert man sich, den nächsten Schritt zu machen. Niedergeschlagen gibt man sich also mit den halben Schritten zufrieden. Es ist so wie ein vorzeitiger Orgasmus. Man dreht den Dingen den Rücken zu. Aber sobald es dir gelingt, den zweiten Schritt zu tun, begibst du dich in ein anderes Universum. In das des eigenen Subjekts. In letzter Zeit spüre ich also dieses Universum.
Wie alle Frauen und viele Männer in der Welt erlebe ich etliche Situationen, in denen ich ein Gewaltopfer bin. Diese könnten gewiss tausende von Untersuchungen inspirieren. Es strengt mich an, über diese Situationen nachzudenken.
Nichtsdestotrotz hält mich der neue seelische Zustand, der Zustand der Erleichterung, in den ich gerate, während ich in der Vergangenheit herumwühle, an eben diesem Bestreben fest. Die letzten acht Jahre waren eine Lebenserfahrung für sich, die Situation als Opfer, die ich erlebte, indem man mich in der Öffentlichkeit zur Schau stellte, eine andere.
Dieser Prozess wies mich auf Zustände hin, über die ich vorher kaum Gedanken verloren hatte. Einer dieser Zustände ist die Art und Weise der Wirkung von Opfersein auf menschliche Beziehungen, sowie das politische Sein. Mich mit meiner eigenen Situation als Opfer intensiv zu befassen, machte mich in dieser Hinsicht sensibler. Mit dem Hintergrund dieser Erfahrung betrachtete ich meine Umgebung aufmerksamer und beobachtete mit Erstaunen die Verhältnisse, die die Menschen – insbesondere die Frauen – mit der Opfersituation herstellen. Und daraus zog ich für mich Schlüsse.
Solidarität ist eine schöne Sache
Der Großteil der Gesellschaft, vor allem der, der die Freiheit sucht, wird unablässig dem Bombardement der Gewalt ausgesetzt. Deshalb wird der Befreiungskampf der Unterdrückten gleichzeitig zu einer Solidaritätsbewegung. Manchmal verzweifelt eine von uns, und die gesamte Solidarität fokussiert sich auf sie. Da sich aber die Solidarität allgemein als eine Aufgabe, als Arbeit und politisches Gebot herausbildet, werden die Menschen in dieser Solidaritätsatmosphäre zermalmt. Aktionistisch wird einiges gemacht, aber wer sich die Ohrfeige der Gewalt fängt, bleibt mit dieser Spur auf der Wange alleine.
Dass wir gegenüber den Gewaltmechanismen schwach sind, liegt u.a. an der Oberflächlichkeit unserer Haltung zueinander. Der Mangel an Mühe sowie die Kraftlosigkeit unserer Kapazität von Liebe und Verständnis schwächt auch unser Nebeneinandersein. Das verhindert wiederum, dass sich die echte Solidarität entfalten kann. Ohne die Solidarität wird aber gar nichts geschaffen. Es ist nicht möglich, die weiteren Schritte zu tun, solange kein Solidaritätsgefühl und -reflex entstehen oder solange wir uns gegenseitig nicht die Hand reichen.
Man lernt, was es heißt, ein Gewaltopfer zu sein, wenn man Ohrfeigen bekommt. Zumal diese mehrmals hintereinander kommen und wir auch zusätzlich mit einem Tritt auf den Boden befördert werden. Da ersehnen wir eine Hand, die uns wieder hoch hilft. Eine warme Hand tut gut, gibt uns Kraft, erwärmt unsere Hand, wir richten uns auf und gehen dann wieder. Es wird uns warm ums Herz. Wir gewinnen eine Liebe, die wir dann Zeit unseres Lebens nie wieder verlieren. Solidarität ist so eine schöne Sache.
