Was in Athen am 5. Mai 2010 passiert ist, ist ein Einschnitt, ein Schritt zu weit, über den jede/r von uns AnarchistInnen nachdenken sollte, gerade weil dieser Schritt im Zusammenhang mit der anarchistischen Bewegung gegen die Repressionsgewalt von Staat und Polizei eine Bedeutung für die gesamte globalisierungskritische Bewegung hat.
Die Gewaltdiskussion, die nun in Griechenland aufbricht, ist überfällig, weil dort nicht nur die Brutalisierung der Herrschaft, sondern auch – in einer unbewussten Identifikation mit dem Aggressor – die Brutalisierung der sozialen Kampfformen weit fortgeschritten ist.
Zunächst zum Ablauf der Ereignisse in der von einem Molotowcocktail in Brand gesetzten Athener Filiale der Marfin-Bank, die zum Tod von Angeliki Papathanasopoulou, Paraskevi Zoulia und Epameinodas Tsakalis geführt hat (auch „unsere“ Opfer sollten wir mit Namen aussprechen: sie sind genauso konkret wie die zahlreichen Opfer der Polizeigewalt, also zum Beispiel Alexandros Grigoropoulos oder Lámbros Foúndas). Es gilt, sich die Qual der Opfer nach einem Molotowcocktail-Anschlag vor Augen zu führen.
Die Bankfiliale wurde durch einen Molli in Brand gesetzt. Über 20 Menschen wurden in dem vierstöckigen Gebäude von den Flammen eingeschlossen. Zwei Frauen und ein Mann versuchten offenbar, sich vor dem Inferno auf das Dach zu retten. Die drei sind im Flur, im Treppenhaus und im Büro – im 2. und 3. Stock wegen der giftigen Dämpfe ohnmächtig geworden und erstickt. Eine der beiden Frauen war schwanger. Die Feuerwehr kam zu spät, weil alle Straßen im Zentrum Athens wegen der großen Demonstration verstopft waren. (1)
Als die Nachricht zu den Protestierenden durchsickert und sich rumspricht, sind die Folgen unmittelbar, so berichten anarchistische Zusammenhänge in einer der vielen Erklärungen zum 5. Mai in Athen: „Die Menge erstarrt, die Gesichter werden dunkel, die Wut und die Kraft verfliegen, die Demoblocks beginnen sich aufzulösen.“
Die verschiedenen Polizeikräfte bekommen gleichzeitig Auftrieb und fahren einen besonders brutalen Einsatz: „Derartige Chancen werden nicht ungenutzt gelassen. Der Plan der Herrschenden, der für die gesamte Periode seit dem Aufstand vom Dezember auf die Kriminalisierung der anarchistischen und autonomen Szene sowie jedes unbevormundeten Widerstandsherdes gegen die staatliche und kapitalistische Barbarei zielt, hat den notwendigen Vorwand für eine qualitative und quantitative, propagandistische und operative Aufwertung.“ (2)
Die Rede von der „anarchistischen und autonomen Szene“ ist nicht falsch, denn obwohl AnarchistInnen und Autonome nicht dasselbe sind, benutzt ein Großteil der anarchistischen AktivistInnen in Griechenland Kampfmittel, die bei uns als die der Autonomen bekannt sind, vor allem Steine und Mollis.
Parallelen zu den „Schüssen“ an der Frankfurter Startbahn, 2.11.1987
Für meine Analyse verlasse ich an dieser Stelle Griechenland, denn ich beanspruche nicht, die griechische Diskussion zu beeinflussen. Mir geht es um die Rezeption, die wir uns hier von der Revolte in Griechenland und ähnlichen Revolten gegen die Brutalität der aktuell herrschenden Verhältnisse machen, etwa auch die Rezeption der Revolte in den französischen Banlieus vom November 2005.
