Was bedeutet eigentlich Atomrenaissance?
Sie zeigt sich, wenn man viele Atomreaktoren baut und viel Atommüll produziert, um anschließend ein Atommüllendlager in einem Land zu errichten, in dem der herrschende Diktator eine Vorliebe für Atomwaffen hat.
Nachdem diese drei Schritte getätigt wurden, werden viele Menschen, die in der Nähe dieser Endlager leben, sterben, während eine kleine Gruppe von Leuten – die BesitzerInnen der Reaktoren – extremen Reichtum anhäufen wird. Auch einige PolitikerInnen – die die ReaktorbesitzerInnen unterstützen – bekommen finanziell ihren Teil vom Kuchen. Der Diktator, der den Atommüll akzeptiert, wird ebenfalls reich werden, obwohl seine Mission etwas riskant ist.
Lasst uns aber nun die theoretische Ebene verlassen.
Tatsächlich befinden sich Russland und Deutschland mitten in einer Atomrenaissance, wie sie oben beschrieben wurde.
Ein Blick auf die Fakten
Die deutsche Atomindustrie war lange Zeit nicht in der Lage, neue Atomreaktoren zu bauen. Sie war aber dazu im Stande, Kernbrennstoff zu erzeugen und zu nutzen, Atommüll aus anderen Ländern zu bekommen und beim Bau neuer Reaktoren in anderen Ländern mitzuwirken.
Sie schloss sich mit der französischen Industrie zusammen, um am Atommarkt bestehen zu können, was jedoch nur mäßig erfolgreich ist.
Hier kommt unser Diktator ins Spiel, der eine Schlüsselfigur dieser Atomrenaissance ist.
Das gesamte Projekt würde ohne ihn nicht funktionieren. Nennen wir ihn einfach „Putin“ und all die Ressourcen, die er zur Verfügung hat, „Russischer Staatshaushalt“, der sich aus den Einnahmen des Öl- und Erdgasexports speist. Man könnte ihn auch „Sarkozy“ oder „Berlusconi“ nennen, diese sind aber nicht dreist und gewalttätig genug und ganz allgemein nicht geeignet für diesen Job.
Nun kommt also Putin mit all seinen Möglichkeiten auf Regierungsebene her und sagt „Hey, ich nehme euren Atommüll und ihr verschafft uns dafür Zugang zum Markt“.
So funktioniert das. Siemens arbeitet mit dem staatlichen russischen Atomunternehmen Rosatom zusammen, um an der Entwicklung neuer Reaktoren beteiligt sein zu können, was wiederum zu mehr Atommüll führt. Somit nährt sich dieser Prozess selbst.
Russland übernimmt schon seit 1996 Atommüll von deutschen Atomkraftwerken – womöglich aber bereits länger. Von der Urananreicherungsanlage in Gronau (NRW) aus ging seit 13 Jahren Atommüll zu vier verschiedenen russischen Anlagen in Sibirien und im Ural.
Aufgrund des Drucks deutscher und russischer Umweltschutzgruppen wurde dieser Export von Atommüll im Jahr 2009 gestoppt. Zumindest ist das die offizielle Version.
Die Anlage in Gronau ist Teil des multinationalen Konzerns Urenco (das deutsche Tochterunternehmen gehört E.ON und RWE). Angeblich wurden über 100.000 Tonnen Atommüll nach Russland verfrachtet. Dieses „wertvolle Produkt“ lagert dort in verrosteten Containern unter freiem Himmel.
Laut der russischen Regulierungsbehörde für Atomenergie besteht das Risiko, dass es hier zu einem Leck kommt und die Umwelt radioaktiv verseucht wird. Aber die Betreiberin in Gronau kümmert das nicht, denn dieser Atommüll gehört nicht mehr ihr – und sollte irgendetwas damit passieren, ist Russland dafür verantwortlich.
Du bist also davon ausgegangen, dass Atommüll keine Staatsgrenzen mehr überschreitet? Nicht wirklich. Vor langer Zeit wurde im Reaktor Rossendorf nahe Dresden Atommüll produziert. 2005 wurde dieser in das Zwischenlager Ahaus (NRW) transportiert. Und nun wollen die BesitzerInnen des Atommülls diesen nach Russland verfrachten und sind bereit, dafür 35 Millionen Euro zu bezahlen. Das ist selbst nach den Standards des so genannten „nuklearen Marktes“ eine Menge Geld. Oder ist das vielleicht ein Geschenk an unseren Diktator für seine gute Freundschaft in der Vergangenheit?
