Mit einer spektakulären Kletteraktion an der 75 Meter hohen Fuldatalbrücke bei Kassel demonstrierten in der Nacht zum 7. November 2010 unabhängige AktivistInnen der Gruppe "Brückentechnologie" gegen den Castortransport und die Atompolitik. Gleichzeitig besetzten gut fünfzig weitere DemonstrantInnen die Schiene. Der Castor musste eine dreistündige Pause einlegen.
„Ob wir es schaffen werden? Ob wir schon geortet worden sind?“ Auf den Gesichtern ist trotz Dunkelheit eine gewisse Anspannung zu spüren.
Es ist Nacht, Castornacht. Die Zeit scheint stehen geblieben zu sein, die Stimmung ist gespenstisch, noch ist es im Wald absolut still.
Bei jedem Knacken schrecken die AktivistInnen auf. Sie sind von der Außenwelt abgeschottet – sogar das Telefonnetz ist gestört: „nur Notrufe möglich“ zeigt sich auf dem Display an, trotz gutem Empfang.
Die erfahrenen AktivistInnen bewahren Ruhe. Panik bricht nicht aus. Die wenige hundert Meter entfernt vorbei rasenden ICE vermitteln ihnen Zeitgefühl.
Als zwei Polizeihubschrauber DemonstrantInnen durch Wald und Böschungen jagen, schlagen die Herzen der AktivistInnen schneller – zum Glück ist das Waldland besonders uneben und uneinsehbar.
Ohne Kontakt zur Außenwelt greifen die AktivistInnen auf Erfahrung und Gefühle zurück
Die KletteraktivistInnen begeben sich auf die Fuldatalbrücke und ankern sorgfältig ihre Seile. Zwei KletterInnen seilen sich langsam in der Dunkelheit ab, sie verschwinden in einem schwarzen, tiefen Loch.
Nach unten reicht der Lichtstrahl der Lampe nicht. Doch sie wissen, dass die Castorstrecke sich 75 Meter tiefer unter ihnen befindet, in der Ferne sind die Standlichter eines Polizeiautos zu sehen. Für ihre Aktion haben sie sich ein wichtiges Bahnkreuz ausgesucht.
Der Hubschrauber hat sich schon lange nicht mehr sehen lassen. „Ob der Castor schon durchgefahren ist?“ Das Telefonnetz geht – oh Wunder – nun wieder, es kommt die Meldung, der Castor stehe in Bebra, der Zeitablauf ist richtig!
Gegen 3:15 Uhr ist es nun so weit, die zwei KletteraktivistInnen entfalten auf einer Höhe von ca. acht Metern ihr Transparent. Die Botschaft „Castor stoppen“ ist eindeutig und das Motiv, eine sich kopfüber abseilende Antiatomsonne, passend.
Die AkrobatInnen befinden sich auf Augenhöhe mit dem Polizeifahrzeug auf der Autobrücke gegenüber. Entdeckt werden sie allerdings erst, als sie Knicklichter auf die Schiene werfen. Die Polizisten springen aus ihrem Fahrzeug und starren auf die in der Luft hängenden AktivistInnen. „Wo kommen die denn her?“
Die Polizeiarmee setzt sich in Bewegung – und hat alle Hände voll zu tun.
Es kommt die Nachricht, dass rund fünfzig AktivistInnen ein Katz- und Mausspiel zwischen Böschung und Castorstrecke treiben. Zeitgleich wird die Presse benachrichtigt. „Mit dieser Aktion des zivilen Ungehorsams protestieren die Aktivist*innen gegen das geplante Endlager Gorleben und den geplanten Weiterbetrieb von Atomanlagen. Die einzig akzeptable Option ist die sofortige Stilllegung aller Atomanlagen weltweit“, heißt es seitens der AktivistInnen.
Mit Fantasie halten sie einen ganzen Polizeiapparat in Schach. Die KletteraktivistInnen tanzen dem Atom- und Polizeistaat auf der Nase.
Die DemonstrantInnen auf der Schiene werden nach und nach abgedrängt und eingekesselt. Nach der Durchfahrt des Transportes dürfen sie gehen.
Es wird gemeldet, eine Spezialeinheit sei auf dem Weg.
Doch der Polizeieinsatzleiter erteilt plötzlich den Befehl, den Zug unter den KletteraktivistInnen durchfahren zu lassen.
Per Megafon versucht ein Polizist, die Beiden zum Abbruch ihrer Aktion zu nötigen, indem er mit lebensgefährlicher Verletzung bei der Durchfahrt des Castors droht. Die AktivistInnen haben ihre Aktion sorgfältig vorbereitet und die notwendigen Sicherheitsvorkehrungen getroffen, um die Gefahr eines Stromschlages auszuschließen.