Ich möchte daran erinnern, dass auch die sozialen Kämpfe innerhalb der bundesdeutschen Ökologiebewegung bereits einmal an einem solchen Scheideweg standen: Es ging dabei um die „Schüsse“ (der Begriff ist als peinliche Verharmlosung in unsere Widerstandsgeschichte eingegangen, denn wenn wir selbst Opfer produzieren, wird das von interessierter Seite sofort entkonkretisiert, u.a. durch solche Begriffsbildungen – in Wirklichkeit waren es also politische Morde) an der Frankfurter Startbahn West vom 2.11.1987, die zwei Polizeibeamte, Thorsten Schwalm und Klaus Eichhöfer, töteten.
Auch hier waren die Folgen wie in Athen unmittelbar: die Polizei konnte nun eine ihrer brutalsten Repressionskampagnen öffentlich legitimieren, Wellen von Festnahmen führten zu einem Aussagekarussell der AktivistInnen mit erschreckenden gegenseitigen Beschuldigungen (bis hin zur Denunziation von TäterInnen bei Strommastsägeaktionen), das nur mühsam gestoppt werden konnte. (3)
Die alte, ursprünglich massenhafte Startbahnbewegung war am Ende (zum Glück entsteht heute gerade eine neue Widerstandsbewegung gegen die erneute Flughafenerweiterung mit Wald- und Baumbesetzungen ganz anderen Charakters; die GWR berichtete).
Am 2.11.1987 wurde aus einer militanten Demo heraus auf die Polizeireihen geschossen, das war in Athen nicht der Fall, doch dem damals wie heute von manchen Autonomen geäußerten Abwehrargument, um sich nicht selbstkritisch damit befassen zu müssen, dass Provokateure am Werk gewesen sein könnten, wurde von gewaltfreier Seite schon begegnet, dass „Provokateure aus staatlicher Sicht nur da ’sinnvoll‘ eingesetzt werden (können), wo ein politisches Spektrum oder eine Bewegung bereits knapp vor einem Schritt steht, den die Provokateure dann tun“. (4)
Was die Waffen Steine, Mollis, Schusswaffen betrifft, ist der Schritt von der einen zur nächsten Stufe minimal und liegt in einer Abfolge-Logik, die fälschlicherweise oft als „Radikalisierung“ bezeichnet wird.
Griechische AnarchistInnen glauben noch in ihrer Analyse des 5.5.2010, hier klare Unterscheidungen treffen zu können:
„In den Kämpfen der Straße, dort, wo sich die Angriffslust all derjenigen manifestiert, die nicht in gesellschaftlichen Konsens und Parteidisziplin integrierbar sind, ist es ein selbstverständlicher Grundsatz, dass Gebäude-Symbole niemals dem Feuer übergeben werden, bevor sichergestellt wurde, dass keine Menschen darin sind. Darüber hinaus, genau weil die Anarchisten und Autonomen wissen, dass die Bosse wahrscheinlich keinerlei Schutzmaßnahmen für die Arbeitenden getroffen haben, bildet für sie diese Kenntnis den Grund für den Verzicht auf eine mögliche Aktion und nicht ein Alibi. Wer immer hinter dieses Minimum zurückfällt, trägt die volle Verantwortung für sein Handeln.“ (5)
Das Dilemma dieses im Prinzip unterstützenswerten Motivs ist aber, dass dieses „Minimum“, diese Grenze, eben nicht von Fall zu Fall vor Ort unmissverständlich festgestellt werden kann. Sondern wir befinden uns hier in einem fließenden Kontinuum militanter Aktionsformen. Auch vor dem 2.11.1987 haben Autonome in vielen Erklärungen Stein und Bein geschworen, es würde eine klare Grenze geben zwischen Steinen, Mollis einerseits und Schusswaffen andererseits. Es unterstellt ja niemand, dass die griechischen GenossInnen die Bank-Filiale „in vollem Bewusstsein“ der Anwesenheit von Angestellten im ersten Stock in Brand setzten.
Die Tatsache, dass es unmöglich ist, dieses Minimum vor Ort mit Sicherheit festzustellen, bedeutet aus gewaltfrei-anarchistischer Sicht, dass auf solche Brandanschläge immer und prinzipiell verzichtet werden muss.
