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Ohne Bologna!

Eine Anmerkung zu den aktuellen Studierendenprotesten

| Joseph Steinbeiß

Die Studierendenproteste, die zunächst in Österreich (vgl. GWR 344), dann in über 50 Universitätsstädten in Deutschland stattfanden (und immer noch stattfinden), sind ein Erfolg.

Die Bildungspolitik, für gewöhnlich kaum mehr als ein Nischenthema, hat es auf die Titelseiten der großen Tageszeitungen geschafft.

Der Druck auf die politisch Verantwortlichen ist hoch, und erstmals scheint sogar ein Bündnis von ProfessorInnenschaft, akademischem Mittelbau und Studierenden möglich, das den Forderungen Nachdruck verleihen könnte.

Mit dem gesteigerten Medieninteresse geht allerdings auch eine Verschiebung der Diskussionsschwerpunkte einher. Hatte Bildungsministerin Annette Schavan die Proteste gegen die vor zehn Jahren begonnene Umgestaltung des tertiären Bildungssektors, die man gängigerweise Bologna-Prozess, Bologna-Reform oder knapp „Bologna“ nennt, noch als „gestrig“ bezeichnet, erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel, der Bologna-Prozess offenbare „die Lücken“ im akademischen System. So entsteht – nicht zufällig – der Eindruck, nicht die Reform sei Schuld an der Misere, sondern deren unzureichende Umsetzung. Manche der studentischen Protestgruppen sind bereits auf diesen Kurs – der flott vor dem Wind einer vorgeblich „konstruktiven Diskussion“ heransegelt – eingeschwenkt. So wurden beispielsweise an der Uni Münster, im Rahmen eines „Bildungsstreiks“, die Studierenden zu einem Treffen eingeladen, auf dem sie ihren Unmut darüber äußern sollten, wie „unvollkommen die Bologna-Reform umgesetzt“ worden sei. Dass diese Reform selbst Quelle berechtigten Unmutes sein könnte, kam den OrganisatorInnen offenbar nicht mehr in den Sinn.

Es ist nicht nur taktisch unklug, seine Forderungen zu mäßigen, während eine politische Auseinandersetzung noch andauert. Es gibt in der Tat keinen Anlass, auf irgendwelche segensbringenden Wirkungen der Bologna-Reform zu hoffen, die gleichsam unter dem Schutt und Gerümpel nur freigelegt werden müssten.

Wichtige Verbesserungen in Studium und Lehre sind nötig und möglich – ohne Bologna

Zu jedem Reformprojekt gehört naturnotwendig, den vorherigen Zustand schlecht zu finden. Ein Studium an deutschen Hochschulen „vor Bologna“ erscheint in der Darstellung vieler Reformbefürworterinnen- und Befürworter als etwas Kauziges, Weltverlorenes, Unpraktisches und Langweiliges; ein Hort verbummelter Studenten, zerstreuter Professoren und sinnlos verplemperter Gelder. Dagegen stehen, gleich erlösenden Zauberformeln, die Kernvokabeln der Bologna-Reform, die beharrlich in jedem neuen Diskussionsbeitrag wiederholt werden: „Effizienz“, „Praxisrelevanz“, „Kompetenz“ und „Erfolg“.

Versucht man, diese Vokabeln konkret mit Inhalt zu füllen, wird rasch deutlich, wie dürftig ihre Substanz ist: Welche „Praxis“ ist gemeint? Was ist ein „effizientes“ Studium? Wie misst man individuellen „Erfolg“? „Kompetenzen“ wofür genau?

Eine Konkretisierung solcher Hohlformeln ist notwendig, um eine sinnige Diskussion über die Zukunft der Bildung zu führen und entscheiden zu können, ob an Bologna wirklich noch etwas zu retten ist.

Unter einem „effizienten Studium“ verstehen Reformbefürworterinnen- und Befürworter gemeinhin ein Studium, das innerhalb kürzester Zeit mit einem Examen beendet wird. Dass eine so verstandene „Effizienz“ die Akademikerquote heben und damit Forderungen der OECD entgegenkommen würde, gehörte zu den ausdrücklichen Zielen der Reform.

Mit „Erfolg“ kann eigentlich nur die Zukunft examinierter Studentinnen und Studenten auf dem Arbeitsmarkt gemeint sein. Denn das Gefühl jedes Einzelnen, ob er oder sie ein erfolgreiches Leben führe oder nicht, könnte wohl selbst der findigste Hochschulreformer nicht anhand festgelegter Parameter „messen“. Beim Arbeitsmarkt setzt naheliegender weise auch die Forderung nach „Praxisrelevanz“ an. Und was schließlich unter „Kompetenz“ zu verstehen sei, scheint an deutschen Universitäten überhaupt niemand mehr zu wissen.

