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Der Kampf um Menschenrechte

Bericht über die Jahrestagung des Komitees für Grundrechte und Demokratie

| Dirk Vogelskamp

Anlässlich seines dreißigjährigen Bestehens lud das Komitee für Grundrechte und Demokratie vom 24. bis 26. September 2010 zu einer Tagung über den Kampf für die Menschenrechte in das Bildungs- und Begegnungszentrum Clara Sahlberg nach Berlin-Wannsee (vgl. Beilage in GWR 351).

„Der Kampf um Menschenrechte im Zeitalter kapitalistisch entfesselter Globalisierung – seine Ambivalenzen, Grenzen und Perspektiven“ lautete der Titel der Veranstaltung.

Mit dieser Tagung beabsichtigte das Grundrechtekomitee erstens, in den aktuellen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen gemeinsam mit anderen nach menschenrechtlich tragfähigen Orientierungen für die politische Arbeit zu suchen.

Und zweitens, gemeinsam mit anderen menschenrechtlich Aktiven auszuloten, inwieweit der Begriff der Menschenrechte für eine politische Praxis taugt angesichts dessen, dass die den Menschen gemäßen Normen heute vielfach zu herrschenden Propagandaformeln verkommen sind.

Die Tagung, an der rund fünfzig Interessierte einschließlich der eingeladenen Referentinn/en aus verschiedenen menschenrechtsorientierten „Hilfs“organisationen teilnahmen, eröffnete Wolf-Dieter Narr (Grundrechtekomitee).

Er argumentierte, dass erstens in den Menschenrechten zentrale Bedürfnisse, Möglichkeiten und Strebungen des Menschseins Form gewonnen haben und diese insofern vorstaatlich seien. Und dass zweitens die Menschenrechte jedoch durch die Durchkapitalisierung und Durchstaatung der Welt von anderen Interessen überlagert und pervertiert werden. Der Staat als Schutzinstanz der Menschenrechte gefährde sie heute zuallererst.

Die im 18. Jahrhundert begrenzt konzipierten Menschenrechte als individuelle Abwehrrechte hatten die Wirklichkeit des globalen Kapitalismus noch nicht im Blick.

Werden Menschenrechte als Ausdruck basaler menschlicher Bedürfnisse und Erfordernisse gefasst, dann sei die Konzeption der Menschenrechte als individuelle Abwehrrechte zu kurz gefasst.

Vielmehr gehe es wesentlich um die gesellschaftliche Verwirklichung von Selbst- und Mitbestimmung jedes Einzelnen, so dass die Gesellschaften, ihre Institutionen und sozialen Einrichtungen insgesamt entsprechend diesen Bedürfnissen und Erfordernissen demokratisch organisiert werden müssten.

Menschenrechte stellten das gesellschaftspolitische Maßverhältnis dar. Das setze aktive BürgerInnen voraus. Menschenrechte als Maßverhältnis aller den Menschen betreffenden sozialen und politischen Angelegenheiten sei in der ausgedünnten Form repräsentativer Demokratie sowie einer allgegenwärtigen Dominanz Ungleichheit produzierender kapitalistischer Ökonomie beinahe unmöglich. Gleichwohl seien ein alltägliches Handeln und ein alltäglicher Kampf, orientiert an Demokratie und Menschenrechten, um der von Ausschluss betroffenen Menschen (FRONTEX, Roma) willen unabdingbar.

Menschenrechte als Maßstab der Kritik

Albert Scherr (PH Freiburg | Grundrechtekomitee) leitete zum nächsten Tagungsabschnitt über, indem er kritische und methodische Aspekte zu den Menschenrechten kurz darstellte.

Erstens, Menschenrechte seien der Maßstab der Kritik, der zwar umstritten, aber allgemein anerkannt sei. Selbst die formelle Anerkennung der Menschenrechte sei ein Feld politischer Auseinandersetzungen und deshalb nicht unbedeutend.

Zweitens, die Menschenrechte, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte deklariert worden sind, erkennen die politische Gestaltung des Gemeinwesens an (Art. 21 – Art. 26), problematisch seien dessen Umsetzung und die unterschiedliche und umkämpfte gesellschaftliche Interpretation der dort getroffenen Teilhaberechte.

