Ich bin eine Prä-Butlersche Feministin. Das heißt, ich habe meine Vorstellungen davon, was es bedeutet, Frau und frei zu sein, im Wesentlichen ausgebildet, bevor 1990 Judith Butlers Buch "Das Unbehagen der Geschlechter" erschien und die feministische Theoriearbeit in Deutschland in eine Richtung wendete, die ich nicht mit vollzogen habe.
Bis vor kurzem war das für mich kein Problem, weil die Frauen, mit denen ich politisch-feministisch zusammenarbeite, ebenfalls keine „Butlerianerinnen“ sind.
Seit ich aber ein Blog schreibe und andere feministische Blogs lese und dort kommentiere, begegne ich dem auf Butlers Denken zurückgehenden Queer-Feminismus häufig, und in Kommentardiskussionen ergeben sich daraus immer wieder ähnliche Missverständnisse und Differenzen.
Deshalb möchte ich hier einmal aufschreiben, warum ich nicht queer bin. Und zwar ausgehend von meiner persönlichen Geschichte, denn vermutlich sind biografische Gründe ziemlich bedeutsam für die theoretischen Wege, die jemand geht.
Als ich 19 war, zog ich vom Dorf in die Großstadt, nach Frankfurt, um zu studieren. Das war 1983. Vom Feminismus als politischer Bewegung hatte ich noch nichts gehört, sehr wohl aber war mir bewusst, dass sich Frauenrollen ganz heftig in Änderungsprozessen befanden. Zumindest war ich fest entschlossen, dass alles, was man bisher über Frauen gesagt hatte (und auch zu mir), für mich absolut keine Gültigkeit haben würde. Ich fühlte mich frei, unabhängig und emanzipiert – ob es dafür nun einen Namen gab oder nicht.
Konkret bedeutete das, dass ich mir von niemandem Vorschriften machen ließ, weder von den „Erwachsenen“, noch von den Männern, mit denen ich Beziehungen hatte. Ich diskutierte nicht, ich verkündete meine Entscheidungen: meiner Mutter, dass ich nicht beabsichtigte, jemals Unterhemden zu bügeln, meinem damaligen Freund, dass Penetrationssex für mich nicht in Frage kommt, weil er mir keinen Spaß macht. Solche Dinge. Auf die Idee, ich könnte in unserer WG irgendwie mehr für Putzen und Kochen zuständig sein als die Männer, die dort wohnten, wäre ich ohnehin nicht gekommen (die Männer übrigens auch nicht).
Die Frauenbewegung, die ich dann an der Uni vorfand, bot mir also lediglich eine Theorie für das, was ich ohnehin selbstverständlich fand: dass ich, eine Frau, tun und lassen kann, was ich will, und dass der Wunsch danach (und die kompromisslose Entschlossenheit dazu) nicht eine individuelle Macke von mir ist, sondern Teil eines umfassenden politischen Projektes zur Befreiung aus altmodischen Rollenklischees.
Diese selbe Frauenbewegung langweilte mich aber auch, weil sie mir persönlich nicht weiterhelfen konnte. Wie gesagt, sie konstatierte ja aus meiner Sicht nur das ohnehin Selbstverständliche. Interessant fand ich lediglich das eine oder andere konkrete Thema: das Experimentieren mit geschlechterbewusster Sprache zum Beispiel oder die Erforschung von Frauengeschichte. Was das Thema persönliche Befreiung betraf, so sah ich natürlich ein, dass nicht alle Frauen so selbstbewusst waren wie ich, dass ich als Kind der Mittelschicht bessere Startchancen hatte als andere und so fort. Deshalb, so dachte ich, brauchte es natürlich den Feminismus, brauchte es Solidarität etcetera. Aber ich, persönlich, brauchte die Frauenbewegung nicht.
Bei all dem wäre ich aber nie auf die Idee gekommen, die Tatsache meines Frauseins in Frage zu stellen. Wenn ich Motorrad fuhr, wenn ich Sex mit Frauen hatte, wenn ich andere in Grund und Boden diskutierte, wenn ich ungerührt zusah, wie sich der Abwasch in der Spüle stapelte – dann wäre ich nicht für eine Sekunde auf den Gedanken gekommen, dass ich damit die Grenzen meiner Geschlechtszugehörigkeit überschreiten würde. Ganz im Gegenteil: Ich war dadurch erst recht eine Frau, so „unbeschreiblich weiblich“ wie Nina Hagen, wenn sie sich keine kleinen Kinder anschaffen wollte.
Und auch die Männer waren ja längst nicht mehr so wie das Klischee. Sie hatten lange Haare, trugen Blümchenblusen und übten gewaltfreie Kommunikation. Sie gingen einkaufen und putzten das Bad, sie diskutierten über ihre Gefühle, manche wurden schwul. Und niemals wären wir auf die Idee gekommen, sie würden dabei irgendwelche „weiblichen Seiten“ an sich entdecken, ganz im Gegenteil: Es wurden doch „neue Männer“ aus ihnen!
