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Die soziale Lage Chiles

... vor und nach dem starken Erdbeben. Bericht einer 20-jährigen Freiwilligen aus Deutschland

| Mariana Firgau 27.03.2010 aus Santiago de Chile

Am 27. Februar 2010 ereignete sich eine der schwersten Naturkatastrophen (mit dem Erdbeben von Haiti) und ich war mittendrin.

Das Erdbeben hatte die Stärke 8,8 und sein Epizentrum lag im Süden Chiles, in der Nähe der Stadt Concepción. Später dazu mehr.

Zunächst möchte ich mich vorstellen:

Ich heiße Mariana Firgau, bin 20 Jahre alt, komme aus Münster und leiste zurzeit im Rahmen des weltwärts-Programms des Bmz ein Freiwilliges Soziales Jahr im Norden Santiago de Chiles ab. Meine Entsendeorganisation ist die Fundación Cristo Vive, die von der deutschen Nonne Karoline Mayer gegründet wurde.

Zusammen mit zwei anderen Freiwilligen lebe ich in einer WG in einem Armenviertel in der Kommune Recoleta.

Mein Arbeitsplatz ist der Kindergarten Naciente und ich arbeite montags bis freitags von 8:30 Uhr bis 17:30 Uhr mit Kindern aus schwierigen Verhältnissen zusammen. Die Kinder stammen zum größten Teil aus armen Familien, viele haben innerfamiliäre Gewalt erfahren, die Eltern sind manchmal drogenabhängig und oft vernachlässigen sie ihre Kinder emotional.

Anfangs ist es mir schwer gefallen, mit aggressiven oder hyperaktiven Kindern zu arbeiten, aber nun, da ich ihre Motive kenne, fällt es mir schon leichter, mit ihnen umzugehen. Meine Arbeit mit den 3- bis 4-jährigen Kindern macht mir sehr viel Spaß – auch, wenn sie manchmal anstrengend und anspruchsvoll ist. Die Kinder geben einem so viel Liebe zurück, es ist unglaublich schön.

Nun möchte ich euch etwas über die Quinta Bella erzählen, das Armenviertel, in dem ich seit dem 26. August 2009 bis zum 25. August 2010 lebe:

Als ich hier ankam, war ich zuerst geschockt über die Armut, die ich in diesem Maße nicht kannte.

Ein großes Problem sind hier die Drogen, wie zum Beispiel Kokain, Heroin oder Pasta Base, die aus einem Abfallprodukt der Kokainherstellung erzeugt wird und deshalb sehr schädlich für den Körper ist. Mir sind sofort der Müll auf der Straße und die Menschen und Straßenhunde aufgefallen, die in diesen Mülltüten nach Essbarem und Brauchbarem wühlen. Aufgrund der Drogenabhängigkeit werden nicht wenige – meistens junge – Menschen aus der Población (span. für Armenviertel) delinquent. In der Nacht höre ich ab und zu in Bandenkriegen abgefeuerte Schüsse. Ich selbst wurde vor knapp drei Monaten beinahe Opfer eines Raubüberfalls.

Da ich unerwarteter weise anfing zu schreien und mich zu wehren, wurde mir zum Glück nichts entwendet und der Dieb entschuldigte sich sogar bei mir.

Die Unsicherheit und die Tatsache, dass ich in einer gefährlichen Umgebung wohne, löste in der ersten Zeit ein Gefühl von Angst bei mir aus. Besonders nachts nach Einbruch der Dunkelheit traute ich mich nicht mehr alleine auf die Straße.

Zudem störte mich die Hellhörigkeit meines Hauses und der Mangel an Rückzugsmöglichkeiten, mir fehlte meine Privatsphäre.

Nach einem halben Jahr gewöhnte ich mich an die neue Situation und ich begann, vieles hier zu schätzen. Die eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten – wir haben hier weder Telefon noch Computer oder Fernseher – stellten nun nicht mehr ein Problem, sondern vielmehr einen Gewinn an persönlichen, direkten Kontakten dar.

Mir fiel meine belebte Nachbarschaft auf, mit Nachbarinnen und Nachbarn, die mich freundlich grüßen, und Kindern, die fröhlich auf der Straße spielen.

Außerdem gehe ich heute sehr gerne auf die Feria, den Wochenmarkt, wo zu günstigen Preisen Obst und Gemüse verkauft werden. In meinem Armenviertel bin ich jetzt als deutsche Freiwillige bekannt, die Leute passen auf mich auf und ich habe keine Angst mehr.

Es ist gut, dass die Pobladores (span. für Bewohnerinnen und Bewohner eines Armenviertels) Schwester Karoline Mayers Arbeit respektieren und anerkennen. Karoline Mayer, die Gründerin der Fundación Cristo Vive, für die ich arbeite, ist eine wunderbare, starke und beeindruckende Frau, die hier schon viel im Kampf gegen die Armut erreicht hat.

