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Das traurig in der Zelle gepfiffne lustige Lied

Die Epoche der Vagabunden

| Rüdiger Haude

Walter Fähnders / Henning Zimpel (Hrsg.): Die Epoche der Vagabunden. Texte und Bilder 1900-1945 (Schriften des Fritz-Hüser-Instituts, Bd. 19). Essen: Klartext 2009. 317 S. 29,95 Euro. ISBN 978-3-89861-655-3

Nach dem 2007 erschienenen Tagungsband „Nomadische Existenzen“ (vgl. Unpindownables. Nomadische Existenzen, Artikel von Rüdiger Haude, in: GWR 331, Sept. 2008) hat das „Fritz-Hüser-Institut für deutsche und ausländische Arbeiterliteratur“ im Oktober 2009 einen Materialband herausgegeben, der die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts als „Epoche der Vagabunden“ präsentiert. Auf etwa 240 Seiten werden meist kurze Selbstzeugnisse aus der Vagabunden-Bewegung wiedergegeben: Gedichte, Prosa, politische Bekenntnisse; Zeichnungen und Linolschnitte; ganz vereinzelt auch mal ein Blick von außen auf die Tippelbrüder und Tippelschicksen – so z.B. ein Bericht des Polizeipräsidiums Stuttgart über das dortige Vagabundentreffen von 1929.

Walter Fähnders hat dieser Sammlung eine informative Einleitung vorangestellt, und der von Henning Zimpel besorgte Anhang liefert die vollständige Bibliographie der Landstreicher-Zeitung „Der Kunde“ bzw. „Der Vagabund“ (1927-1931), aus der viele der abgedruckten Dokumente stammen. Am Ende des Buches wird die genaue Herkunft der Texte und Bilder nachgewiesen und der Lebenslauf ihrer UrheberInnen kurz skizziert. Ein Register, das die Orientierung in der Fülle der Zeugnisse erleichtern würde, fehlt leider.

In den Texten fällt wieder (wie schon beim Tagungsband) die starke Nähe zwischen Vagabundentum und politischem Anarchismus auf, vor allem in der Kernzeit der geltend gemachten „Epoche“: der zweiten Hälfte der Weimarer Republik. Dabei zieht sich eine starke Spannung durch die Textsammlung, zwischen einer emphatisch begrüßten Freiheit des ungebundenen Lebens einerseits und der Empörung gegen das den Ausgestoßenen zugefügte Leid andererseits. Im Erleben des Einzelnen kann sich das als Ambivalenz äußern; in der Bewegung der Vagabunden jedoch nimmt dies zuweilen den Charakter der Widersprüchlichkeit an. Ist man stolz darauf, keiner Lohnarbeit nachzugehen – oder ist das ein Unrecht, das einem widerfährt? Bei Gregor Gog, Organisator des Stuttgarter Vagabunden-Treffens 1929, Herausgeber der genannten Zeitschrift und Gründer des „Weltbundes der Vagabunden“, zeigt sich dieser Widerspruch politisch-biografisch.

„Generalstreik das Leben lang!“ rief der Anarchist Gog den in Stuttgart Versammelten 1929 zu (220). Ein Jahr später sehen wir ihn, von einer Moskau-Reise zurückgekehrt, als überzeugten Kommunisten, der die VagabundInnen in die Kampffront des Proletariats eingliedern will. Im Moskauer Exil erschienen ihm 1936 die VagabundInnen als „Millionen gesunde, arbeitsfähige und arbeitswillige Menschen“, die durch die Skrupellosigkeit von „Profithaien“ zugrunde gingen (243).

Verständlicherweise ist die ‚aktive‘ Lesart des Landstreicher-Daseins philosophisch ergiebiger. Zuweilen wird dort ein „Trieb zum Vagabundenleben“ angenommen (146). Der Schriftsteller Alfons Paquet nahm einen solchen „Trieb, sich an den Rand zu leben“, als allgemein menschlich an (200). Der „akademische Tippelfreiwillige“ Karl Roltsch behauptete ihn demgegenüber als „altgermanisches Erbe“ (76, 85).