Die gewaltfreie Revolutionsstrategie ist kein Abstraktum. Ihre Kritik und ihre revolutionäre Ethik entstehen aus konkreten Kämpfen, an denen genau dieses Dilemma offenbar wird. Sie münden praktisch in eine Aufteilung in diejenigen, die angesichts der gemachten Erfahrung diese Logik nicht mehr weiterverfolgen und sich deshalb nach alternativen Kampfformen umsehen wollen, und diejenigen, welche die Logik bewusst weitertreiben wollen. Diese Aufteilung ist nicht etwa eine Spaltungsstrategie des Staates, sondern eine ganz natürliche, aus den konkreten Kampferfahrungen gezogene Konsequenz.
Die Anarchistin Clara Wichmann hat es so formuliert: „Es hat seine tiefe Bedeutung, daß die Gewaltlosigkeit heute für uns alle ein Problem ist, denn dies ist ein Zeichen, dass wenigstens unter vielen Revolutionären […] das soziale Gewissen in diesem Punkt feinfühliger geworden ist.“ (6)
Diese sozialrevolutionäre Qualität – die tatsächliche „Radikalität“ der Revolte – sollte sich niemand durch die Behauptung ausreden lassen, solch ein soziales Gewissen sei Spaltungsstrategie des Staates. Es geht dem Staat im Gegenteil darum, uns auf seine „ethische“ Ebene zu ziehen, unser soziales Gewissen zu zerschlagen.
Auf solche Einschnitte in sozialen Kämpfen wie am 2.11.1987 und am 5.5.2010 reagieren KämpferInnen, die ein soziales Gewissen kennen, naturgemäß mit einem Schock, der sowohl zu Bewusstwerdung von Verdrängtem als auch zu konstruktiver Selbstkritik führen kann. Bewusst wird nun schlagartig, dass auch angeblich niederschwellig militante Kampfformen wie Steine und Mollis tödlich wirken können – im übrigen: Wenn Steinhagel auf PolizistInnen oftmals nicht tödlich wirken, ist das vor allem der polizeilichen martialischen Schutzkleidung zu verdanken, die wir inhaltlich doch gerade ablehnen und als militaristisch denunzieren. So gab es auch nach den „Schüssen“ vom 2.11.1987 aus dem Kreis der Autonomen zunächst eine erste Welle selbstkritischer Äußerungen, die aus diesem Schock entstanden sind. In einer zweiten Welle von Erklärungen meldeten sich damals dann allerdings die autoritärer orientierten marxistischen und antiimperialistischen Autonomen zu Wort und empörten sich über die angeblich naiven Betroffenheits-Autonomen.
Ein Beispiel
„Der Gebrauch einer Knarre, ja selbst wenn es zwei oder drei gewesen wären, macht für uns noch lange (ganz lange) keine militärische Auseinandersetzung aus. Auch die Existenz von diversen Kleingruppen und dieser oder jener Bombenanschlag sind für uns keine militärische Auseinandersetzung. Für uns ist das alles militante Politik mit militanten Mitteln. […] Eine militärische Auseinandersetzung setzt eine Organisierung und Ausrüstung voraus, die es hier momentan nicht gibt und auch in absehbarer Zeit nicht geben wird. Außerdem bedeutet sie eine Härte der Auseinandersetzung, die diese ‚Linke‘, die schon bei zwei toten Bullen fast einen Kollaps kriegt, keine fünf Minuten durchhalten würde.“ (7)
Ich bin sicher, dass auch in Griechenland unter den dortigen anarchistischen und autonomen Gruppen nach einer ersten Welle des Schocks und sensibler Erklärungen eine zweite Welle kommen wird, welche die „Härte der Auseinandersetzung“ einklagen wird.