Die Palette reicht von schicken Powerpoint-Präsentationen bis hin zu soliden Kenntnissen in der deutschen Literatur des Mittelalters. Gleichwohl: Wenn „Effizienz“, „Praxisrelevanz“, „Kompetenz“ und „Erfolg“ die großen Errungenschaften der Reform sein (oder werden) sollen, so kann dies nur im Umkehrschluss bedeuten, dass diese vier Eigenschaften dem bisherigen Studium so fern lagen wie die Erde dem Mond, und vor allem: Dass sie nur durch den Bologna-Prozess zu realisieren waren. Dem ist nicht so. Das Beispiel der Geisteswissenschaften mag dies, in gern eingestandener Ermangelung fundierterer Kenntnisse des Verfassers in anderen Disziplinen, verdeutlichen.

Wenn von einem „offensiven Umgang mit der Reform“ gesprochen wird, von den Möglichkeiten kreativer Neugestaltung, die ein solch massiver Eingriff in die Universitätsstruktur (auch) bieten könne, ist mit Blick auf die Geisteswissenschaften (und hier speziell auf die fremdsprachigen Philologien) gern von der Umorientierung des Studiums auf medien- und kulturwissenschaftliche Ansätze die Rede. Diese versprächen größere Praxisrelevanz und höhere Aktualität.

Die kulturelle Vermittlungsarbeit, die fremdsprachige Philologien leisten könnten, sei heute, in einer Zeit wachsender weltweiter Konflikte, wichtiger denn ja. Daher sollten an den Unis auch landeskundliche Veranstaltungen gestärkt werden. Das ist zweifellos richtig. Nur sind solche inhaltlichen „Umorientierungen“ weder so schrecklich neu, noch hätten sie einer generellen Umstrukturierung der Studienordnung bedurft.

Persönliche Erinnerungen mögen wenig maßgebend sein, aber während meines eigenen Studiums (und das lag in der Tat lange vor Bologna…) gehörten kulturwissenschaftliche beziehungsweise kulturvermittelnde Seminare (wenn auch unter weniger hochtrabenden Namen) zum Anregendsten, was der Lehrplan zu bieten hatte. Landeskundliche Vorlesungen waren ohnehin Pflicht.

Es ist also keineswegs so, dass man erst auf Bologna hätte warten müssen, um derart naheliegende Schwerpunkte in der akademischen Lehre zu setzen. Ganz davon abgesehen, dass es damals deutlich einfacher war, solche Kurse im Lehrplan zu verankern, ohne die erdrückende Last des bürokratischen Schutts, der mit Beginn der Reformen über den Fachbereichen niederging, auf den Schultern tragen zu müssen. Was damals als inhaltliches Angebot daherkam, muss heute in Module gepresst werden, oder es wird als „neues Fach“ akkreditiert, erhält einen feschen, englischen Namen (ganz gleich, ob es sich um Beziehungen zu Frankreich, Spanien oder Russland handelt) und steht schließlich so einzig in der europäischen Studienlandschaft da, dass der Wechsel des Studienortes zur unüberwindlichen Hürde werden kann.

Ein anderes Beispiel

Zu Beginn der 90er fand statistisch gesehen ein außergewöhnlich hoher Prozentsatz der Romanistikstudentinnen- und Studenten (an die 90% zuweilen) nach dem Examen eine Stelle. Freilich waren darunter nur wenige, die tatsächlich „in ihrem Fach“ arbeiteten – was immer dies im Einzelfall bedeuten mochte. So verbesserungswürdig das damalige Studium auch war, zeigen solche Zahlen doch, was von jenem Gerede zu halten ist, das Studium „vor Bologna“ habe keine (lebens-)praktischen Fertigkeiten vermitteln können oder zu deren Erwerb nichts oder nur Störendes beigetragen. Wer heute nach mehr „Praxisrelevanz“ ruft, wird erläutern müssen, auf welches Berufsprofil diese zugeschnitten werden soll.

Unis stehen nicht in einem gesellschaftsfreien Raum. Dies wird besonders deutlich, wenn man sich die heutige Berufsaussichten geisteswissenschaftlicher Studentinnen und Studenten vergegenwärtigt, die weder als Lehrerinnen und Lehrer arbeiten wollen, noch eine wissenschaftliche Karriere anstreben. Traditionelle Arbeitsfelder wie Journalismus, Verlagswesen, Arbeit an internationalen Kulturinstituten usw. existieren für sie zum Teil nicht einmal mehr auf dem Papier. Gerade im Verlagswesen, dem klassischen Berufswunsch vieler Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler, sind die Aussichten, heutzutage eine Stelle zu ergattern oder nach einem arbeitsintensiven Praktikum übernommen zu werden, so schlecht wie selten zuvor.