Die größte Lektion, die mir meine Erfahrungen schenkten, ist die Tatsache, dass die Solidarität enorm und großartig sein kann. Ich genoss solch eine echte Solidarität in einem Prozess, wo ich heute rückblickend nicht mehr nachvollziehen kann, wie ich alles aushalten konnte. Dies führte dazu, dass die große Zuneigung, die in mir entstand, den mich umgebenden Horror in sich aufsaugte. Vielleicht hatte ich ein besonderes Glück, aber dieser Prozess half mir zu lernen, was Solidarität ist, und was sie nicht ist. Ich sah die Oberflächlichkeiten, die Echtheit, Loyalität und die Sensibilität.
Wie kann das Schöne entstehen, wo es an Liebe, Sensibilität und Anteilnahme mangelt?
Wir würden die Härte der Machtverhältnisse legitimieren, wenn wir die Position als Opfer nicht anerkennen, uns mit dieser nicht auseinandersetzen oder sie gar ignorieren und sie als etwas Selbstverständliches betrachten. Allerdings ist es das eine, sich politisch zu betätigen, indem man ihr gewahr wird, und das andere ist es, Opferpolitik zu betreiben.
„Opferpolitik“ ist eine andere Definition dafür, dass man die Politik auf dem Opfersein aufbaut. Die Identitäten, wie auch die Rollen, die durch eine Opferpolitik entstehen, werden im Namen des Widerstands fortgesetzt und dadurch noch verstärkt. Diese Identitäten bedeuten heute eine große Hürde für den Freiheitskampf der Frauen. Es sind jedoch Hindernisse, die nicht konkret vor uns stehen, sondern sehr subtil sind. Und gerade aus dem Grund sind sie sehr relevant.
Opferstatus als Spielzeug
Die Opferpolitik hat zwei Seiten. Einmal aus der Sicht des Opfers und einmal aus der Sicht derjenigen, die zu ihm ein Verhältnis aufbauen. Beide Haltungen brauchen einander. Die Einstellung, die die Opfer in ihrem Status verharren lässt, unterscheidet die Solidarität von dieser partiell auch als Machtpolitik funktionierenden Politik. Das ergibt eine hierarchische Diskrepanz zwischen den Opfern und jenen, die sich mit diesen solidarisieren.
Bei mangelnder Sensibilität verwandelt sich dieses Verhältnis leicht in eine Machtverbindung, deren perverse Facetten wir häufig und intensiv erleben.
Ich entsinne mich an die Zeit kurz nach meiner Entlassung. Ich stand im Mittelpunkt der Öffentlichkeit. Überhaupt empfand ich es von Anfang an als unangenehm, dass jene von mir verhasste Identität, die mir übergestülpt worden war, in den Vordergrund gestellt wurde.
Ich wollte dringend zurück in die Zeit vor 1998 – in die Zeit vor Pinar Selek. Zu Pinar, die sich für Soziologie interessierte, die auf der Suche nach Freiheit lief, auf dem Weg Erde aushob und für die Freiheit im Stillen Trampelpfade errichten wollte… Ob mir das gelang oder nicht, ist eine andere Frage.
Mich erschlug damals ein grober Scherz einer feministischen Journalistin, die an der Solidaritätsbewegung teilgenommen hatte: Nachdem sie einige Namen von Personen aufzählte, die in der Öffentlichkeit heroisiert wurden, nachdem sie zu Opfern staatlicher Politik geworden waren, durch die Benachteiligung von Seiten des Staates heroisiert worden waren, sagte sie: „Es wäre sehr schick, wenn du jetzt mit einem von diesen eine Liebesaffäre hättest.“
Ich sah sie entgeistert an.
Ich kann mich erinnern, dass ich mit meinen ernsthaften Kommentaren ihr den Spaß verdorben hatte. Doch die Bemerkung hinterließ Spuren.
Da ich kürzlich entlassen worden war, lief ich etwas irritiert umher. Mir wurde erst später klar, dass dies ein genereller Umstand ist. Es war bequem für jeden, sich über diese Identifikation zu definieren. Ich wurde mit anderen Schwierigkeiten konfrontiert, sofern ich mich bemühte, mich davon zu distanzieren.