Zur sozialen Lage Chiles kann ich Folgendes sagen:

Chile ist eines der reichsten Länder Südamerikas und hat ein starkes Wirtschaftswachstum (vor dem Erdbeben um 5,5%). Trotzdem herrscht hier eine große soziale Ungleichheit: Die Schere zwischen Arm und Reich wird stetig größer.

Sowohl von Seiten der Reichen als auch von Seiten der Armen gibt es viele Vorurteile jeweils der anderen Gesellschaftsschicht gegenüber. Die „Armen“ sagen z.B. über die „Reichen“: „Sie sind alle eingebildet, arrogant und geizig!“

Andererseits halten die „Reichen“ die „Armen“ für „dreckig, faul, böse und kriminell“.

Meiner Meinung nach sind diese Verallgemeinerungen gefährlich, da sie für ein Desinteresse und eine Ignoranz jeweils gegenüber der anderen Schicht sorgen, so dass sogar Hass und Diskriminierung entstehen können.

Für mich, die als deutsche Freiwillige in einem Armenviertel zwischen diesen beiden so unterschiedlichen Welten lebt, ist es oft schwierig, ein Gleichgewicht und Mittelmaß zu finden, um von Armen und Reichen akzeptiert zu werden. Dies gleicht einem schwierigen Balanceakt.

Hier habe ich gelernt, tolerant gegenüber Menschen zu sein, die nicht die gleiche gute Bildung wie ich genossen haben und deshalb gesellschaftlich benachteiligt sind. Mir ist bewusst geworden, welche Chancen ich durch mein Abitur und welche privilegierte Stellung ich als deutsche Abiturientin habe. Von kostenloser Bildung können die Chileninnen und Chilenen nur träumen: Die Schulgebühren sind extrem hoch und studieren können nur die Reichen. Aus diesem Grund findet eine gesellschaftliche Selektion statt und der Spalt zwischen Arm und Reich wächst weiter an.

Nun möchte ich davon berichten, wie ich das Erdbeben vom 27. Februar 2010 erlebt habe und wie dieses sich auf die soziale Lage Chiles ausgewirkt hat:

Ich machte mich gerade bettfertig, als ich auf die Uhr schaute: 3:33 Uhr morgens, ich hatte ein beunruhigendes, merkwürdiges Gefühl. Eine Minute später begann die Tragödie: Es war wie in einem Horrorfilm, der Strom fiel aus, so dass nur noch das Mondlicht durch die sich bewegende Gardine schien, und das ganze Haus fing an zu beben – erst langsam und dann immer stärker. Ich musste mich an mein Bett festkrallen, um nicht hinunter zu fallen. Wie sarkastisch: Mir fielen die Versicherungsunterlagen aus meinem Regal auf meinen Kopf.

Unten im ersten Stockwerk (mein Zimmer befindet sich im zweiten Stockwerk) hörte ich die Töpfe in der Küche klappern. Die Nachbarshunde bellten wie verrückt und ich nahm wahr, dass die Alarmanlagen der Autos losgingen. Eine unheimliche Geräuschkulisse! Ich geriet in Panik und schrie die ganzen drei Minuten, die das Erdbeben dauerte, so laut ich konnte. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, ich wollte nur, dass dieser Terror endlich aufhörte.

Ich hatte Todesangst, hoffte nur, dass unser Haus nicht einstürzt und ich mit meinen 20 Jahren noch nicht sterben müsste. Es waren Gefühle von Ohnmacht, Hilflosigkeit, Verzweiflung und schrecklicher Angst, die mich überkamen.

Als es vorbei war, kam meine Mitbewohnerin in mein Zimmer. Wir umarmten uns und ich musste viel weinen. Es war die schrecklichste Erfahrung meines Lebens.

Da der Strom ausgefallen war und wir also kein Licht hatten, zündeten wir Kerzen an.

Ich wusste, dass ich diese Nacht nicht mehr schlafen würde – ohne Licht, ohne Wasser, ohne Handynetz, um sich zu vergewissern, ob alle Verwandten und Freunde die Naturkatastrophe überlebt hatten. So hatte ich keine Möglichkeit, meinen Eltern in Deutschland Bescheid zu sagen, dass ich noch am Leben war.

Da kam Schwester Karoline in unser Haus, um zu schauen, ob es allen Freiwilligen gut ging. Sofort fühlte ich mich ein bisschen sicherer und war beruhigter aufgrund ihrer Anwesenheit. Sie machte sich auf, um in den anderen Freiwilligen-Häusern nach dem Rechten zu schauen – wie mutig.