Dieser Atommüll wird nach Mayak geschickt werden. Das ist eine Anlage, die in der Lage ist, diese Art des Atommülls wiederaufzubereiten. Wenn du aber davon ausgehst, dass „wiederaufbereiten“ bedeutet, dass das Problem aus der Welt geschafft wird, dann irrst du.
Für jedes Kilo, dass in Mayak wiederaufbereitet wird, werden 150 bis 200 Kilo radioaktiver Abfall produziert! Teile davon werden in die nahegelegenen Flüsse Karachay und Techa geleitet. Diese Anlage versenkt radioaktiven Müll in Seen und Flüssen seit 1949.
Aufgrund dessen ist der Fluss Techa bereits in einem derart hohen Grad radioaktiv verseucht, dass die Belastung ähnlich hoch ist wie bei der Katastrophe von Tschernobyl.
Und das ist immer noch nicht alles, es lagert nämlich in Form von flüssigem Atommüll noch 20mal soviel Material in Mayak. Über 30.000 lokal Ansässige, die um Mayak lebten, waren dieser radioaktiven Strahlung ausgesetzt. Die meisten von ihnen sind bereits verstorben, es leben aber immer noch rund 5.000 Menschen auf den Ländereien entlang des Flusses Techa.
Und wer schert sich darum? Mit Sicherheit nicht die russische oder die deutsche Regierung. Die sind damit beschäftigt, die Menschheit mit ihrer atomaren Renaissance glücklich zu machen.
Und wenn deutscher Atommüll in Mayak wiederaufbereitet wird und das flüssige und tödliche Resultat dessen dann in die umliegenden Flüsse und in das Grundwasser gelangt (und die Menschen vergiftet, bis sie sterben), so ist dies für diese Regierungen ebenso unwichtig. Ein bisschen mehr Atommüll in den Fluss gekippt; ein paar mehr Todesfälle; ein bisschen mehr Geld – und es geht immer so weiter.
Wenn man jemals Zweifel an den tödlichen Folgen von radioaktiver Strahlung bekommen sollte, dann ergibt es Sinn, die Dörfer rund um Mayak zu besuchen …
Manchmal versuchen Leute, die von der freigesetzten Radioaktivität geschädigt wurden, von der russischen Regierung Entschädigungszahlungen zu bekommen.
Im September 2010 zogen die Gruppe Ecodefense und 23 BewohnerInnen von Dörfern am Techa vor Gericht. In diesem Verfahren verlangten wir, dass die Regierung ein sarcophagus oberhalb des Flusses errichten sollte, da das der einzige Weg sei, wie man eine Barriere zwischen den Menschen und der Radioaktivität des Flusses schaffen könne.
Dieser Prozess wird wahrscheinlich Jahre dauern. In der Vergangenheit war es so, dass manche Leute, die vor Gericht gingen, um Entschädigungszahlungen für die Folgen der radioaktiven Strahlung einzuklagen, das Ende des Prozesses aufgrund eben dieser Folgen nicht mehr miterlebten und vorher verstarben.
Beinahe jeder, der oder die an den Ufern der Techa lebt, hat Krebs oder Leukämie
Wir hoffen, dass sich die Situation bessern wird, aber wir wissen alle, wie sich so etwas normalerweise entwickelt. Es sieht so aus, als ob sich Frau Merkel dazu entschlossen hätte, dass die Situation der BewohnerInnen um Mayak nicht verbessert werden könne – warum also nicht ein Atommüllendlager daraus machen?
Die deutsche Atomindustrie schickt nicht nur Atommüll, sondern stellt auch die Container zur Verfügung, in denen dieser gelagert wird. GNS wird Castor-Behälter für neue russische Endlager produzieren, welche rund 38.000 Tonnen verbrauchten Kernbrennstoff fassen.
Zusammen mit den bereits existierenden Anlagen wird Russland im Stande sein, fast 50.000 Tonnen von hochradioaktivem Atommüll lagern zu können.