Maßgeblich bei der Opferpolitik ist, dass das Verhältnis, das da entsteht, sich nicht auf Freiheit, sondern auf Abhängigkeit bezieht. Der Wunsch danach, dass das Opfer immer in der Situation bleibt, in der es sich befindet, ist auffallend. Denn die Beziehung wird nicht zu der betreffenden Person, sondern zu ihrem Status hergestellt, was dazu führt, dass die Identität des Opfers mit seinem Status gleichgesetzt wird.
Jene „Solidaritäts“-Identifikation, die einen direkten Zusammenhang mit der Identifikation des Benachteiligten hat und über diesen konstruiert wird, ist außerordentlich erleichternd, denn sie verschafft einem eine Stellung, die erlangt wird, ohne gegen die Macht anzutreten bzw. sich zu befragen.
Die „vermeintliche Güte“, die von Freire in seinem Werk „Pädagogik der Unterdrückten“ erwähnt wird, ist eine weitere Definition dieser Haltung. Das Bewusstsein der vermeintlichen Helfer, die „die Ausgestoßenen des Lebens“ stets zwingen, sie anzubetteln, neigt dazu, alles um sich herum in ein Objekt der Macht umzufunktionieren.
Das Opfersein ist ein Objekt der Macht.
Der durch Gewalt erzeugte Zustand wird in eine Identität umgewandelt und es werden Voraussetzungen dafür geschaffen, dass das „Opfer“ ewig mit dieser Identität leben muss.
Dem Benachteiligten wird ein Raum zugewiesen, dessen Ausbruch daraus nicht gutgeheißen wird. Alles, was den Opferstatus unterstreicht, wird angenommen. Sollte diese Haltung jedoch infrage gestellt werden, wird das als störend empfunden.
Manchmal wird das Opfer zu einem Spielzeug. Wenn es diese Identifikation ablegt, nimmt es dem anderen sein Spielzeug weg. Die Erwachsenen, denen die Spielzeuge weggenommen werden, werden erbitterter als die Kinder.
Eingezwängt in die Opferidentität
Die erbärmlichste Folge dieses Verhältnisses ist die, dass die Benachteiligung in erster Linie von den Betroffenen als eine Identität angeeignet wird. Wer sich im Opferstatus befindet, lässt sich zuerst in die Wärme der Solidarität fallen, dann in die Vorteile, die dieser Status mit sich bringt. Sicherlich macht der Terminus „Opfer“ einiges leichter. Er ist gleichzeitig gewinnbringend. Der Benachteiligte lernt schnell, dass er sich nur mittels eigenen Leids durchsetzt, das Benachteiligtsein übertrieben in den Vordergrund stellt und es immerfort zur Sprache bringt. Die Art und Weise muss nicht immer Mitleid erregend sein. Aber die anderen müssen andauernd ein schlechtes Gewissen haben, weil sie nicht durchmachen, was das Opfer erleidet.
Wenn das einmal zur einzigen Regel der Herstellung der Beziehung wird, wird eine andere Art der Kommunikation fast unmöglich. Dass sich das Frausein diese Identität zu eigen macht, ist das beste Beispiel für diesen Prozess. In dem Maße, dass die anderen gesellschaftlichen Gruppen das Benachteiligungsgewehr mit den Werten fabrizieren, die den Frauen zugewiesen werden. Wenn ihr Status ihre Identität überragt, wird das geistige Vermögen schwächer und das Misstrauen größer, was wiederum den Opferstatus begünstigt. Allmählich eignet sich das Opfer den eigenen Status an, akzeptiert ihn als seine Identität und definiert sich über diese.