Sie haben sich im Gegensatz zu den „Betroffenheits-Autonomen“ (dieser verächtlich verweichlichende Jargon ist Bestandteil des extrem patriarchalen Diskurses ihrer Militanz) schon immer klar vor Augen geführt, dass Steine, Mollis und Schusswaffen potentiell verletzende und tötende Kampfmittel sind. Sie bejahen das bewusst und integrieren diese Kampfformen in eine Logik und eine Strategie des früher oder später notwendigen bewaffneten Aufstands, auf den sie hinarbeiten. Ziel ihrer Arbeit in solchen Momenten ist es vorerst, diese „Gefühlsduselei“ und den Schock auszutreiben, den eigene Opfer bei KämpferInnen mit sozialem Gewissen auslösen.
Wer sich angesichts des 5.5.2010 in Athen also an den 2.11.1987 an der Frankfurter Startbahn-West erinnert, weiß, dass wir solche Erfahrungen in den Kämpfen der sozialen Bewegungen im deutschen Sprachraum bereits gemacht haben. Athen ist keine andere Welt.
Wer über den 5.5.2010 in Athen nicht wirklich reden will, wird auch nicht an den 2.11.1987 erinnert werden wollen. Insofern sind die drei Toten aus der Athener Marvin-Bank konsequent. Das sollte sich jeder, der so kämpft und weiter so kämpfen will, klarmachen. (8)
Was Steine, Mollis und Schusswaffen im revolutionären Bewusstsein anrichten
Es geht mir um etwas, was ich den „glasigen Blick“ nennen möchte: die naive und unkritische Bewunderung nicht weniger AktivistInnen hier für die medial auch noch als einzige Ausdrucksform präsentierten militanten Aktionsformen in Griechenland oder auch fürdie Revolten in den französischen Vorstädten vom November 2005.
Ich führe genug Gespräche, in denen mit ungläubigem Staunen von der „Radikalität“ gesprochen wird, mit der mit Prügeln ausgerüstete griechische Aktivisten auf Polizeireihen einschlagen oder sie mit Mollis in Brand setzen. Bei autonomen oder militanten TheoretikerInnen kommt es dabei zu Mythenbildungen, die nur selten hinterfragt werden. Eine Ausnahme war kurz vor dem 2.11.1987 auf den ersten großen Frankfurter „Libertären Tagen“ vom April 1987 (3.000 TeilnehmerInnen) die autonome Lupus-Gruppe in einem selbstkritischen Papier, wo die patriarchale Arbeitsteilung bei militanten Kämpfen thematisiert wurde:
„Es gibt gerade unter uns eine Hierarchie der Wertigkeit, die zutiefst reaktionär ist, die die Widersprüchlichkeit zwischen Angsthasen und Furchtlosen, Drückebergern und Frontkämpfern, Wasserträgern und Fightern nicht aufhebt, sondern vertieft und kultiviert.“
Genau das wiederholt sich bei den heutigen militanten Aufständen etwa in den französischen Vorstädten auf fortgeschrittenem patriarchalen Niveau, was aber unbeirrt von TheoretikerInnen mit glasigen Augen und naiver Bewunderung wie bei den griechischen Militanten heute entschuldigt wird. In seinem Vorwort zu dem Buch „Banlieues“ schreibt das „Kollektiv Rage“ zu den Vorstadtaufständen:
„Die Steine, darin stimmen die meisten Berichte überein, wurden ausnahmslos von männlichen Jugendlichen geworfen. ‚Die Gewalt verweist auf die männliche Rolle. Aber das bedeutet nicht, dass die Frauen total außerhalb des Geschehens sind, dass sie kein Verständnis haben‘, wie Laurent Mucchielli […] bemerkt“, in einer expliziten Zurückweisung feministischer Kritik an dieser verständnisvollen Zuschauerinnen-Rolle übrigens. (9)
Was also ist radikal?
Die opportunistische Verteidigung geschlechtlicher Arbeitsteilung, um die männlichen militanten Kämpfer zu legitimieren, oder ihre Infragestellung? Es geht darum, dieses falsche Verständnis von Radikalität offen zu legen und die Fratze zu zeigen, die sich dahinter verbirgt.