Gegen 7 Uhr morgens kam das erste starke Nachbeben der Stärke 7. Wieder überfiel mich die Angst und ich wurde mir des Wertes des menschlichen Lebens bewusst. Über meinen MP3-Player hörte ich die aktuellen Nachrichten übers Radio.

Zunächst waren es 120 Todesopfer, dann stieg die Zahl auf über 500. Im Süden Chiles war kein Lehmhaus stehen geblieben, der anschließende Tsunami hatte ganze Dörfer am Meer zerstört.

Es folgten noch viele Nachbeben – wie das Erdbeben der Stärke 7,2 am 11. März 2010 in Rancagua. Man erfuhr immer mehr von Verschwundenen und Toten.

In Extremsituationen zeigt sich der Mensch von seiner schlechtesten oder besten Seite. Zur ersten gehören die Menschen, die die Situation ausgenutzt und aus Egoismus den Brotpreis angehoben haben.

Aber andererseits gibt es auch so viele Menschen, die ihre Solidarität und ihr Mitgefühl den Erdbebenopfern gegenüber zeigen und helfen, wo sie nur können.

Solidarität

Was die soziale Lage Chiles nach dem Erdbeben betrifft, möchte ich besonders den Zusammenhalt und die Solidarität der Menschen über alle gesellschaftlichen Klassen hindurch betonen.

Sowohl Arme als auch Reiche haben für die Betroffenen der Katastrophe gespendet, was sie konnten. Eine große Gemeinschaft.

Generell ist mir aufgefallen, dass die Chileninnen und Chilenen im Allgemeinen sehr solidarisch, gastfreundlich und großzügig sind. Wenn es darauf ankommt, zeigen sie sehr viel Courage und mobilisieren sich, um anderen zu helfen.

So gab es nach dem Erdbeben beispielsweise viele Spendenaktionen, wie die „Teletón“, wo viel Geld für die Opfer zusammen gekommen ist.

Außerdem habe ich einige solidarische Konzerte besucht und unterstützt, wo Musikerinnen und Musiker kostenlos aufgetreten sind und Nahrungsmittelspenden den Eintritt darstellten. Ich bin beeindruckt von dieser großen Solidarität und dem starken Willen der Chileninnen und Chilenen, wieder neu anzufangen – auch wenn einige ihr Haus und ihre Existenz verloren haben.

Ich habe einen Reiserucksack voll mit Kleidung an die Menschen aus den betroffenen Regionen im Süden Chiles gespendet.

In einem auf http://www.freie-radios.net/portal/content.php?id=32620 dokumentierten Interview für ein deutsches lokales Alternativradio habe ich einen Spendenaufruf gestartet.

Jeder kann helfen, Hilfe ist dringend notwendig.

Die chilenische Gesellschaft hat sich durch dieses Erdbeben verändert, sie hat die gewaltige und zerstörende Kraft der Natur erfahren.

Ich persönlich habe Folgendes aus dem Erdbeben gelernt:

  1. Alles Materielle ist nebensächlich.
  2. Materielle Güter können ersetzt werden, Menschenleben nicht.
  3. Das menschliche Leben ist wertvoll, ich habe es zu schätzen gelernt.
  4. Es gibt keine Sicherheit im Leben.
  5. Das Leben ist kurz, man / frau sollte es genießen.
  6. Das Leben ist schön! :-)
  7. Aus schrecklichen Erfahrungen sollte man das Positive ziehen / das beste daraus machen / aus ihnen lernen.
  8. Jede Krise ist auch eine Chance.
  9. Nicht verbittern, sondern nach vorne schauen, optimistisch in die Zukunft blicken.
  10. „Was dich nicht umbringt, macht dich härter.“

Ich glaube, dass ich reifer, erwachsener und stärker geworden bin. Außerdem habe ich gelernt, gelassener mit Stresssituationen umzugehen.

Meiner Meinung nach ist es in schwierigen Situationen besonders wichtig, Solidarität mit seinen Mitmenschen zu zeigen und ihnen zu helfen.

Langsam kehrt wieder Normalität ein. Aber es wird nie wieder so sein wie vor dem Erdbeben.

Diese schreckliche Naturkatastrophe hat die Menschen in Chile geprägt, nie werden sie den 27. Februar 2010 vergessen.

Anmerkungen

Kontakt: http://mariana-en-chile.blogspot.com/

Bitte spendet an:

1. Stichwort: "Erdbeben Mariana"

"Cristo Vive Europa e.V.", Karoline Mayer, Hallertauer Volksbank e.G., Manching, Santiago de Chile, Konto Nr. 9670068, BLZ: 72191600

karoline@fundacioncristovive.cl
www.cristovive.de
www.fundacioncristovive.cl

2. Stichwort "Erdbebenhilfe Chile", Konto Nr. 5115582, BLZ: 75090300, Liga Bank Nürnberg