Es wird über die Identität, in der Benachteiligte festsitzen, geheuchelt, ohne dass die von den Herrschaftsverhältnissen erzeugten Identitäten infrage gestellt werden. Es werden Plakate, auf denen Arbeiter mit großen Händen abgebildet sind, zerschlissene Jacken, ungeputzte Schuhe bzw. die „Attitüde des Werktätigen“ glorifiziert. Die Politik, die sich über diese Identitäten profiliert, reproduziert die bestehenden Kategorien. Das Einigeln in dem Status des Opferseins bedeutet, dass man die Machtverhältnisse duldet. Nicht nur das. Man lässt dadurch also zu, dass diese dauerhaft stabilisiert werden.
Die Marginalität des Opferseins
Der Status, in den das Opfer eingezwängt wird, deutet auf den Umstand hin, in dem das Individuum oder die betroffene gesellschaftliche Gruppe marginalisiert und instrumentalisiert wird.
Kann es sein, dass hinter dem marginalen Stand der Kämpfe um Rechte und Freiheiten auch die Auswirkung des Umstands steckt, dass man mit der Opferpolitik nicht brechen kann?
Der Anspruch, oppositionell zu sein, ist gleichzeitig der Anspruch bzw. der Versuch, sich über das Benachteiligtsein und den vom System erzeugten Status hinwegzusetzen. Leider müssen wir beobachten, dass die Opferpolitik in der Türkei die Opposition dominiert. Die Linke ist hauptsächlich auf Folter und Gefängnisse fokussiert. Sie rückt die gegen sie ausgeübten Repressalien in den Vordergrund, statt die Kapazitäten ihres vielseitigen Kampfes gegen gesellschaftliche Machtverhältnisse zu erweitern.
Sie begnügt sich damit, in den Vordergrund zu stellen, wie sie vom System benachteiligt wird, was dazu führt, dass sie ihre politische Arbeit bloß über diese Opferidentität fortführt. Dabei spielen die Oppositionshaltung gegen das System, die ausgearbeiteten Alternativen und die neuen Wege, die von ihr angebahnt werden, auf der Agenda der Linken keine großen Rollen mehr.
Die Identität, die über den Opferstatus erlangt wird, schmälert alle anderen Fähigkeiten. Nach und nach löst sich die Rechtsanwältin, der Rechtsanwalt, die Journalistin, der Journalist, die Ärztin, der Arzt, die Ökonomin, der Ökonom, oder die Künstlerin, der Künstler vom eigenen Beruf los und drücken sich nur über diese Identität aus. Sie reden so lange darüber, dass sie sich schließlich daran gewöhnen. Das geht so weit, dass neue „Repressalien“, „Festnahmen“, und „Haftstrafen“ benötigt werden, wenn es sich abzeichnet, dass die alten Diskriminierungen und erlittenen Ungerechtigkeiten ihre Wirkung verlieren.
Ausnahmefall
Die niederschmetterndste Folge dieser Identität ist die, dass die erlebte Benachteiligung ins Zentrum der Welt, des Lebens bzw. des Universums gerückt wird. Carl Schmitt schreibt: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“
Die USA z.B. scheinen derzeit die einzige Kraft zu sein, die über den „Ausnahmefall“ entscheidet, um das Recht, die Moral und die grundlegenden menschlichen Werte in der „modernen und demokratischen“ Welt außer Kraft zu setzen.
Der Ausnahmefall wiederum findet jedes Mal einen logischen Raum mithilfe der Rhetorik über die Opferrolle. Diese Rhetorik wandelt sich plötzlich innerhalb der Ausdrucksweise des Herrschers, um der Macht noch einen Vorzug zu verschaffen.
Entgegen diesem Privileg des Herrschers konstituieren die Unterdrückten, die Benachteiligten und die Misshandelten den umgekehrten Ausnahmefall. Ähnlich der egozentrischen Haltung des Herrschers sieht das Opfer den ‚Ausnahmefall‘ nur in seiner eigenen Peripherie. Somit wird es von der Benachteiligung ins Universum der Ausnahmen gesteckt.
