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Victoria Anarchist Bookfair

2.000 Menschen besuchten am 11. und 12.09.2010 die libertäre Buchmesse in Kanada. Ein Bericht

| Rüdiger Haude

Bei der "Victoria Anarchist Bookfair" wäre es fast zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung gekommen. Alex, der Moderator, konnte das Schlimmste gerade noch verhüten, indem er ins Mikrophon rief: "Einer von euren Hunden belästigt da draußen die Ziege!" Die Haustiere - Hunde wie Ziegen - mussten nämlich draußen bleiben und fühlten sich infolgedessen nicht an anarchistische Grundprinzipien gebunden.

Die Buchmesse in der Hauptstadt der kanadischen Provinz British Columbia, am Südzipfel des schönen Vancouver Island gelegen, zeugte von einer höchst lebendigen libertären Kultur.

Als ich eine Woche vor der Messe in Victoria eintraf, waren meine Gastgeber gerade damit beschäftigt, mit ein paar Dutzend Jugendlichen ein „Urban Capture the Flag“ durchzuführen, eine Weiterentwicklung des alten militaristischen Mannschaftsspiels der Pfadfinder, das nun dazu dient, Straßen und öffentliche Räume zurückzufordern, Protesttaktiken zu entwickeln und Gemeinschaftsbewusstsein aufzubauen.

Viele weitere Veranstaltungen akzentuierten die Woche vor den zwei Messetagen, von denen die „Nacht des Widerspruchs“ am 10. September ein Höhepunkt war. Neben Poetry-Slammern, HipHoppern und schwer kategorisierbaren Musikrichtungen hinterließen die Agitations-Vorträge des aus New York stammenden „World War 3“-Kollektives bei mir den stärksten Eindruck: Umsetzungen von Comic-Strips aus den gleichnamigen Magazinen in Powerpoint-Präsentationen mit eindringlichem Textvortrag.

Was dabei z.B. über das US-Justizsystem zu lernen war, ließ einem den Atem stocken.

Die Bookfair selbst fand in der Turnhalle der „St. Andrews Kirk“ in Downtown Victoria statt. Die Präsentationen der Verlage, Buchläden und sonstigen AktivistInnengruppen wurden ergänzt durch ein flankierendes Programm von Workshops. So ließ sich insgesamt gut erkennen, inwiefern sich die Agenda nordamerikanischer AnarchistInnen von europäischen Vertrautheiten unterscheidet. Mir war z.B. neu, mit welchem Nachdruck die Toiletten der Turnhalle in „gender neutral washrooms“ umgewidmet wurden, um heterosexistische Routinen zu durchbrechen.

Tatsächlich zeigte sich bei den etwa 2000 BesucherInnen der Messe nicht nur beinahe ein zahlenmäßiges Übergewicht von Frauen gegenüber Männern, sondern auch eine bemerkenswerte Präsenz von Transgender-Personen.

Ebenfalls ungewohnt war ein Workshop, der sich mit dem Thema „radikale Nüchternheit“ beschäftigte. Verschiedene, teilweise aus der Punkszene stammende AktivistInnen schilderten dort, auf welche Schwierigkeiten sie nach ihrer Entscheidung gegen Alkohol und Drogen gestoßen waren: wie ihre Freundeskreise schmolzen, sie aus informellen Entscheidungsprozessen, die sich um einen Joint herum abspielten, ausgeschlossen waren, usw.

Flankiert von der These, dass eine Sucht jedenfalls nicht die ideale Umsetzung des anarchistischen Gedankens der Selbstbestimmung sei, wurde gefordert, in radikalen Gemeinschaften „sober safe spaces“ zu schaffen. Da konnte ich später in meinem eigenen Workshop über „Piraterie, Egalitarismus und Radikalismus“ nur konstatieren, dass ein karibisches Piratenschiff ganz sicher kein solcher „nüchterner sicherer Raum“ gewesen sei.

Eine Vertreterin des „Forest Action Network“ erklärte, wie das Prinzip der direkten Aktion im Kampf gegen die Kommodifizierung der Wälder nutzbar gemacht werden kann.

Sie berichtete von guten Erfahrungen mit der Methode des „tree spiking“. Sobald eine Waldfläche zur künftigen Abholzung ausgewiesen wird, präparieren die AktivistInnen die Bäume, indem sie lange Nägel in die Stämme treiben, die beim Versuch, den Baum zu fällen, unweigerlich die Säge zerstören.

Eine in der Diskussion geäußerte Kritik, es gehe doch darum, die Waldarbeiter zu Verbündeten zu machen, was mit dieser Taktik unmöglich gemacht werde, fand wenig Unterstützung.

Eine richtig spannende (und am Ende offen bleibende) Diskussion entspann sich hingegen um die Forderung der „No One Is Illegal“-Gruppe aus Vancouver, jeder Mensch müsse seinen Wohnort selbst wählen dürfen.

Die anwesenden VertreterInnen der First Nations wiesen darauf hin, dass diese Forderung sie an die schmerzliche Erfahrung der Landnahme durch europäische Siedler erinnere. Die indigenen Völker beanspruchten das Recht, Zuwanderern den Zutritt zu ihrem Land zu verweigern. Nur die Einsicht, dass man gemeinsam gegen jene staatlichen Instanzen kämpft, die heute darüber entscheiden, wer wo leben darf, deckte einstweilen das hier lauernde Konfliktpotenzial zu.

Für die OrganisatorInnen der Victoria Anarchist Bookfair ist es ein großes Erfolgserlebnis, dass in diesem Jahr, in dem die Messe zum fünften Mal durchgeführt wurde, erstmals indigene AktivistInnen sich nennenswert beteiligten.

An der hierfür notwendigen Vertrauensbildung hat man in Victoria lange gearbeitet. Auch Angehörige der Songhees-Nation waren anwesend, der das Land gehört, auf dem die Buchmesse stattfand. Immer wieder wurde betont, dass hier, wie fast überall in British Columbia, das Land nie durch Verträge abgetreten wurde und die Okkupation durch die „Siedler“ daher noch skandalöser sei als im Rest von Kanada.

Bedenkt man, dass die indigenen Kulturen der kanadischen Westküste, die Schnitzer der berühmten Totempfähle, im Unterschied zu den meisten anderen „Indianer“-Völkern traditionell keine egalitären Gesellschaften waren, sondern stark stratifiziert, so ist es besonders erfreulich, dass hier heute die Verteidigung der kulturellen Tradition mit einer Hinwendung zu anarchistischen Ideen einhergeht.

Der bedeutende Künstler Gord Hill, der ein Kwakwaka-wak’w ist und auf der Victoria Anarchist Bookfair zusammen mit dem „World War 3“-Kollektiv eine Podiumsdiskussion über „Graphic Radicals“ durchführte, ist ein herausragendes Beispiel für diesen Prozess.