Während der 60 Jahre der sowjetischen und post-sowjetischen Atomindustrie wurden rund 20.000 Tonnen dieses tödlichen Abfalls produziert. Ich denke, dass die geheimen Pläne, deutschen Atommüll nach Russland zu verfrachten, sehr umfangreich sind.
Die Kooperation zwischen Atomindustrien und Regierungen in Russland und Deutschland schreitet schnell voran
Rosatom und Siemens arbeiten bereits an neuen Reaktoren in Bulgarien, wobei hier glücklicherweise nicht viel weitergeht. Rosatom übt jedoch starken Druck auf Bulgarien aus, die Errichtung eines neuen, riskanten und teuren Reaktors voranzutreiben. Zudem hofft man auf viele neue Reaktoren in der EU, in Ländern wie der Tschechischen und Slowakischen Republik, Ungarn, Bulgarien, Polen usw. Auch in Russland selbst, nahe Kaliningrad, gibt es diesbezügliche Pläne.
In offiziellen Rosatom-Papieren wird bestätigt, dass die Möglichkeit besteht, dass aus diesen Reaktoren irgendwann Radioaktivität austreten wird.
Gleichzeitig versichern sie jedoch, dass die Strahlung nicht über die Grenzen der Anlage hinausreichen wird.
Ich nehme an, das ist eine neue und kluge Form der radioaktiven Strahlung, weil sie genau zu wissen scheint, wo sie hin soll und wo nicht – nicht wie die in Tschernobyl. Diese neue Form der Strahlung weiß, dass sie nicht 600 Kilometer nach Berlin oder 1.200 Kilometer nach Moskau fliegen soll.
Rosatom hat mehreren deutschen Firmen angeboten, an der Errichtung des Atomkraftwerks in Kaliningrad mitzuwirken, um dann Energie von ihr zu beziehen. EnBW wurde gefragt, wahrscheinlich auch E.ON und RWE. Keine dieser Firmen hat bislang eine Beteiligung an dem Projekt bestätigt, aber es ist mit Sicherheit zu früh, um endgültige Schlüsse zu ziehen. Weitere Bereiche, in denen Rosatom versuchen wird, deutsche Unterstützung zu bekommen, sind Privatbanken und die staatlichen Hermes-Bürgschaften. Das ist der Bereich, in dem Siemens vermutlich am nützlichsten ist.
Gemeinsamer Widerstand
Ich habe das Bild der modernen Atomrenaissance beinahe fertig gezeichnet. Nur noch ein Aspekt fehlt: Vor 60 Jahren wussten die Menschen, die um Mayak wohnten, nicht, dass sie wie Tiere für Atomtests gehalten wurden, und sie hatten keine Chance, dem Widerstand entgegenzusetzen. Nun ist diese Umgebung zu einem Atomlager geworden.
In Deutschland kämpfen viele Menschen gegen eine Lagerung von Atommüll auf ihrem Land. In der Freien Republik Wendland, Ahaus und anderen Orten kann das beobachtet werden. Heute gibt es die Möglichkeit, die Atomindustrie zu stoppen. Wenn es aber keinen Widerstand geben wird, werden wir mehr derartige Atomrenaissancen sehen, was bedeuten wird, dass es zu neuen Mayaks kommen wird – nicht nur in Russland.
Wir müssen der Atomindustrie gemeinsam Widerstand entgegensetzen und solidarisch miteinander sein. Das wird unsere Bewegungen stärker machen. Wir müssen die Atomindustrie dazu zwingen, keinen Atommüll mehr zu produzieren, und sichere und verlässliche Lösungen für dieses Problem finden.
Diese Lösungen müssen nach unseren Standards verlässlich sein und nicht nach jenen der IAEO oder irgendeiner Regierung. Mayak ist nicht nur ein russisches Problem, es ist eine Warnung für jedes Land und für die ganze Welt.
Diese Warnung ist simpel: Stoppt die Atomenergie. Stoppt die Produktion von Atommüll. Beginnt mit der Anti-Atomrenaissance!
Anmerkungen
Vladimir Slivjak ist Aktivist der russischen Umweltgruppe Ecodefence.
Übersetzung aus dem Englischen: Sebastian Kalicha