"Whistleblowing" ist das Publizieren kritischer Informationen über Missstände oder Gefahren. Die Bezeichnung spielt dabei auf den Pfiff eines Schiedsrichters bei Regelverstoß an.
Der oder die "Meldende" geht dabei zumeist ein hohes Risiko für sich ein, da die "Geschädigten" versuchen werden, die Veröffentlichung zu verhindern oder zukünftiges Verhalten zu beeinflussen. Das ist offensichtlich besonders leicht zu bewerkstelligen, wenn bereits ein Herrschaftsverhältnis besteht: Mögliche Sanktionen reichen von der Kündigung der Arbeitsstelle bis hin zur politischen Verfolgung durch einen Staat.
Wikileaks
Wikileaks (www.wikileaks.org) ist ein Kollektiv, das sich 2005 bildete, um Whistleblowern das Veröffentlichen geheimer Informationen über das Internet zu ermöglichen. Das Projekt hat es sich dabei zum Ziel gesetzt, einerseits den InformantInnen größtmögliche Anonymität zu gewähren und andererseits den öffentlichen Einfluss der Dokumente zu maximieren.
Struktur
Über die interne Zusammensetzung und Organisation des Projektes ist vergleichsweise wenig bekannt. Wikileaks-Sprecher Daniel Schmitt sieht diese „Obskurität“ bezüglich interner Vorgänge derzeit noch als Voraussetzung für den Schutz der Whistleblower. (1) Grundsätzlich sieht er allerdings auch die Möglichkeit, die bisher intern erledigten Arbeiten auf die Masse der InternetnutzerInnen umzulegen und somit ein wesentlich offeneres und transparenteres System bereit zu stellen.
Nach eigener Aussage organisieren sich derzeit 800 bis 1.000 Leute unterschiedlicher Herkunft in dem Projekt. Dazu zählen SpezialistInnen für Forensik, Journalismus, Informationstechnik und Rechtswesen. Außerdem stellen HelferInnen technische Ausrüstung zur Verfügung, um das globale Netzwerk von Wikileaks auszubauen.
Die InformantInnen können auf mehreren Wegen mit Wikileaks Kontakt aufnehmen. Neben der Möglichkeit, per Internet Informationen weiter zu leiten, möchte Wikileaks auch ein Netzwerk von lokalen HelferInnen nutzen, um Dokumente z.B. über private Postfächer annehmen zu können.
Der Internetauftritt Wikileaks‘ wurde darauf ausgelegt, eine Identifikation der kritischen TeilnehmerInnen zu erschweren. So ist die Seite einerseits auch aus dem Anonymisierungsnetzwerk „Tor“ erreichbar und andererseits wird sämtlicher Datenverkehr innerhalb des Projektes über mehrere Server geleitet. Durch diese Methode möchte das Projekt auch die Rechtssicherheit für sich und InformantInnen stärken, da der Datenverkehr grundsätzlich auch durch Staaten mit vergleichsweise starken Rechten für Whistleblower und JournalistInnen geleitet wird.
Alle eingehenden Dokumente werden intern einer Prüfung auf wenige, grundsätzliche Punkte unterzogen; so sollte das Dokument weder bereits veröffentlicht worden sein, noch sollte der Informant das Dokument selbst verfasst haben.
Außerdem werden die Einsendungen forensisch untersucht, um Hinweise auf die InformantInnen zu entfernen und die Authentizität der Informationen einschätzen zu können.
Ist das Dokument mit diesen Kriterien kompatibel, so wird es veröffentlicht. Eine nähere inhaltliche Auseinandersetzung findet zwar (öffentlich) statt, entscheidet allerdings nicht über die Veröffentlichung.
Wikileaks vertritt dabei den Standpunkt, dass eine inhaltsgebundene Veröffentlichung als Zensur zu werten wäre, da es keine objektiven Kriterien zur Entscheidung geben könne.
Fundraising
Wikileaks minimierte Ende 2009 die Funktionen des Internetauftrittes, um dringlicher auf die Abhängigkeit von Spenden hinzuweisen. Das Projekt gibt ein gewünschtes jährliches Budget von 600.000 $ an, von denen im April 2010 erst ungefähr 370.000 $ durch Spenden eingenommen werden konnten. Nach eigenen Angaben finanzierten bisher alle HelferInnen ihre Tätigkeit für Wikileaks selbst oder lebten von Spenden.
Die Funktionen bleiben bis zum erneuten Start des Auftrittes auf die Grundfunktionen beschränkt. Es werden außerdem nicht alle Einsendungen veröffentlicht, sondern nur solche, die als „zeitkritisch“ angesehen werden.
Um finanzielle Sicherheit zu gewinnen, möchte das Projekt außerdem temporäre Exklusivitätsrechte an den Dokumenten verkaufen; so kann ein Nachrichtenmagazin beispielsweise vor der Veröffentlichung durch Wikileaks bereits über das Thema berichten.
Reaktionen
Unternehmen und Staaten reagierten unterschiedlich auf die Veröffentlichungen des Projektes. Der Internetauftritt spricht von bereits 100 rechtlichen Prozessen, die Wikileaks führen musste und bis dato jedes Mal gewonnen hat.
Die Publikationen finden in den „etablierten Medien“ oft Beachtung, allerdings wird in vielen Fällen darauf verzichtet, das Projekt als Quelle der Informationen anzugeben. Wikileaks selbst wünscht explizit die Nennung, um die Popularität und somit die Anzahl potentieller InformantInnen zu erhöhen.
