In der Graswurzelrevolution Nr. 341 (September 2009) haben Darth Korth, Katja & Nicolay das Konzept "Gewaltfreie Kommunikation" (GFK), wie es Marshall B. Rosenberg begründet hat, erklärt. Sie sehen in diesem Konzept eine Vertiefung der Gewaltfreiheit, die nicht auf Macht, sondern auf Mitmenschlichkeit basiert und begreifen "Gewaltfreie Kommunikation" als "gelebte Anarchie". Der folgende Text fürchtet eine Verschiebung des Begriffs und der Praxis weg von der militant-utopischen Konzeption des Kampfes für Gerechtigkeit hin zu einer manipulativen Sozialtechnologie. (Red.)
Mehr als eine Gewaltfreiheit
Was „Gewaltlosigkeit“ oder „Gewaltfreiheit“ jeweils bedeuten, ist eine Frage der sozialen Praxis, des Handelns sozialer Bewegungen und Einzelner. In der langen Geschichte des Ungehorsams waren der sprachliche Ausdruck und die tatsächlichen Handlungsdimensionen des Widerstehens vielen Veränderungen unterworfen, von dem biblischen „Nichtwiderstehen“ über den „passiven Widerstand“ hin zu „Satyagraha“ und „Gewaltlosigkeit“.
Dabei wurden oft bestimmte Probleme der Praxis begrifflich zu „lösen“ versucht, etwa indem erwünschte Aspekte besonders ausgezeichnet („GewaltFREIHEIT“ oder jüngst „Gütekraft“), weniger erwünschte begrifflich ausgegrenzt wurden („bloß“ passiver Widerstand).
Allerdings sind dies oft Konstruktionen im Nachhinein oder des Wünschbaren, während gleichzeitig reale soziale Bewegungen ein ganz anderes Bild bieten – und manchmal auch eines mit verwirrenden Facetten. So haben wir seit Ende der 80er Jahre weltweit soziale Massenbewegungen erlebt, die gewaltlos gegen Diktaturen kämpften und erfolgreich waren, dann aber schnell gegen die sozialen Strukturen unterlagen und keine Perspektive über die naheliegenden, kurzfristigen Ziele hinaus entwickelten. Die da gewaltlos kämpften, hatten oft keine starke weltanschauliche Bindung an Gewaltfreiheit, oft waren sie nationalistisch geprägt, sie erkannten lediglich (aber immerhin!), dass sie unterschiedliche taktische Vorteile bei einem Kampf ohne Waffengewalt hatten und so mit weniger Blutvergießen eine bessere Chance hatten, sich durchzusetzen.
Darin kann man einen zivilisatorischen Fortschritt sehen: Statt der Brutalisierungen blutiger Bürgerkriege bewiesen gewaltlose Massenbewegungen ihre Macht. Sie machen damit auch unsere Konzeption einer gewaltlosen Revolution etwas plausibler: Man kann gegen überlegene Militär- und Polizeigewalt einer zivilen Macht Geltung verschaffen. Selbstverständlich müssen sozialrevolutionäre Veränderungen mit anderen, längeren Repressionen, mit ausländischer Intervention und Ausnahmezustand rechnen, aber ob diese Konterrevolution erfolgreich ist, hängt wiederum von den Solidarisierungen und der Machtentfaltung ziviler Massenbewegungen ab …
Die Erfahrungen mit vielen dieser rein politischen Bewegungen ist allerdings alles andere als ein Ruhmesblatt für den zivilen Widerstand; ihre Ziele sind oft erreicht, sobald sie Regierungsämter erobert haben, der Rest ist Selbstversorgung.
Vielleicht ist es die Erfahrung mit manchen Formen solcher „orangenen“ Revolutionen, die schnell in erbitterte Konkurrenzkämpfe und Korruption mündeten, die wieder das Bedürfnis nach einer nicht bloß taktischen Gewaltlosigkeit stärker werden lässt: „Der Unterschied zwischen Gewalt und Gewaltfreiheit scheint nur graduell. In beiden Fällen wird Macht, Druck, Zwang ausgeübt, nur ist der Zwang durch Gewalt stärker.“ (1) Gegen solche „rein instrumentelle“ Gewaltfreiheit setzt Darth Korth die Konzeption der „Gewaltfreien Kommunikation“ Rosenbergs (GFK).