Bei den Vorstadtaufständen in Frankreich ist es durch die relativ ziellose Militanz der Aufständischen, die inzwischen auch regelmäßig Jagdgewehre und Schrotflinten neben Steinen und Mollis einsetzen, immer wieder zu folgenden Vorfällen gekommen:
„Busse sind mit Molotowcocktails angegriffen worden, und die Passagiere, die von der Arbeit heimkehrenden BewohnerInnen der armen Banlieues, hatten nicht immer die Zeit und die Möglichkeit, zu entkommen, wie etwa jene Behinderte, die sich während des Angriffs auf einen Bus in Sevran (Seine-Saint-Denis) am 2. November (2005; d.A.) schwere Brandverletzungen zuzog.“ (10)
Solche Vorfälle scheinen den Theoretiker, der davon erzählt, Alèssi Dell’Umbria, einen aktiven „Émeutier“ der 1980er Jahre, bei seiner theoretischen Mythisierung von 2005 nicht zu stören. Besonders zynisch wird er, wenn es um das Leben von Polizisten geht:
„An einem Abend im Herbst 2006 sind zwei CRS [Compagnie de Sécurité Républicaine; besonders brutal vorgehende Aufstandsbekämpfungs-Polizei; d.A.], die sich in einem Abschnitt von Corbeille-Essonnes, der als besonders ‚heiß‘ gilt, verfahren hatten, von einer zwanzigköpfigen Gruppe Jugendlicher wortwörtlich gelyncht worden – das passiert schon mal, wenn sich eine Streife in feindlichem Territorium verirrt!“ (11)
Die MythenbildnerInnen dieser Bewegungen merken nicht, dass sie in ihrem Jargon PolizistInnen auf eine Art entmenschlichen – und wortwörtlich zum Abschuss freigeben -, die sich kaum noch vom entmenschlichenden Jargon Sarkozys („Racaille“) oder anderer Herrschender für die Jugendlichen der Vorstädte unterscheidet. Die Idee, dass es möglich wäre, aufgestaute Wut auf die berufliche Rolle als Polizisten zu konzentrieren und nicht auf sie als Menschen; die Idee eines Ziels einer Konfrontation mit der Polizei, nämlich Polizisten zur Dienstverweigerung zu bewegen, ist bereits außerhalb ihrer Vorstellungswelt – auch wenn seit Jahren Polizisten die Angriffe auf sie als das aufnehmen, als was sie gemeint sind, als Kriegserklärung, und nur umso härter zuschlagen, mit gestärkter innerer Überzeugung. Trotz dieser Vorkommnisse, die in französischen Vorstädten heute keine Einzelfälle mehr sind, schreiben die MythenbildnerInnen dieser Aufstände gerade aufgrund der weit verbreiteten Sprach- und Ziellosigkeit der Angriffe von einer „puren Revolte“, von der „Kultur der Rebellion“, von der „ewigen Jugend der Revolte“, von der „puren Freude an der Zerstörung“ (12) – wo in Wirklichkeit von Verzweiflung und Autodestruktion zu reden wäre, während sich die Herrschenden durch extremen Personenschutz und die glitzernden Innenstädte durch Kontrollen und Sicherheitsapparate immer unangreifbarer machen.
Diese MythenbildnerInnen reflektieren nicht, dass die Brutalisierung der Herrschaftsformen das Bewusstsein ihrer Opfer brutalisiert – und dass darin der Erfolg ihrer Herrschaftsmethoden liegt. Diese Revolten sind in ihren militanten Ausdrucksformen nicht „pur“, sondern „nihilistisch“ – sie negieren die Werte, welche die Revolte im Kampf gegen neoliberale Ausbeutung ursprünglich hervorbringt. Ihre Gewalt ist nicht Ausdruck von, sondern der Verrat an der „puren Revolte“, eine negative Identifikation mit dem Aggressor.