Aber dann kam Judith Butler. Am Anfang fand ich ihren Gedanken, dass nicht nur soziale Geschlechtsrollen konstruiert sind (was damals schon ein alter Hut war), sondern auch der biologische Körper, durchaus spannend. Und es leuchtete mir auch absolut ein, jedenfalls auf einer theoretischen Ebene. Allerdings fand ich es nicht wirklich alltagsrelevant. Zum Beispiel änderte diese theoretische Erkenntnis ja nichts an der Tatsache, dass ich schwanger werden konnte, die Männer, mit denen ich Sex hatte, aber nicht. So what.
Eines Abends sah ich dann im Fernsehen ein Interview mit Judith Butler, in dem sie auf mich doch sehr altbacken wirkte. Sie erzählte, wie sie auf die Idee für ihr Buch gekommen war: Eines Abends habe sie in einer Schwulendisko Männern beim Tanzen zugeschaut und ihr sei aufgefallen, dass diese sich vollkommen „weiblich“ bewegten. So ein Schwachsinn, dachte ich, seit wann ist es denn weiblich, wenn Männer mit den Hüften wackeln.
Für mich waren gerade solche Zuschreibungen nicht etwa ein Fortschritt im Bezug auf die Überwindung von Geschlechterklischees, sondern ein Rückschritt. Ein Mann, der mit den Hüften wackelt, bewegt sich nicht „weiblich“, sondern er macht aus dem Hüftenwackeln eine männliche Bewegungsform. So wie Frauen, die Hosen tragen, keine „Männerkleidung“ anziehen, denn Hosen sind längst Frauenkleidung geworden. Eine Frau ist eine Frau ist eine Frau. Ganz egal, was sie tut. Und ein Mann auch.
Und dieser Meinung bin ich heute noch. Meinetwegen können einzelne Frauen Männer werden und andersherum, oder sie können sich weitere Geschlechter erfinden, dagegen habe ich nichts. Ich werde aber allergisch, wenn das mit „weiblichem“ oder „männlichem“ Habitus analysiert wird. Ich kann nicht sehen, warum ein Mann sich „weiblich“ gibt, wenn er sich die Lippen schminkt oder Stöckelschuhe trägt – ich tue weder das eine noch das andere und bin trotzdem ganz unbestreitbar eine Frau. Also wenn, muss es andere Gründe haben.
Die Entwicklung des Feminismus in den 1990er Jahren war für mich im Großen und Ganzen eine Enttäuschung. An den Unis wurde mehr oder weniger nur noch über Judith Butler diskutiert (was allerdings, soweit ich es beurteilen kann, ein deutsches Phänomen ist, in den USA blieb die Bewegung auch im Hinblick auf die Theoriearbeit vielfältiger), während in den staatlichen Institutionen die Gleichstellung einzog, die immer weniger revolutionäre Ambitionen hatte.
Über italienische Feministinnen stieß ich dann Anfang der neunziger Jahre auf andere Theorien, die sich für meinen politischen Alltag und das Projekt „Wie kann ich eine freie Frau sein“ als hilfreich erwiesen und die mich letztlich doch noch zur ausgewiesenen Feministin machten – doch das ist eine andere Geschichte, die ich vielleicht an anderer Stelle mal erzähle.
Heute haben wir es jedenfalls in der Alltagskultur wieder mit Geschlechterklischees zu tun, von denen ich mir vor fünfundzwanzig Jahren niemals hätte träumen lassen, dass das möglich wäre. Jungs tragen blau, Mädchen stehen auf rosa – tiefster fünfziger Jahre-Mist.
Wenn ich mir anschaue, wie sich Mädchen und Jungen heute schon in Schulen voneinander separieren, dann leben wir im Vergleich zu meiner Kindheit in Zeiten krasser Geschlechterapartheid. Und was die Machismo-Inszenierungen junger Männer oder der nuttige Körperexhibitionismus junger Frauen soll, ist mir schleierhaft. Nicht, dass ich das moralisch verwerflich finde. Mir ist bloß schleierhaft, wie man damit Freiheit verbinden kann.
Ich kann es mir nur so erklären, dass es nach wie vor offenbar eine tiefe Sehnsucht gibt, Frau und Mann zu sein. Dass es aber an Ideen und Beispielen dafür fehlt, wie das in Freiheit möglich wäre. Es gibt keine Vorbilder, nur noch Klischees. In dem Versuch, das Geschlecht abzuschaffen, wurde so viel über die Geschlechterunterschiede diskutiert und geforscht, dass sie sich hinterrücks zu Riesenmonstern ausgewachsen haben.
Was aus meiner Sicht notwendig wäre, ist, die Praxis des freien Frauseins und des freien Mannseins weiter zu verfolgen, zu verfeinern, darin zu Meisterinnen und Meistern zu werden.
Und deshalb bin ich nicht queer. Denn wenn Frauen, die „anders“ sind, gar nicht mehr als Frauen wahrgenommen werden, sondern als Queer, dann bleibt für diejenigen, die weiterhin Frauen sind, eben nur das Klischee übrig. Und wenn sich die ganze feministische Energie darauf konzentriert, den Sinn der Existenz von Frauen (und Männern) zu bestreiten, dann wird der Feminismus logischerweise auch nichts zur Freiheit von Frauen und Männern beitragen können.
Anmerkungen
Antje Schrupp ist Journalistin und Politikwissenschaftlerin. Sie lebt in Frankfurt/M.
Weitere Infos:
www.antjeschrupp.de
antjeschrupp.com