Gewaltfreiheit ist für mich nicht eindeutig mit bestimmten Weltanschauungen und Symbolen verknüpft. Ich habe meine Ziele und Überzeugungen, aber es kann auch ganz andere Begründungen und Verknüpfungen geben (denken wir an jüdische, christliche, buddhistische, hinduistische, taoistische, islamische, atheistische … Gewaltlosigkeit oder die vielen Philosophien, die zur Begründung herangezogen werden können).
Sie ist eine Waffe unterdrückter Gruppen, die ihre Gemeinschaften durch die verschiedensten gesellschaftlichen Formen, Rituale, Institutionen erhalten. Natürlich wünschen wir uns diese möglichst herrschaftsarm, aber das sollte das Ergebnis sein und ist nicht notwendig der Ausgangspunkt.
Wenn wir an unsere eigene politische Kultur denken, so war „Gewaltlosigkeit“ bis in die 60er Jahre mit einem stark disziplinierten Verhaltenskodex verknüpft, ähnlich wie zunächst in der US-Bürgerrechtsbewegung. In den 60er Jahren setzte sich konfliktreich dann ein Stil durch, der spontaner, provozierender war, weniger die Rechtschaffenheit der AkteurInnen betonte, lockerer und informeller wurde. In den Auseinandersetzungen mit einer neuen Subjektivität, anderen sozialen Gruppen und auch mit den BefürworterInnen gewalttätiger Aktionen verschoben sich Praxis und Sprachstil der „Gewaltfreiheit“. Der zivile Ungehorsam richtete sich gegen „strukturelle Gewalt“, letztlich gegen eine Weltgesellschaft voller Grausamkeiten. Und es wurde auch die emotionale und Verhaltensdimension des Disziplinmodells hinterfragt (ein Klassiker, nicht zufällig feministisch, ist dabei Barbara Deming: On Anger (2)). Wut ist nicht immer der Weg in die Gewalt, auch wer Gewalt prinzipiell und als Handlung ausschließt, kann wütend sein und dies auch ausdrücken.
In dem Spektrum, das sich für Methoden des gewaltlosen Kampfes interessiert, existieren nebeneinander immer verschiedene Begründungen und Zielvorstellungen, die je nach sozialen Situationen „realistischer“ oder „unrealistischer“ erscheinen, attraktiver sind oder „utopisch“.
Es sind solche Beobachtungen, die die Frage aufwerfen, was es denn bedeutet, dass „Gewaltfreiheit“ heute in den Programmen von Volkshochschulen, Bildungsvereinen und Anbietern von Weiterbildung mehr und mehr im Sinn der Ansätze Rosenbergs verstanden wird. Warum ist diese Konzeption so überzeugend und warum sind konfrontative und revolutionäre, auf Strukturen zielende Ansätze in Gefahr, marginalisiert zu werden?
Neben dieser Frage nach dem Erfolg dieser Programmatik soll auch die Frage gestellt werden, welche tatsächlichen Wirkungen vielleicht auch zu befürchten sind, auch wenn wir die guten Absichten anerkennen und auch entsprechende Konsequenzen in egalitären und emanzipatorischen Gruppen erwarten. Was ist aber GFK im Rahmen von konkurrenzorientierten, hierarchischen Zusammenhängen? Ich versuche, ein Unbehagen zu erklären:
Einige Fragen an die Methode
Die Konzeption ist scheinbar alltagsnah und verspricht, dass es mir persönlich unmittelbar besser geht, wenn ich mir die Einstellung zu eigen mache, die empfohlen wird.
Rosenberg arbeitet mit relativ einfachen Gegenüberstellungen und Bildern („Giraffensprache“ contra „Wolfssprache“, Giraffen haben ein großes Herz, Wölfe eine große Schnauze), die dafür sorgen, dass seine Grundpositionen relativ eingängig sind. Zweifellos sind in dieser Konzeption viele richtige Beobachtungen alltäglicher Kommunikation aufgenommen, gegen die zunächst und von einem gewaltkritischen Standpunkt nicht viel eingewandt werden soll.
Es fällt aber schnell der Schematismus auf. Schon beim Ausgangspunkt wird die Beobachtung des sozialen Handelns gefordert, die ohne Bewertung, Interpretation oder moralisches Urteil geschehen soll, die Zuschreibung von Absichten und schlechten Motiven gilt geradezu als Quelle eigenen Unglücks, von Wut und Ärger, die nach Ansicht Rosenbergs eben durch Bewertungen, durch Gedanken entstehen. Es ist für mich nicht ausgemacht, ob nicht die besseren BeobachterInnen diejenigen sind, die moralische Urteile fällen, ob nicht vielen Beobachtungen sogar Bewertungen und moralische Urteile zugrunde liegen (was nicht die Probleme ausschließt, die Rosenberg meint, es lässt sich nur nicht so säuberlich trennen).