Diesen Zustand wird man kaum der universitären Lehre oder den uneinsichtigen, weil „alten“ Fachdisziplinen anlasten können. Für einen im oben genannten Sinne „messbaren“ Erfolg sind sie nur begrenzt verantwortlich. Wer angesichts des Kahlschlags auf dem Arbeitsmarkt die akademischen Disziplinen von allem lästigen inhaltlichen Ballast befreien möchte, und „Praxisrelevanz“ nur mehr in der vermittelten Fähigkeit sieht, „teamfähig“ zu sein, nett in die Kamera zu lächeln und drei, vier nichtssagende Sätze sprechen zu können, ohne über die Verbalanschlüsse stolpern zu müssen, sollte die Universitäten lieber gleich schließen.

Die viel beschworene „Praxisrelevanz“ wird sich im Falle der Geisteswissenschaften also sinnvoller weise wieder einmal vorrangig auf den Lehrerberuf konzentrieren (müssen). Gerade hier aber sind die Verwerfungen durch den Bologna-Prozess augenfällig.

Die Kritik am alten Lehramtsstudium, seiner mangelhaften Vorbereitung auf die „Wirklichkeit Schule“, die die meisten erst im Referendariat zu spüren bekamen, und seiner inhaltlichen Gewichtung, die zur Vermittlung selbst in der Oberstufe schlicht unbrauchbaren Stoff voraussetzte, ist beinahe so alt wie das Studium selbst. Ansätze, diesen Zustand zu ändern, sind in das jüngst vorgelegte „Gesetz zur Reform der Lehrerausbildung“ geflossen, das überaus kontrovers diskutiert wurde, da es neben vernünftigen Vorschlägen auch einige Kröten enthielt (und enthält), die man nicht widerstandslos schlucken sollte. Gleichviel hätte es solch aufwändiger Neuerungen wie studienbegleitender Schulpraktika – die, wenn auch zweifellos sinnvoll, Schulen vor große Probleme stellen – gar nicht bedurft, um dem Studium des Lehrerberufs ein wenig mehr Bezug zur Praxis zu verschaffen. So haben sich manche Dozentinnen und Dozenten z.B. bemüht, Kontakt zu ehemaligen Studentinnen und Studenten zu halten, die an die Schulen gegangen waren, um deren praktische Erfahrungen für ihre Seminare zu nutzen – sei es in Form von Vorträgen, Diskussionen oder einfach nur im lockeren Gespräch.

Ich selbst habe einige solcher Veranstaltungen miterlebt und kann bestätigen, dass wohl selten eine so konzentrierte, angeregte und produktive Stimmung in einem Uniseminar geherrscht hat. Hans-Jürgen Lüsebrink und Christoph Vatter berichten in ihrem Beitrag zu dem äußerst anregenden Bologna-Dossier der romanistischen Zeitschrift lendemains (134/135, 2009) von einem „Interkulturellen Praxistag“ der Uni des Saarlandes, der seit einigen Jahren nach genau diesem Muster abläuft.

Man mag derlei Ansätze als „Kleinigkeiten“ belächeln. Sie verdeutlichen jedoch, dass man keineswegs auf Anweisungen aus den Ministerien warten musste, um sich der berechtigten Kritik am Zustand des Lehramtsstudiums im Rahmen der Fachtraditionen kreativ zu stellen. Dem Anschein, die Bologna-Reform erleichtere solche kreativen Neuerungen im akademischen Feld, liegt eine optische Täuschung zu Grunde. Denn die Reform behindert derartige Neuerungen massiv: durch den bereits erwähnten, enorm wuchernden bürokratischen Überbau, durch Reglements der Fächerakkreditierungen, die längst zu einem lukrativen Geschäft geworden sind, vor allem aber durch die extreme Verkürzung und Verschulung des Studiums, das eine gründliche (fachliche wie didaktische) Ausbildung kaum mehr zulässt.