Die politische Verfolgung von Mitgliedern scheint derzeit kaum (erfolgreich) statt zu finden. In letzter Zeit spitzte sich die Lage allerdings für HelferInnen in Island und den USA zu: Unabhängig voneinander berichteten Mitglieder des Projektes, dass sie observiert würden. Ein junger Mitarbeiter wurde außerdem festgenommen und verhört. Er berichtete später davon, dass ihm während der Befragung Fotos von einem geheimen Koordinationstreffen des Projektes gezeigt wurden.
Es wird vermutet, dass diese jüngsten Einschüchterungsversuche auf die letzte große und langfristig angekündigte Veröffentlichung zurück zu führen sind; Wikileaks wurde ein verschlüsseltes Video des US-Militärs zugespielt, das die Tötung mehrerer Zivilisten in Bagdad von einem Kampfhubschrauber aus zeigt [siehe Kommentar in dieser GWR].
Das Projekt kündigte die Veröffentlichung des Videos mehrmals an, nannte allerdings keine Details. Es scheint plausibel, dass staatliche Stellen im Vornherein das Thema der Veröffentlichung in Erfahrung bringen wollten, um sich entsprechend vorzubereiten.
Wikileaks selbst veröffentlichte auch ein Dokument der CIA, in welchem erörtert wurde, welche Aktionen gegen Whistleblower und das Projekt ergriffen werden können. (2)
Kritik
Die Eigenschaften des Projektes, die Wikileaks zu einer geeigneten Plattform für Whistleblower machen, werden zugleich auch kritisiert.
Hauptsächlich wird die fehlende redaktionelle Kontrolle des Projektes kritisiert. Es wird angeführt, dass neben ethisch vertretbaren Veröffentlichungen auch schlicht böswillige Veröffentlichungen stattfinden könnten. Das Projekt hätte aufgrund seiner Prinzipien keine Möglichkeit, z.B. die Verletzung der Privatsphäre oder gar die Verfolgung von Menschen zu verhindern.
Wikileaks argumentiert, dass das Projekt vor der Veröffentlichung mit Gefährdeten in Kontakt treten würde, um ihnen die Möglichkeit der Vorbereitung zu geben.
Veröffentlichte Dokumente
Wikileaks machte im Jahr 2007 Handbücher der US-Armee in Guantanamo öffentlich zugänglich. Diese Dokumente belegten erstmals die unwürdigen Zustände, in denen die Gefangenen gehalten wurden. (3)
Seit 2008 wurden mehrere Listen mit zensierten Internetseiten in verschiedenen Staaten veröffentlicht. Unter anderem konnte so nachgewiesen werden, dass die sogenannten „Sperren gegen Kinderpornographie“ bereits in anderen Ländern als Zensurinstrument auch für andere Themen genutzt wurden.
Im Jahre 2009 wurde ein Feldjäger-Report über den Angriff eines Tanklastzuges, der auch ZivilistInnen tötete, veröffentlicht. Das Dokument löste eine große öffentliche Diskussion aus, da es in mehreren Punkten der offiziellen Darstellung der Bundesregierung widersprach.
Im März 2010 stellte das Projekt außerdem eine Einschätzung der CIA zur Verfügung, in dem Möglichkeiten dargestellt werden, wie die Bevölkerung „kriegsmüder Länder“ wie Deutschland und Frankreich über verschiedene PR-Maßnahmen so manipuliert werden kann, dass sie den Afghanistankrieg unterstützt. In Deutschland sollen dafür die Folgen einer Kriegsniederlage beleuchtet und das NATO-Bündnis als verpflichtendes Element dargestellt werden. (4)
Gesellschaftlicher Einfluss
Whistleblowing ermöglicht erst die – sonst nicht vorhandene oder stark erschwerte – Kommunikation über gewisses politisches, unternehmerisches und gesellschaftliches Fehlverhalten. Das Wissen um diese Vorfälle oder Pläne ist der Grundstein für einen kritischen Umgang im gesellschaftlichen Leben und sollte somit frei zugänglich sein.
Die Zugänglichkeit dieser Informationen erleichtert natürlich auch die Intervention bestimmter Prozesse durch zunächst Unbeteiligte (siehe „Zensursula“- beziehungsweise „Censilia“-Debatte). Außerdem wird herrschenden Personen oder Institutionen zumindest teilweise der zeitliche Vorsprung genommen: Die Vernetzung einer Bewegung und die Ausarbeitung von Argumenten kann so – z.B. im Falle von Gesetzesvorhaben – im Vorfeld organisiert werden.
Monopolstellung?
Trotz oder gerade wegen der Existenz von Wikileaks drängt sich die Frage auf, wie die Kommunikationswege zu Whistleblowern weiterhin erhalten oder erweitert werden können. Wie oben bereits beschrieben, haben die „geschädigten“ Institutionen die Gefahr erkannt und beginnen, nach Wegen zu suchen, diese Kommunikation zu verhindern.
Wikileaks ist technisch und organisatorisch zumindest scheinbar gut aufgestellt, stellt allerdings trotz alledem einen „single point of failure“ dar: Externe oder interne Ereignisse könnten die Annahme und Veröffentlichung von Dokumenten verändern oder gänzlich verhindern. Eine Lösung für dieses Problem wäre die Schaffung neuer, eigenständiger Projekte, die so die potentielle Angriffsfläche und das Risiko streuen.
Vorstellbar wäre außerdem eine automatisierte Kommunikation zwischen diesen Projekten, so dass neue Dokumente eines Projektes auch an andere gesendet werden. Die Zusammenarbeit von vielen Menschen über das Internet könnte weiterhin dabei helfen, Dokumente mit vermeintlich hoher Informationsdichte durch wenig Arbeitseinsatz von Einzelnen zu bewerten und zusammen zu fassen.
Informationsfreiheit scheint ein bedeutsamer Teil der gesellschaftlichen Freiheit zu sein und das sollte auch weiterhin so kommuniziert werden (dürfen).