Die Forderung, es sollen keine Vorwürfe, sondern nur Beobachtungen mitgeteilt werden, zeigt schon ein weiteres Problem: Es ist vom Kontext abhängig, ob nicht die „Beobachtung“ doch ein Vorwurf ist.
Der Beispielsatz in GWR 341 „Du bist letzte Woche zweimal nach 20 Uhr angekommen“ (S. 11, Giraffensprache, teilt nur eine Beobachtung mit) kann sehr wohl nach Betonung, Kontext der Beziehung … – Vorwurf sein, sogar kleinliche Kontrolle.
Wie kontextabhängig es ist, ob eine Aussage „Bewertung“ oder Beobachtung ist zeigt folgendes Beispiel:
„Im Kreml ist noch Licht“ ist eine Beobachtung, während in „Sie haben schon wieder das Licht im Kreml angelassen“ schon eine Bewertung enthalten ist. (3)
Gedankliche Bewertungen entscheiden nach Rosenbergs Überzeugung darüber, dass wir etwas als Gefühl ausgeben, was aber gar nicht unser (ich ergänze: „authentisches“, um auf die Geschichte der Konzeption hinzuweisen) Gefühl ist, sondern Gedanken und Bewertungen über andere. Auch daran ist etwas wahr, ich würde sagen, dass der Ausdruck von Gefühlen gesellschaftlich bestimmt, u.U. gar normiert ist, deshalb natürlich auch bestimmte Urteilsschemata zur Verfügung stehen, die „einrasten“ und Orientierung in komplexen Zusammenhängen schnell ermöglichen.
Diese von Rosenberg etwas vorschnell als Pseudogefühle behandelten Urteile, Schemata der Empörung usw. sind aber auch zu Stereotypen abgesunkene Formen des Kampfes um Gerechtigkeit und gegen Erniedrigung. Es ist die Frage, ob die Auflösung ins Individuelle nicht eine Zerfallsform sozialer Beziehungen ist: So wie alles individuell zugerechnet wird, bin ich auch an meiner Wut und meinem Ärger – selbst schuld, er wird nicht mehr als ungerechtes Klassenschicksal begriffen.
Manche Beschreibungen sind geradezu solipsistisch: „Ich empfinde kein Gefühl, weil eine andere Person etwas tut oder nicht tut:“, vielmehr hat alles, was wir fühlen, seine Ursache in uns „und in der Wahl, die wir getroffen haben.“ (4)
Wenn Rosenberg Personalisierungen kritisiert, so ist das so richtig wie eh und je in allen gewaltkritischen Bewegungen; er geht aber darüber hinaus und in die Irre, weil sich ihm alles ins Zwischenmenschliche auflöst, er strukturelle Zusammenhänge, die Verhältnisse, die das Verhalten immer neu prägen, systematisch unterschätzt. (5)
Die Gefühle sind aber bei Rosenberg eigentlich nur das Vehikel, die zugrundeliegenden Bedürfnisse zu erkennen.
Daran sind weitreichende Hoffnungen geknüpft: „Wenn wir uns gedanklich unmittelbar auf unsere Bedürfnisse konzentrieren, werden wir sie wahrscheinlich auch erfüllt bekommen – wenn wir das wirklich wollen.“ (6)
Das klingt gefährlich zirkelschlüssig: Wenn die Bedürfnisse nicht erfüllt werden, hat mensch es nicht „wirklich“ gewollt?
Hier droht das „Blaming the victim“: Schließlich geht alles gut aus, wenn man die richtigen Einstellungen und adäquaten Ausdrucksformen hat – ist dann nicht selbst schuld, wer in Ärger, Depression und Misserfolg verkümmert?
Auch wenn wir nicht uns betrachten, sondern „welche Bedürfnisse sich die andere Seite gerade erfüllen wollte und sich so verhalten hat, wie sie es getan hat“, gilt: „Diese Art des Verständnisses für die Bedürfnisse anderer Menschen macht uns nicht wütend oder ärgerlich.“ (7)
Ich weiß nicht, ob ich mich diesen Verhaltensempfehlungen anschließen will. Ich habe auch schon oft Bedürfnisse (auch Interessen!) beobachtet und verstanden und trotzdem nicht gezögert, die Handlungen zu verurteilen, die sich aus der Verfolgung solcher Bedürfnisse oder Interessen ergeben.