Meistens wird gegen die Gewalt Widerstand geleistet, indem über den Ausnahmefall entschieden wird. Fokussiert auf das Unrecht, das ihm widerfahren war, hält es seine Handlungen für legitim, die es an anderen nicht gutheißt und so ziert es seine eigene Gewalt mit Benachteiligungsrhetorik.
Denn der Opferstatus ist gleichzeitig der Status des Anspruchs auf Macht.
Agamben schreibt: „Leid und die Orientierungslosigkeit sowie ihr Ausdruck sind weder kulturspezifisch noch zu begrenzen mit einem Kulturmodell. Scheinbar sind sie solche Eigenschaften der Menschheit bzw. des Menschseins, die im Falle der Marginalität und Beschränkung zutage treten.“
Israel ist beispielsweise niemals „schuld“, egal wie es sich verhält. Das unbeschreibliche Leid des jüdischen Volkes in seiner Geschichte wird den „Ausnahmefall“ immer bestimmen. Israel nutzt dieses Leid in dem Sinne, die von ihm angewendete Gewalt unhinterfragbar zu machen, anstatt die Gewalt gänzlich in Frage zu stellen oder sich mit Erfahrungen von anderen Opfern des Gewaltsystems auseinander zu setzen. Die Kurden und Schiiten im Irak kleiden sich in einen Opferstatus und verhalten sich ähnlich. Die Massaker und die Demütigungen in ihrer jeweiligen Geschichte legitimieren in ihren Augen alles.
Wer sich in der Opferidentität befindet, macht sich auf ewig zum Empfänger sowie zum kategorisch unschuldigen Menschen. Er wird dadurch unkritisierbar, immun und sakrosankt.
Da die Menschen, die Unterdrückten und die Frauen keine Gleichheit genießen, ist es unvermeidlich, dass sie sich mit dem Bewusstsein der Ungleichheit verhalten. Die „Ausnahmefälle“ zementieren jedoch diese Position.
Die Benachteiligungspolitik ergibt keine Freiheit
Es ist manchmal nicht so einfach, sich nach dem Befinden einiger Frauen zu erkundigen. Es geht ihnen immer schlecht. Sie haben immer schreckliche Krankheiten. Nur negative Erlebnisse. Und finanziell geht es ihnen auch nicht gut. Hintereinander erwähnen sie diverse Mängel und nichts Positives. Das sagst du nicht laut, aber du bereust die Frage. Oft entsteht auch Konkurrenz.
Es klingt so wie „Pass mal auf, mein Problem ist viel größer als deins… Ich bin heroischer… Niemand darf von mir was verlangen und was erwarten…“
Sind das etwa Lügen? Sind diese Frauen eigentlich glücklich und erzählen nur Anderweitiges? Unser Leben ist eigentlich nicht gut. Aber was antworten wir auf die Frage „Wie geht’s dir?“
Sollen wir sagen „Prima, ich fühle mich fit wie ein Turnschuh“, oder „Mein Leben ist fabelhaft … Ich schwebe – bin verliebt und glücklich… die ganze Welt ist versöhnt mit mir… ich bin ausgeglichen“?
Dem ist leider nicht so. Überhaupt nicht. Wer hat denn keine finanziellen Schwierigkeiten in dieser ungleichen Welt?
Kann man in unserem Leben, das umgeben ist von Gewalt, Ungerechtigkeit und Machtmechanismen, Desaster ausschließen? Natürlich nicht. Sind wir mitten in Krieg und Trümmern ausgeglichen? Nein.
Zerstören wir unser Gleichgewicht, indem wir das Gleichgewicht der Natur zerstören? Ja.
Sind wir glücklich in den Städten aus Beton, Kunststoff und Synthetik? Nein.
Wie geht es dir? Wie lautet die Antwort? Es ist tatsächlich nicht so einfach, diese Frage zu beantworten. Zumal wir uns über die Antworten der Frauen, deren Leben eine einzige Hölle ist, nicht aufregen. Man sollte das Leid, die Verzweiflung und die Ausweglosigkeit teilen… Je mehr man sie teilt, desto stärker werden die Gemeinsamkeiten und dadurch wird die gegenseitige Solidarität stärker.