Die Durchsagen der Polizei sind allerdings in der Stresssituation sehr verwirrend. Die AktivistInnen behalten ihre Ruhe. Jeder Kletterer kennt die Gefahr des „Hängetraumas“.
Der Polizist mit dem Megafon, der seine Lügen verbreitet, hat dagegen davon überhaupt keine Ahnung! Und auch keine Ahnung davon, ob die KletteraktivistInnen in der Lage sind, weg zu kommen. Die Komplexität der Seilkonstruktion macht ein schnelles Wegklettern unmöglich – was den Druck auf die Beiden erhöht.
Der Castor naht. Der Polizist mit dem Megafon droht weiter. Die KletteraktivistInnen verlangen den Kontakt zu SanitäterInnen.
Sie wollen der Strahlung nicht ausgesetzt werden und suchen nach Vermittlern, die die Polizei über die Gefahren aufklären. Der Kontakt wird verweigert. Für die körperliche Unversehrtheit der AktivistInnen interessiert sich die Einsatzleitung nicht – die Strahlung ist ja weder zu sehen noch zu spüren. Die Polizei denkt nur daran, den Castor so schnell wie möglich durchzuprügeln.
Gegen 5:30 Uhr ist es so weit, der Zug passiert die Stelle. Weil er sehr schwer ist, kommt er nur langsam im Bewegung, ein Kletterer kriegt eine volle Ladung Dieselruß aus der Lok, bald beträgt der Abstand zwischen den strahlenden Behältern und den DemonstrantInnen nur noch drei Meter. Der Zug besteht aus sechs Personenwagen und elf Castorbehältern. Aus den Fenstern zeigen PolizistInnen den Zeigefinger.
Nach seiner Durchfahrt steht der Zug ca. dreißig weitere Minuten in Sichtweite, die Beamten steigen nach und nach wieder ein. Die Polizei erklärt den KletteraktivistInnen, dass sie herunter kommen müssten, um in Gewahrsam genommen zu werden.
Wer geht denn freiwillig in den Knast? Luftakrobatik ist doch viel attraktiver.
Kurz drauf trifft die Sondereinheit der Polizei mit einem mit zwei Hebebühnen ausgestatteten Turmtriebwagen ein.
Die PolizistInnen vom „Technischen Einsatzdienst für Höhen und Tiefen“ holen die Aktivis-tInnen herunter.
Gegen 6:45 Uhr befindet sich die gesamte Aktionsgruppe „Brückentechnologie“ in Gewahrsam, bis zu ihrer Entlassung wird die Polizei die Rechtsgrundlage für die Freiheitsentziehung dreimal ändern, ihr Ziel ist es, die AktivistInnen bis zur Ankunft des Castortransportes in Gorleben fest zu halten.
Den Richter wird sie allerdings nicht von der Gefährlichkeit der AktivistInnen überzeugen können. Gegen Mittag kommen alle frei. Auch das Eichhörnchen. Es kommt nicht wie vor zwei Jahren in Langzeitgewahrsam zur Verhinderung einer möglichen Ordnungswidrigkeit (die GWR berichtete) – ein Beweis dafür, dass die damalige Billigung der Verhaftung der Aktivistin durch Lüneburger Gerichte eine rein politische Entscheidung war.
Gegen die fünf AktivistInnen der Gruppe „Brückentechnologie“ leitete die Polizei ein Ermittlungsverfahren wegen Nötigung ein. Ihre Kletterausrüstung wurde beschlagnahmt.
Die KletterInnen gedenken, den Spieß umzudrehen.
Schließlich hat die Polizei sie dazu nötigen wollen, ihre Aktion zu unterbrechen, indem sie mit Körperverletzung drohte.
Mit ihrer kreativen, spektakulären Aktion wollte die Gruppe ihre Entschlossenheit im Protest gegen die Atomdiktatur zeigen. Das ist ihr gelungen. Atomausstieg ist auch Seilarbeit!
Fazit
Die Luftblockade war ein Glied in einer langen Kette von Protestveranstaltung gegen die Atomkraft. Es war ein heißer, stark umkämpfter Herbst! Weiter so! Zum Beispiel im Dezember gegen den Castortransport von Cadarache nach Lubmin (siehe Artikel dazu in dieser GWR).
Spenden
Solikontonummer für die Aktion:
Kontoinhaber: H. Thoroe
BLZ: 21750000
Kto.: 111 026 274
Betreff: Castor2010