Hier wird das weite Feld gesellschaftlich legitimer und kommunizierbarer Bedürfnisse verhandelt: Auf wessen Bedürfnisse wird Rücksicht genommen, wessen Bedürfnisse werden routiniert übergangen. Das ist schon das Bild der Klassengesellschaft.
Es besteht hier auch die Gefahr der Abwertung von Sozialkritik und Gerechtigkeitsforderungen, wie sie auch sonst unter „Sozialneid“-Etiketten abgelegt werden: Es sind die zu Kurz gekommenen, die nicht in Kontakt mit den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen stehen, die in solcher „Wolfssprache“ reden.
Während es gleichzeitig genug Angestellte gibt, die stets sehr gut erkennen, „was sie fühlen und brauchen“: „Sonst hatte ich hinterher immer das Gefühl – uups, den Eindruck – ich hätte den anderen über den Tisch gezogen. Jetzt weiß ich, der hat aus freien Stücken ja gesagt. Was für ein Unterschied!“ (8)
Rosenberg möchte, dass die Erkenntnis der eigenen Gefühle und Bedürfnisse dann in eine konkrete, ausführbare, gegenwartsbezogene Bitte ausmündet, eine Bitte, die auch abgelehnt werden kann.
Zweideutigkeiten des Bittens
Da das Bitten in der Strategie der „Gewaltfreien Kommunikation“ einen hohen Stellenwert hat, will ich meine Einwände auch an dieser Stelle konzentrieren.
Für Max Weber ließ sich Herrschaft noch so definieren, dass der Begriff die Chance (!) bedeutet „für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden.“ (9) Zu seiner Zeit war also die Befehlsform typisch, nicht nur beim Militär, ebenso in der industriellen Bürokratie, auch in der Familie. Befehl und Gehorsam waren Grundformen sozialer Beziehungen. Inzwischen könnte für „Befehl“ auch „Bitte“ eingesetzt werden. Die öffentliche wie private Bürokratie drückt ihre Anordnungen als Bitte aus. Sogar in der Armee, wo selbstverständlich noch befohlen wird, haben sich die Umgangsformen gemildert; in vielen anderen Bereichen ist der Befehl geradezu verpönt – weil er auch Widersetzlichkeit provoziert (man mag darin einen zivilisatorischen Fortschritt sehen, den Abbau fragloser Autorität, es ist aber auch eine Verschleierung von Herrschaft).
Die Bitten werden aber durchaus so verstanden wie sie auch gemeint sind und wirken mit der gleichen mechanischen Sicherheit des alten Befehls. „Würden Sie das bitte hier wegräumen“ richtet sich an diejenigen, deren Aufgabe das ist, es wird auch nicht einmal eine Antwort erwartet, aber die sprachliche Form ist – eben eine Bitte.
Die – von mir nicht bestrittene – gute Absicht der GFK trifft also auf eine soziale Situation, in der die Bitte gerade in hierarchischen Beziehungen die dominante Form geworden ist. Es bedeutet allein schon eine soziale Selektion, wessen Bitten erhört werden. Dazu kommt, dass die „Topdogs“ in diesen angeblich „flachen“ Hierarchien geradezu systematisch in Sozialtechnologien ausgebildet und gecoacht werden, die den „Führungskräften“ ein Übergewicht gegenüber den „underdogs“ verschaffen – und genau in dieses Schema könnten Aspekte der GFK passen (und adoptiert werden immer nur die Aspekte, die passen).
Beispielsweise ist Teil der Ausbildungsprogramme für die neuen Führungskräfte immer, dass sie lernen, Angriffe gegen sich und Urteile über sich abprallen zu lassen nach dem Schema: „Das hat nichts mit mir zu tun, das sind seine Gedanken oder Gefühle und Bedürfnisse, ich bin nicht die Ursache und ich bin nicht dafür verantwortlich.“ Ich würde sagen: Da ist GFK „anschlussfähig“.