Nicht biologisch, sondern historisch argumentierte eine andere apologetische Strategie. Gog reklamierte 1929 das Vorbild der Begharden des Spätmittelalters für die Vagabunden (220), einer „undefinierbaren, ruhelosen Bruderschaft“ bettelnder und vagierender christlicher Laien, wie Norman Cohn sie genannt hat. (2) Paquet argumentierte sogar, dass alle Zivilisation von den Landstreichern herrühre. So habe Äneas, vom zerstörten Troja kommend, Rom gegründet. „Könnt ihr euch vorstellen“, so Paquet weiter, „daß ein Kolonialwarenhändler Amerika entdeckt hätte?“ (199)

Der bedeutende Vagabunden-Poet Hugo Sonnenschein („Sonka“) verwies auf die „Vagabunden-Biographien“ der Religions- und Kulturstifter „Buddha, Christus, Laotse“ (185). So sah sich auch Gog, der erbitterte Feind der Kirchen, in der Nachfolge des „Meisters der Vagabunden, des Zimmermannsohns aus Nazareth“ (220).

In einer solchen Ahnenreihe stehend, entwickelte sich verständlicherweise bei den WortführerInnen der Vagabundenbewegung ein entschiedenes Avantgarde-Bewusstsein.

Sonka sieht die Landstreicher als „Pioniere“, die eine „Heimat für alle Menschen“ vorbereiten (188). Der bibelfeste Gog schließt seine Stuttgarter Ansprache mit dem Ausruf: „Vielleicht, liebe Kumpels, […] werden doch noch einmal die Letzten die Ersten sein!“ (224) Aber auch das war zu hören: Karl Roltsch, der sich aufs germanische Erbe berief, hielt die Vagabunden für „die einzigen tatsächlichen Herrenmenschen“ (85).

Abseits solcher kultureller und ideologischer Unterschiede erweisen sich in den Texten des Bandes zwei wissenssoziologisch erklärbare wichtige Beiträge der VagabundInnen zum politischen Denken im 20. Jahrhundert: Zum einen ermöglicht der radikale Außenseiterblick den ProtagonistInnen, die Welt von einem „archimedischen Punkt“ (Fähnders, 18) aus zu betrachten. Mit den Worten Willi Hammelraths: „Schon wer nur in andere Länder kommt, empfängt ganz andere Anschauungen als die gewohnten und bisher als ewig geglaubten und verehrten, wird vom Alleinseligkeitsfimmel seines Heimatortes gründlich kuriert.“ (109f)

Zum anderen belegen die Textzeugnisse einen echten Internationalismus der (vorwiegend deutschen) VagabundInnen.

Sonka: „Auf allen Straßen der Erde erhoben tausende Brüder / Die weißen, gelben und schwarzen Hände / Gelöst und offen den unsern entgegen.“ (44) Das macht die Vagabunden zunächst zu radikalen Kämpfern gegen die Staatsgrenzen. Der Vagabund, schreibt Artur Streiter, sei „ein Don Quixote, der mit den niederschlagenden Mühlenflügeln der Staatsgrenze zu kämpfen hat“ (176).

Die Wahlverwandtschaft zwischen Vagabundentum und Anarchismus ist auch insofern verständlich. Erich Mühsam hatte diese Nähe schon vor dem Ersten Weltkrieg erkannt. Zwischen „Das Leben her! – Es lebe die Welt!“ (3) und „Das Leben ist versaut! versaut!“ (168) lag auch bei ihm nur ein Wimpernschlag.

Insgesamt liefert der Band einen sehr gelungenen Überblick über die widerspruchsvolle Sicht der Welt von unten in turbulenter Zeit – manchmal mit verblüffend aktuellen Einsichten. Ausgerechnet der „Herrenmensch“ Roltsch rückt die anti-vagabundische Sicht des Spießbürgers gerade, als schreibe er 80 Jahre später: „Wir schädigen das Volksganze in keiner Weise; denn wir schleppen keine Kapitalien ins Ausland.“ (85)

Sondern nur sich selbst. – Bunt oder trist, frei oder gedemütigt – zusammengehalten wird dieses Mosaik von einem unbändigen Drang zu leben.

Wer dieses Buch kennt und Kultur noch für eine Angelegenheit von Eliten hält, ist einE BanausIn.

(1) Artikelüberschrift: Aus dem Gedicht "Schwermut" von Jakob Haringer (S. 160 in dem besprochenen Band).

(2) Norman Cohn: Das neue irdische Paradies. Revolutionärer Millenarismus und mystischer Anarchismus im mittelalterlichen Europa. Reinbek 1998. S. 176.

(3) Erich Mühsam: Sammlung. 1898-1928. Berlin o.J. S. 17 ("Das Trinklied").