Antizipierte Autonomie: Der Titel mag den einen oder die andere irreführend zu der Meinung verleiten, dass hier ein Buch zur „anti-autoritären Internationale“ vorgelegt wurde, welche sich einst das Programm einer antizipierten Autonomie auf die Fahnen geschrieben hatte, indem sie im sogenannten Jurazirkular (1871) erklärte, dass es „unmöglich“ sei, dass „eine egalitäre und freie Gesellschaft aus einer autoritären Organisation hervorgehen“ könnte.
Andrea Gabler aber hat einen nicht ganz so weiten Weg in die Vergangenheit zurückgelegt. Ihr geht es darum, die Geschichte und Theorieentwicklung der in Frankreich aktiven Gruppe Socialisme ou Barbarie (1949-1967) nachzuzeichnen und zu kommentieren.
Im ersten Teil des Buches schildert Gabler anschaulich den Weg, der ursprünglich aus dem oppositionellen Lager der TrotzkistInnen stammenden AktivistInnengruppe, die sich mehr und mehr vom Trotzkismus und Marxismus abgrenzt. Einer der wichtigsten Theoretiker der Gruppe, Cornelius Castoriadis, wird schließlich die These vertreten, dass man vor der Wahl stehe, „entweder Marxist zu bleiben oder Revolutionär zu bleiben“ (Gesellschaft als imaginäre Institution, 1975, S.28).
Thematisch standen in den Diskussionen der Gruppe die Kritik des Realsozialismus und das Ausarbeiten einer (nicht nur auf die realsozialistischen Länder bezogene) Bürokratiekritik im Mittelpunkt. Der Stoßrichtung der Kritik entspricht als positive Gegenvision das Setzen auf Arbeiterselbstverwaltung und Räteorganisation, wobei sich Socialisme ou Barbarie nach und nach – und nicht ohne heftige Auseinandersetzungen – vom traditionellen Bezugsrahmen mit seinem Fokus auf das eine revolutionäre Subjekt (das Industrieproletariat) verabschiedeten (113; vgl.221). Wie Gabler betont, habe Socialisme ou Barberie „den orthodoxen Marxismus“ zu einem Zeitpunkt entzaubert, sowie „an einer Neubestimmung revolutionärer Theorie und Praxis gearbeitet (…), als die Entwicklung einer westlichen Neuen Linken allenfalls im Keime zu erkennen war.“ (12). Neben der Hellsichtigkeit, mit der die Gruppe „Problemstellungen vorweggenommen“ habe, „auf die der politische und theoretische Mainstream erst sehr viel später gestoßen“ sei (123), scheint es die „seltene Fähigkeit“ zu sein, „sich selbst, die eigenen theoretischen und praktischen Voraussetzungen radikal in Frage stellen zu können, ohne linke Politik insgesamt aufzugeben“, welche die Autorin fasziniert (18; vgl.115,123).
Der zweite Teil des Buches beschäftigt sich mit den von verschiedenen Gruppenmitgliedern durchgeführten témoignages (wörtlich: Zeugnisse oder Zeugenberichte), als „Projekt einer Arbeitsforschung in revolutionärer Absicht“ (227). Ausgangspunkt für diese Arbeitsuntersuchungen ist einmal die Überwindung des Gegensatzes zwischen „der Zentralität der Produktionssphäre und den Mangel an systematischen Analysen des Produktionsprozesses im Marxismus“ (127). Zum Anderen aber auch die Stärkung des „subjektiven Faktors“, indem „durch diese Art der Untersuchung es den ArbeiterInnen selbst“ ermöglicht werden soll, „ihre Erfahrung zu reflektieren“ (134). Wurden auch nicht alle Ansprüche dieses ehrgeizigen Vorhabens umgesetzt, sei „die Qualität der vorgelegten Dokumente“ jedoch „in vielerlei Hinsicht beeindruckend“ (215) – eine Position, die die Autorin überzeugend an den Texten begründen kann.
Im dritten Teil wird die Aktualität der Gruppe reflektiert. Socialisme ou Barberie bleibe insofern aktuell, als dass sich im Postfordismus das „Problem der bürokratisch-kapitalistischen Herrschaft über Arbeit“ „in neuen Gestalten“ fortsetze und so, „bei aller Zeitbedingtheit im Detail“, an den grundsätzlichen Thesen der Gruppe angeknüpft werden könne (243).
Ebenso lasse sich an dem „ernsthaften und beharrlichen Versuch“ anknüpfen „‚aus der Bewegung der Wirklichkeit selbst die Grundlagen des revolutionären Handelns und seiner Orientierung herzuleiten‘ (Castoriadis)“ (250).
Wie die von Gabler ausgewerteten témoignages, ist ihr Buch spannend und lehrreich; zur Lektüre ausdrücklich empfohlen.
Interessant – und nicht nur weil sich die Cohn-Bendit-Brüder 1968 in ihrem „Linksradikalismus“-Bestseller positiv auf Socialisme ou Barbarie bezogen – wäre es, das Verhältnis der Gruppe zu anarchistischem Denken zu untersuchen. Gabler selbst nennt Socialisme ou Barberie eine „linkslibertäre Gruppe“ (11), ohne dass daraus klar wird, was darunter genauer zu verstehen sei. An einer Stelle heißt es: „Im Gegensatz zum Anarchismus, der ja auch die Idee der Selbstorganisation propagiert, wird Castoriadis der Bezug auf den Rätekommunismus leicht gefallen sein, weil er zu dieser Zeit [Anfang der 50er Jahre] noch in marxistischem Bezugsrahmen argumentiert. Je mehr er sich von diesem entfernt, umso distanzierter wird das Verhältnis zum Rätekommunismus, der (…) einen gewissen marxistischen Dogmatismus beibehält.“ (64f.)
Folgt auf die Distanzierung zum Rätekommunismus eine Annäherung an den Anarchismus oder zumindest eine vertiefte Auseinandersetzung, in der gegebenenfalls Übereinstimmungen erörtert wurden?
Andrea Gabler: Antizipierte Autonomie. Zur Theorie und Praxis der Gruppe Socialisme ou Barbarie (1949-1967), Offizin Verlag, Hannover 2009. ISBN 9783930345649, 294 Seiten, 28,80 Euro