Dass Probleme der Hierarchie unzureichend durchdacht sind und „Führung“ gar positiv bewertet wird zeigt etwa folgende Passage:
„Die Wechselwirkung zwischen einer Führungskraft, die gemeinsame Entscheidungen herbeiführt, die dem Leben dienen, und einem Mitarbeiter, der diese Autorität respektiert und ihr aus freien Stücken folgt, kann tatsächlich ein Gespräch auf Augenhöhe ermöglichen.
Dabei sind es weniger die Handlungsanweisungen selbst, die Probleme schaffen oder verstärken, sondern die Art und Weise, wie diese Anweisungen ausgesprochen werden. …“ (10)
Dann noch das positive Beispiel:
„‚Bitte erledigen Sie das so schnell wie möglich‘ ist ein Beispiel für eine unklare Bitte. Besser wäre: Ich möchte, dass dieser Auftrag bis 15 Uhr erledigt ist. Passt das für sie?'“ (11)
Wenn die Bitte „von oben“ den alten Befehl ersetzt, was ist mit der Bitte „von unten“? Stärkt sie nicht die Subalternität?
Stärkt sie nicht vielleicht sogar in der betrieblichen Realität Opportunismus und Hierarchie? Zumindest führt sie eine Trennung ein, die folgenreich ist: Die einen bitten um etwas, das andere gewähren oder versagen können. Zweitens: Die einen bitten um etwas, andere nicht. Was sind die Folgen, die man beobachten kann? Es sind in jedem Fall Machtbeziehungen.
Aus welcher Position heraus eine Bitte geäußert wird, ist keinesfalls gleich gültig. Und sogar zwischen Gleichen ist die Bitte geeignet, deren Beziehung zu verändern, in vielfacher Weise zwischen zunehmender Abhängigkeit oder Freundschaft sich entwickelnd. Die Bitte ist nicht etwa außerhalb der Macht, sondern setzt diese teils voraus, ist auch an Prozessen der Machtentstehung beteiligt. Im günstigsten Fall, wenn aus den Bitten Freundschaft sich entwickelt, ist auch dies – ein Prozeß der Machtbildung. (12)
Aber die entscheidenden Prozesse finden statt durch die Rezeption der GFK in hierarchischen Beziehungen. Diese Milieus gieren geradezu nach moralischer Aufrüstung, weil sie natürlich um ihre Schwächen und Anmaßungen wissen, und ich sehe keinen Grund, warum sie sich nicht auch mit „gewaltfreier Kommunikation“ schmücken sollten. Das, was schon jetzt durch die Management-Seminare geistert, ist auch das Ergebnis von humanistischer Psychologie und oft genug entstammen auch die Trainer den sozialen und pädagogischen Bewegungen, die seinerzeit mit der „Gruppendynamik“ den „subjektiven Faktor“ bearbeitet haben.
In vielen Betrieben existieren bereits Strukturen, wie sie in GFK-Büchern empfohlen werden:
„Sie empfahlen uns, jede Teamsitzung und jedes Meeting mit einer zehnminütigen Runde zu beginnen, in der die Mitarbeiter aufzählen, womit sie sehr zufrieden sind und was gut gelaufen ist. Das tun wir regelmäßig – und inzwischen dauert es eine halbe Stunde.“ (13)
Es ist keineswegs so, dass in vielen Betrieben „gut gelungene Arbeiten als normal gelten und nur Kritikwürdiges auf den Tisch kommt“ (14) und solche „Dankesrunden“ dann „positive Energie“ schaffen.. In Wirklichkeit ist die Trainingsarbeit so weit gediehen, dass jede grundlegende Kritik als destruktiv oder „wenig hilfreich“ abgewiesen wird und – wie im früheren Realsozialismus – nur in Steigerungsformen gesprochen wird: Es kann noch besser werden, noch effektiver, die Beschäftigten sind schon sehr zufrieden und bringen das gerne zum Ausdruck, aber es lässt sich immer noch etwas verbessern. „Positives Feedback“ ist geradezu Pflicht!
Weil die alten Rituale und Selbstverständlichkeiten nicht mehr greifen, ist der Bedarf an Selbstvergewisserung und „Metakommunikation“ industrieartig angewachsen. Ebenso ist der Zugang zu Karrieren schon seit längerem zunehmend umgestellt auf Anspruchskommunikation (wer lange genug sich selbst als … darstellt, findet schon welche, die ihn als …anerkennen, es gibt keine Möglichkeit, ihm zu sagen, das … sei er gar nicht, das wäre beleidigend); das passt wiederum gut zur Politik der Bedürfnisse und des Bittens: Ich brauche das und das und würde gerne … und wenn man den richtigen Leuten lange genug mit solchen Bedürfnissen in den Ohren liegt „werden wir sie wahrscheinlich auch erfüllt bekommen“ (was natürlich auch einen Preis hat). Aber für wen gilt dieses Verhaltensmodell – und für wen nicht?