Drittens, die Verrechtlichung der Menschenrechte beinhalte wichtige Rechtsgarantien, die damit auch der gesellschaftlichen Kontrolle unterworfen seien.

Die Grundlage der Kritik an den vereinseitigt als (Staats) bürgerrechte gewährten Menschenrechten bildeten selbst wieder die Menschenrechte.

Die abstrakten Menschenrechte müssten in den jeweiligen Gesellschaftskontexten umgesetzt werden. Scheer sehe eine Differenz zwischen den Gerechtigkeitsmaßstäben und dem Begriff der Menschenrechte.

„Ohne uns fehlt Farbe“

Claudia Lohrenscheit (Deutsches Institut für Menschenrechte) referierte über den Kampf um kodifizierte Menschenrechtspositionen am Beispiel des staatlichen Diskriminierungsverbotes.

Zuerst zeichnete sie die gängige Kritik an den Menschenrechten nach (kultureller Relativismus/Imperialismus; bloße Abwehrrechte; Utopievorbehalt; Sicherheitsvorbehalt).

Dann wies sie auf Fortschritte der 1948er Deklaration hin: die Ausdehnung der Menschenrechte auf alle Menschen, die Verbindung von unveräußerlicher Würde und Rechten, der Schutz vor Diskriminierung als Folgerung aus Gleichheit und Freiheit aller Menschen.

Anschließend skizzierte sie die differenzierten internationalen Überwachungsmechanismen der Menschenrechtsabkommen: vom Staatenberichtsverfahren über die Individualbeschwerde bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Am Beispiel zweier Urteile des EGMR auf Grundlage der Europäischen Menschenrechtskonvention im Kontext von Klagen transsexueller Menschen machte sie den Fortschritt in der Rechtsprechung anschaulich und damit die Stärkung des Diskriminierungsverbotes.

Abschließend machte sie deutlich, dass auch die Rechtsentwicklungen der Dynamik gesellschaftlicher Auseinandersetzungen unterworfen seien und sich die Instrumente des Menschenrechtsschutzes zur Durchsetzung menschenrechtlicher Ansprüche bewährt haben. Es bleibe, so Claudia Lohrenscheit in der Diskussion, die Ambivalenz, dass der Staat die Menschenrechte einerseits zu gewährleisten habe, andererseits gleichzeitig selbst oft Normen setze, die diskriminierten (Intersexualität, „Ausländergesetzgebung“, Recht auf Bildung – Muños-Report).

In der Arbeitsgruppenphase wurde der Frage nachgegangen, wie menschenrechtsorientierte Organisationen mit den Widersprüchen um gehen, die sich aus den staatsvermittelten internationalen Menschenrechtsübereinkommen und der Notlage derer ergeben, denen das Menschenrecht auf Leben, Gesundheit oder Asyl vorenthalten bleibt.

Die Arbeitsgruppe zu den Auseinandersetzungen um soziale Gerechtigkeit in Deutschland (Peter Grottian vom Aktionsbündnis Sozialproteste und Corinna Genschel vom Grundrechtekomitee) kam in einer nüchternen Bestandsaufnahme zu dem Ergebnis, dass die Menschrechte kein mobilisierendes Moment in den Auseinandersetzungen um ein menschenrechtlich angemessenes Existenzminimum seien, auch nicht auf die Form, wie dieses staatlich gewährt werde (Sanktionierungspraxis).

Widersprüche, Grenzen und Perspektiven praktischer Menschenrechtsarbeit

Über die politische Menschenrechtsarbeit, die Rechte von Flüchtlingen und Asylsuchenden in Europa durchzusetzen, berichtete Karl Kopp von Pro Asyl in einer weiteren Arbeitsgruppe. Anhand der Dublin-Verordnung und dem daraus resultierenden asylpolitischen europäischen Verschiebebahnhof (Griechenland) sowie der EU-Außengrenzsicherung (FRONTEX und Tausende Tote) diskutierte sie, wie die rechtlichen Entscheidungen einerseits auf EU-Ebene getroffen werden, die Umsetzung aber jeweils auf nationalstaatlicher Ebene geschehe. In dieser institutionellen Arbeitsteilung werden die Menschenrechte zuhauf verletzt.