Allein die Dauer des Bachelor-Studiums (drei Jahre) ist Anzeichen genug, dass hier einer neuen, institutionalisierten Oberflächlichkeit Tür und Tor geöffnet wird. Hastig ausgeworfene Examina und wohlklingende Versprechungen werden die langfristigen Folgen dieser Entwicklung nicht überdecken können. Geisteswissenschaftliche Bachelor-Examensarbeiten haben heute im Schnitt einen Umfang von 25 bis 30 Seiten, in etwa so viel, wie früher eine gewöhnliche Hauptseminarsarbeit. Das Niveau der Arbeiten ist häufig beschämend niedrig. Kein Wunder: Sind doch viele Bachelor-Seminare – von lobenswerten Ausnahmen ausdrücklich abgesehen – heute kaum mehr als müde angeleitete Lektürekurse. Studierende werden aufgefordert, diesen oder jenen Beitrag in einem wissenschaftlichen Werk zu lesen. Dieser wird dann am Ende des Semesters abgeprüft.

Eigenständiges Arbeiten oder eine kritische Diskussion des Gelesenen ist kaum noch vorgesehen. Und das nicht einmal aus bösem Willen. Es fehlt häufig schlicht an Personal.

Ein sinnvolles geisteswissenschaftliches Studium hat jedoch andere Gesetze. Es darf in ihm nicht darum gehen, Zeit zu sparen; nicht einmal darum, Zeit zu haben. Es muss darum gehen, Zeit zu lassen und die Studierenden zu befähigen, sich in Ruhe und (unter Anleitung) eigenständig das notwendige Wissen anzueignen.

Dies ist nicht, wie häufig unterstellt wird, ein Privileg der wissenschaftlichen Ausbildung, das für andere Berufszweige verschwendet wäre. Es vermittelt im Gegenteil jene elementaren „Kompetenzen“, über die jede Geisteswissenschaftlerin und jeder Geisteswissenschaftler verfügen muss, um auf dem Arbeitsmarkt bestehen zu können. Man stelle sich einmal eine junge Lehrerin vor, die nach einem hastigen Bachelor-Studium, kaum den Kinderschuhen entwachsen und ohne ausreichende Fachkompetenz – von der vielbeschworenen „Reife“ oder „Lebenserfahrung“ gar nicht zu reden, die im Schuldienst alles andere als schädlich ist – in einer problematischen Vorortschule vor ihre erste Klasse tritt. Das arme Kind täte einem jetzt schon leid!

Es spricht Bände, dass in Brandenburg bereits darüber nachgedacht wird, den „normalen“, dreijährigen Bachelor zum „Bachelor of Education“ umzuetikettieren und so Bachelorabsolventinnen- und Absolventen zum Schuldienst zuzulassen. Sollte es soweit kommen, wird man sich der bisherigen PISA-Ergebnisse wohl künftig als äußerst schmeichelhafter Erfolgszeugnisse erinnern dürfen.

Man möge das bisher Gesagte nicht als unzulässige Idealisierung des Zustands der universitären Lehre „vor Bologna“ missverstehen. An deren Unvollkommenheiten bestehen keine Zweifel. Die Bologna-Reform hat diese Unvollkommenheiten aber nicht verbessert, sondern nur noch verschlimmert.

Die Taktik der Reformbefürworterinnen und Reformbefürworter in Politik, Wirtschaft und an den Universitäten besteht darin, die Bologna-Reform als etwas Unumkehrbares hinzustellen – als point of no return.

Dem ist nicht so. Sollen die Universitäten in Deutschland tatsächlich einer der letzten noch verbliebenen Freiräume geistiger Betätigung bleiben, sollen Zugangsbedingungen zum Studium sozial gerecht geregelt werden, und soll ein Studium im Leben junger Menschen mehr sein als ein Presswerk für den Rohstoff „Mensch“, ist es mit technokratischen Nachbesserungen nicht getan. Dann muss die Reform insgesamt rückgängig gemacht werden.

Sie hat nachweislich keines ihrer Ziele erreichen können.

Unter diesen Umständen ist es sinnvoll, nochmals von vorne zu beginnen. Eine neue Diskussion über die Zukunft von Forschung und Lehre in Deutschland muss geführt werden.

Eine Diskussion, an der diesmal von vorne herein VertreterInnen der Studierendenschaft, der Professorenschaft, des Mittelbaus und der Ministerialbürokratie beteiligt werden sollten.

Das Argument, eine solche Diskussion sei nicht möglich, ist nicht überzeugend: Das Chaos, das Bologna an den Unis angerichtet hat, war schließlich auch mit einer Menge Arbeit verbunden. Und es war ziemlich teuer.

Anmerkungen

PS: Zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Artikel hat Frau Wintermantel als Sprecherin der Hochschulrektorenkonferenz in Reaktion auf die Proteste der Studierenden einen eben solchen "Bologna-Gipfel" angeregt. Dies ist sicherlich ein gutes Zeichen, auch wenn man die weiteren Ereignisse wohl erst wird abwarten müssen.