Und wollen wir diese Auslese unterstützen – oder sollten wir sie gerade ablehnen?
Die GFK sucht Lösungen, die allen gerecht werden. Das kann nur bedeuten: Den Rahmen anerkennen, die Grundstrukturen nicht in Frage stellen, in diesem Rahmen Kompromisse und Verständnis füreinander fördern. Es wäre schade, wenn die Gewaltfreiheit in solche betriebswirtschaftlichen Kalküle einginge – statt den Zusammenbruch auch dieser pathologischen Normalität nach Kräften zu beschleunigen.
Was wäre die Alternative? Graswurzelrevolution! Eine Politik der radikalen Trennung: Ihre Moral und unsere, keine Gemeinsamkeiten. Radikale Kritik der Hierarchie, der Gewalttätigkeiten aller Art. Zu unserer Moral passt dann eine gewaltfreie Kommunikation, die sich vor Schematismus und Formelhaftigkeit hüten sollte, aber immer das Antlitz des Anderen (Levinas) sieht.
(1) Darth Korth in GWR 341, allerdings mit eher "bewegungsnahen" Beispielen. Er scheint auch anzunehmen, dass "durch militante Aktionen größere Macht" entfaltet werden könnte. Das würde ich nicht so sehen. Ich würde auch bejahen, dass Gewaltlosigkeit Macht, Druck, Zwang ausübt und das für notwendig halten.
(2) Nachzulesen etwa in: Deming, Barbara: We are all part of one another. Philadelphia 1984 S. 207-217 (schon der Buchtitel wird Darth Korth gefallen!)
(3) Das Beispiel ist entnommen aus: Pasztor, Susann und Klaus-Dieter Gens: Mach doch ...was du willst: Gewaltfreie Kommunikation am Arbeitsplatz. Paderborn 2005, S. 17, ich habe mir erlaubt das Wort "Konferenzraum" durch "Kreml" zu ersetzen, was langjähriger betrieblicher Praxis geschuldet ist. Viele GWR-LeserInnen kennen sicher das berühmte Gedicht "Im Kreml ist noch Licht" von Erich Weinert; es belegt, dass mehr Bewertung als in dieser "einfachen Beobachtung" schlechterdings nicht möglich ist.
(4) Rosenberg, Marshall B.: Was deine Wut dir sagen will : überraschende Einsichten. Paderborn 2006, S. 29
(5) Diese Kritik hat auch Katja in GWR 341 S. 12. Mein Artikel ist nicht gegen die Beiträge in der September-GWR 341 geschrieben, sondern versucht, Versprechen der GFK weitergehend mit möglichen Szenarien ihres Einsatzes zu konfrontieren und unsere "traditionalistische" Perspektive zu stärken.
(6) Rosenberg, Marshall B.: Was deine Wut dir sagen will : überraschende Einsichten. Paderborn 2006 S. 11
(7) a.a.O.
(8) Pasztor, Susann und Klaus-Dieter Gens: Mach doch ...was du willst: Gewaltfreie Kommunikation am Arbeitsplatz. Paderborn 2005 S. 54
(9) Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. 5. Aufl., Studienausgabe, Tübingen 1972, S. 28
(10) Pasztor, Susann und Klaus-Dieter Gens: Mach doch ...was du willst: Gewaltfreie Kommunikation am Arbeitsplatz. Paderborn 05, S. 29
(11) Pasztor, Susann und Klaus-Dieter Gens, a.a.O. S. 52
(12) vgl. Popitz, Heinrich: Phänomene der Macht. 2. Aufl., Nachdr. Tübingen 2004: hier S. 203 ff: Die produktive Überlegenheit von Solidaritätskernen
(13) Pasztor, Susann und Klaus-Dieter Gens, a.a.O. S. 80 (Dankesrunden). In der DDR sollen solche Sitzungen noch wesentlich länger gedauert haben.
(14) Das gilt für die schmutzigen alten Industrien mit schwerer körperlicher Arbeit, die aber zunehmend in die Peripherie verlagert wurden.