Es komme in diesem Kontext wesentlich auf die politischen Bewegungen an, die Potentiale und die institutionellen Barrieren der Menschenrechte im EU-Rahmen zu thematisieren und das tausendfache Sterbenlassen im Mittelmeer und Atlantik zu skandalisieren.

In der dritten Arbeitsgruppe berichtete Thomas Gebauer über die entwicklungspolitische Arbeit von „medico international“ und das Recht auf Gesundheit.

Als medizinische Hilfsorganisation hätten sie eine bewusst menschenrechtliche Orientierung. Das Recht auf Zugang zu Gesundheitssystemen (Primary Health Care Strategy) tangiere viele weitere Menschenrechte wie Recht auf Bildung, Ernährung, Befriedigung von Grundbedürfnissen.

Sie verteidigten in ihren Projekten die notwendige Hilfe, die Menschen in Not erhalten müssten, kritisierten dieselben, wo sie an den Bedingungen nichts änderten, sondern verfestigten und ersetzten diese durch andere demokratische, selbst- und mitbestimmte sowie auf grundlegende Veränderung zielende Formen solidarischer Unterstützung. Es gehe darum, Bedingungen von Gesundheit zu realisieren (Peoples Health Movement). Sie nähmen in ihrer Arbeit die Perspektive der Schwächsten ein.

Ein Teil ihrer Arbeit bestehe auch darin, über die Instrumentalisierung der Menschenrechte wie im Konzept der „vernetzten Sicherheit“ aufzuklären.

Dort werden die Menschenrechte unter das Diktat der Sicherheit subsumiert.

„Die (Re)-Politisierung der Menschenrechte im Kampf sozialer Bewegungen“

Bernd Drücke (Soziologe, Redakteur der Graswurzelrevolution) brachte in seinem Referat „Die (Re)-Politisierung der Menschenrechte im Kampf sozialer Bewegungen“ zum Tagungsausgang verschiedene Beispiele aus Geschichte und Gegenwart, wie der utopische Gehalt der Menschenrechte in unterschiedlichen Bewegungen und Kämpfen wachgehalten wurde (z.B. Kriegsdienstverweigerung/Gewissensfreiheit, Anti-Atom-Bewegung, Anti-Gentechnik-Bewegung), auch wenn diese sich nicht immer explizit auf diese bezogen, ihr Engagement aber mit einem „höheren Recht“ als dem staatlichen legitimiert hätten.

Die in Anschluss an die Beiträge entfachten Diskussionen erhellten den Zusammenhang, dass die Rechtsform der menschenrechtlichen Deklarationen die Form staatlichen Rechts annähme oder als Völkerrecht Staatenrecht sei und damit immer in Verbindung mit dem staatlichen Gewaltmonopol zur Durchsetzung von Sanktionsmöglichkeiten stehe, also Instrumente des Zwangs bis zur Akzeptanz des Krieges damit einhergingen. Darum sei die Kritik des Staatenrechts aus der Perspektive eines externen Menschenrechtsbegriffs immer wieder notwendig.

Dort, wo zentrale Bedürfnisse des Menschen in ihrem historischen Kontext missachtet werden, träfen sich die unterschiedlichen auf der Tagung dargestellten Ansätze – werden Menschenrechte nicht in ihrer verdinglichten Form aufgefasst. Insofern ist die Verrechtlichung der Menschenrechte in innerstaatliches Recht als Ansatzpunkt für Kritik ernst zu nehmen. Gegen den vermeintlichen Sachzwang der Herrschaft können Menschenrechte tagtäglich in Stellung gebracht werden. Der Kampf um den Begriff der Menschenrechte und um ihre Durchsetzung dürfe um der schwächsten und verletzlichsten Glieder der Gesellschaft nicht aufgegeben werden.