Hier ist der Begriff „gegenseitig“ sehr wichtig. Das Opfer neigt dazu, immer selber zu erzählen, ohne dabei zuzuhören. Mit eigenen Problemen wird der Gesprächspartner unterbrochen, wenn dieser beginnt zu sprechen.
Was passiert dann?
Das Leben wird an den Problemen festklammernd fortgeführt.
Die Frauen sind es, die aus dem Benachteiligtsein die wirksamste Waffe machen. Und diese wird von Frauen ganz behutsam, ästhetisch und „heilig“ eingesetzt. Was hat das übrigens für einen Vorteil für Frauen? Was hat es ihnen bis jetzt gebracht? Gibt es eine Frau, die festklammernd am Leid der Benachteiligung die Befreiung erlangte?
Nein. Die Erfahrungen der Frauen zeigten, dass aus der Opferpolitik keine Befreiung hervorgeht.
Wenn das Einfordern von Rechten irgendwann mal mithilfe der Schwäche des/der Betroffenen etwas brachte, wird dieser Weg fortan als bequem empfunden. Er/sie neigt dazu, das Frau-, Kurdisch-, Homosexuell- oder Behindertsein in den Vordergrund zu stellen, sobald er/sie – aus welchem Grund auch immer – sich bedrängt fühlt. Diese Identitäten sind tatsächlich – sichtbar oder unsichtbar – Ursache und Faktor vieler Probleme. Zugleich funktionieren sie jedoch als Häfen, die man bei jeder Gelegenheit und immerfort aufsucht.
Ist es etwa nicht verständlich, wenn wir nach so vielen Benachteiligungen Schutz suchen?
Selbstverständlich sollten wir Häfen aufsuchen, um nach den Erfahrungen im stürmischen Meer zu Kräften zu kommen, uns zu erholen und vor allem den Gefahren aus dem Weg zu gehen. Aber wir leben im Meer, wie sollen wir denn schwimmen lernen, wenn wir bei jeder Not im Hafen unterkommen?
Die Freiheit ist weder ein Ideal, das sich außerhalb des Menschen befindet, noch ein Hafen, in dem man Schutz sucht. Sie ist die Kraft, mit der die Realität der Gegenwart verändert wird. Verschenkt wird sie nicht, sondern erzeugt, geboren, großgezogen und begossen.
In dem Orkan der Gewalt, in dem wir leben, müssen wir ständig und verantwortungsvoll der Spur der Freiheit folgen. Unsere eigenen Erfahrungen mit Gewalt können ein relevanter Ausgangspunkt sein. Wir müssen zuerst unsere eigene Benachteiligung beobachten. Wir würden unsere Existenz erschaffen, wenn wir – ausgehend von unseren eigenen Erfahrungen mit Gewalt – zu allen gesellschaftlichen Kreisen, die unter allen Herrschaftsverhältnissen benachteiligt werden, eine Brücke bauen. Dabei sollten wir weder die Spuren der Gewalt, die wir am eigenen Leibe erfahren haben, vergessen noch uns an diesen festklammern.
Darum sollten wir uns zu den anderen umdrehen, wobei wir uns von den Vorteilen des Andersseins lösen und unsere Erfahrungen nicht vergessen. Um zu sehen und zuzuhören. Um uns Mühe zu geben und die Spuren der Gewalt gemeinsam zu beheben. Um aufrichtige Solidaritätsformen zu entwickeln. Die richtigen Dialoge mit „Anderen“ geben Diskussionen, Selbstbefragung, Kritik und Selbstkritik, Wandlungen und Veränderungen Raum. Um die Zukunft zu gestalten, schöpfen wir Kraft daraus, indem wir nicht nur über unsere Erfahrungen nachdenken, sondern auch über die Erfahrungen anderer.
Es ist sehr schön, diese Kraft zu spüren, und es lohnt sich.