In Zeiten der Krise des Weltkapitalismus breiten sich diese nihilistischen Revolten aus. In der Logik ihrer Entwicklung liegt der Bürgerkrieg (wie er in Ansätzen in Thailand bereits zu beobachten ist). Es ist für jede/n Kämpfenden heute sehr schwer, sich dem Druck sowohl von herrschender Seite wie von militant-oppositioneller Seite zu entziehen und bewusst und unbeirrt zur ursprünglichen Legitimation der Revolte zurückzukehren, zu Kampfformen, die uns von den Herrschenden klar unterscheiden. Soll niemand sagen, das hätte es in der Geschichte nie gegeben; soll niemand sagen, die Herrschaftsgewalt, die „Kultur der Gewalt“ in Griechenland etwa, die bis zur Obristendiktatur zurückreiche, lasse keine Alternative zu. Auch zu Zeiten der Startbahnschüsse, nach Tschernobyl, hatten wir gedacht: „Brutaler geht’s nimmer, wenn wir’s jetzt nicht schaffen, ist es für immer zu spät“. Und doch haben wir die Widerstandsformen geändert, die Ökologiebewegung ist nicht tot und es ist nicht zu spät – weil viele Leute die Konsequenzen aus dem 2.11.1987 gezogen haben, weil sie sich ihr soziales Gewissen nicht haben zerschlagen lassen. Es hat immer auch Alternativen in noch weit schlimmeren Herrschaftsverhältnissen gegeben: Die Mütter der Plaza del Mayo haben die argentinische Militärdiktatur aus dem Nichts heraus bekämpft; die Frauen des Kochtopf-Widerstands in Chile Pinochet; die Frauen in der Rosenstraße 1943 die Deportationen ihrer jüdischen Männer – alle genannten Revolten waren erfolgreich, und in ihnen waren Frauen nicht bloße ZuschauerInnen, sondern den Widerstand prägende Kämpferinnen. Das waren „pure Revolten“. In Abwandlung eines Wortes des niederländischen Anarchisten Bart de Ligt: „Je mehr Gewalt, desto weniger Revolte!“
((1)) vgl. indymedia athen, 5.5.2010.
((2)) Erklärung vom 11.5.2010: "Anarchistische Zusammenhänge aus GR zum 5.5.", Indymedia, 13.5.2010.
((3)) Vgl. dazu die ausführlichen GWR-Artikel: Kokettieren mit der Gewalt, in GWR 122/Dez. 1987; Startbahn-Prozesse, in GWR 134/Mai 1989; Geschichte der Startbahnbewegung, in GWR 234/Dez. 1998.
((4)) Zit. nach Kokettieren mit der Gewalt, in GWR 122, S. 4.
((5)) Erklärung vom 11.5., S. 2.
((6)) Clara Wichmann: Antimilitarismus und Gewalt, in GWR 117/118, Sonderheft Sozialgeschichte des Antimilitarismus, S. 31.
((7)) "Einige Göttinger Autonome", in: "Doku 2.11.1987. Berichte, Stellungnahmen, Diskussionen zu den Schüssen an der Startbahn-West, hrsg. ID-Archiv im IISG, NL, März 1987.
((8)) Insofern habe ich hier auch eine inhaltliche Differenz zu meinem Freund und Genossen Gabriel Kuhn, der in seinem Buch "Vielfalt, Bewegung, Widerstand. Texte zum Anarchismus", Unrast, Münster 2009, im Beitrag "Militanz und Schwarze Blöcke" die Erfahrungen mit der neuen Militanz in den USA nach Seattle zu einfach auf den deutschsprachigen Raum und auf die globalisierungskritische Bewegung überträgt - ohne gerade auf die maßgebliche Erfahrung mit Militanz im deutschsprachigen Raum, den 2.11.1987, einzugehen.
((9)) Kollektiv Rage: Vorwort, in dass.: Banlieues. Die Zeit der Forderungen ist vorbei, Assoziation A, Berlin-Hamburg 2009, S. 13.
((10)) Alèssi Dell-Umbria: La Rage et la Révolte, Éditions Agone, Marseille 2010, S. 39.
((11)) Ebenda, S. 153.
((12)) Vgl. Zitate der Reihe nach in: Banlieues, siehe Anm. 9., S. 46; Alèssi Dell-Umbria, siehe Anm. 10, S. 151, 152 und 163.