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„Emma Goldman hatte seidene Unterwäsche eingekauft, die todschick war“

Sabine Hunziker im Gespräch mit der Übersetzerin Marlen Breitinger

| Interview: Sabine Hunziker

Das folgende Interview entstand im Rahmen einer Lesung der im August 2010 in der Hamburger Edition Nautilus erschienenen Neuauflage der Autobiographie Gelebtes Leben von Emma Goldman (siehe Rezension in dieser GWR). Marlen Breitinger gehörte zum Kollektiv, das die Autobiographie in der Erstausgabe in die deutsche Sprache übersetzte und auch bei der Überarbeitung des Buches mithalf. Weiter hat sich Breitinger, die ein Studium in Geschichte und Germanistik abgeschlossen hat, intensiv mit dem Nachlass von Emma Goldman beschäftig. Mit ihr sprach für die GWR Sabine Hunziker.

Sabine Hunziker (GWR): Meine erste Frage dreht sich um die revolutionäre Gewalt. Alexander Berkman äußerte sich zur anarchistischen Tat. Im Unterschied zum Feudalismus war im modernen Kapitalismus weniger die politische Unterdrückung als die ökonomische Ausbeutung der Ursprung der Unfreiheit der Menschen. Die Politik hatte im Kapitalismus die Rolle des Handlangers.

Auch Emma Goldman hatte sich in ihrer Autobiographie mit der Figur Judith aus dem apokryphen Buch Judith aus dem Alten Testament verglichen, die den Kopf des Generals des babylonischen Königs abschneidet. Bei diesem Beispiel beschrieb sie ihre Wandlung, als sie nach diesem Prinzip des Widerstandes zu viele Köpfe hätte abschneiden müssen. Marlen, kannst du diese Wandlung in der Gewaltfrage kurz kommentieren?

Marlen Breitinger: In einer vergangenen Lesung war ein Besucher äußerst schockiert darüber, dass Berkman den Fabrikbesitzer töten wollte. Zu dieser Zeit gab es ja viele terroristische Akte.

Dabei hatte die anarchistische Bewegung, wie Goldman anmerkte, selber begriffen, dass diese Morde nicht weiterführen können. Die anarchistische Tat endete meistens mit der Verurteilung der Angreifer. Aber die Tat änderte nichts. Wir werden heute auch mit dem Terrorismus terrorisiert, wobei der Terror an sich schlimm ist. Aber zur Weiterentwicklung zur Revolution hat der Terrorismus ja nicht so wahnsinnig viel beigetragen.

GWR: Gerade in diesem Beispiel sah man in der Autobiographie die Unterschiede zwischen den fast lebenslangen Gefährten Berkman und Goldman.

Marlen Breitinger: Berkman war sicher der ideologisch strengere als Goldman. Man muss aber auch sehen, dass die Erwartungen an die Männer in der anarchistischen Bewegung größer waren als an die Frauen. Aber in diesem Bezug ist die anarchistische Geschichte noch zu wenig aufgearbeitet.

Trotzdem arbeitete Emma Goldman spezifisch zu bestimmten Themen wie zum Beispiel im Bereich Empfängnisverhütung. Ungewollte Schwangerschaften waren für die Frauen damals ein großes Problem. Die Situation, dass das Wissen über die Verhütung kaum verbreitet und die Abtreibung verboten war, politisierte Goldman. Ab diesem Zeitpunkt hat sie sich dann in Form von Vorträgen und politischen Forderungen um das Thema gekümmert. Sie setzte sich für das Recht für Empfängnisverhütung ein. In diesen Momenten kamen die Leute zu Goldman und hörten ihr zu, weil sie eine der Ersten war, die offen dazu sprach. Alexander Berkman hätte nie über Homosexualität gesprochen. Er hätte gekniffen. Goldmans Arbeit war thematisch mehr in die Breite gestreut. Sie hat diese Themen offengelegt, weil die Menschen damit zu ihr gekommen sind.

GWR: Sie hatte also andere Themen in den anarchistischen Diskurs reingebracht, die vorher vergessen oder tabu waren. Goldman hat sich mit menschlichen und lebensnahem Themen beschäftigt.

Marlen Breitinger: Sie fand, dass eine Tanzveranstaltung zu veranstalten genauso wichtig war wie ein Streik. Beide Anlässe fördern die Unterstützung der Menschen. Ein wichtiges Beispiel dafür ist in der Autobiographie die Diskussion über die Schönheit.

Es stellte sich die Frage, ob Schönheit, Kunst und Literatur für den revolutionären Prozess wichtig sind.

GWR: Da finde ich interessant, dass Goldman die Kunst, das Theater und die Literatur nicht im Sinn der Kritik zur Kulturindustrie von Adorno und Horkheimer analysiert hat. Sie hat die Kultur der Herrschenden konsumiert und sie war fasziniert davon. Ich habe in der Autobiographie keine Passage der Kritik dazu gefunden.

Marlen Breitinger: Emma Goldman hatte keine Berührungsängste. Sie wurde von reichen Gönnern unterstützt.

Ein Gönner lud sie einmal ein, um mit ihm zusammen in teuren Geschäften einzukaufen. Und da hatte Emma Goldmann seidene Unterwäsche eingekauft, die todschick war. Man hätte ganz andere Sachen mit diesem Geld machen können.

Doch als gelernte Schneiderin liebte Emma Goldman die aktuelle Mode. Das fand sie in Ordnung. Sie hatte auch einen Opernmantel mit einem teuren Futter. Emma Goldman fand Opern großartig. Opern waren damals das aktuelle Medium und sozusagen das Popkonzert des 19. Jahrhunderts. Goldman war ein emotionaler Mensch. Aus diesem Grund wurde sie von Kunst und Literatur so angesprochen. Sie konnte nicht nur Theorie machen.

Sie brauchte Lebendigkeit, Freunde und Gesang. Sie hat viel gesungen. Es wird berichtet, dass sie immer Russenlieder gesungen und viele Platten mit russischem Liedgut hatte. Sie war leidenschaftlich, hatte auch geflucht oder einen grimmigen Gesichtsausdruck gemacht.

Sie kriegte immer ein grimmiges Gesicht, wenn Unrechtes passierte oder wenn sie etwas machen musste, was sie nicht wollte. Man sieht diesen Gesichtzug von Goldman oft auf den Bildern. Wenn man die grimmige Emma auf einem Foto sieht, denkt man gleich; oh da will ich nicht zwischen die Klauen geraten.

GWR: Auf der Rückseite der aktuellen Autobiographie ist ja auch ein Foto, wo Emma Goldman mit einem sehr starken und selbstbewussten Auftreten zu sehen ist.

Marlen Breitinger: Die Klassenunterschiede hat Emma Goldman nicht akzeptiert. Wenn sie bei armen Leuten war, dann war sie bei armen Leuten. Und wenn sie an der Uni sprach, in höheren Schichten oder in Lady-Clubs hat sie auch keine Unterschiede gemacht und ihre vorbereiteten Themen vorgetragen.

GWR: Kannst du noch etwas zu einem Thema von Emma Goldman sagen? Interessant wäre die freie Liebe.

Marlen Breitinger: Die freie Liebe war zu der Zeit weiter verbreitet, als wir heute denken. Es gab viele Frauen, die sagten, ich will das auch. Ich will die gleichen Rechte und ich nehme mir einen Liebhaber.

Wenn ich den Jetzigen nicht mehr will, nehme ich mir einen Anderen.

Auch die eher früheren Verluste der Ehepartner förderten den Wechsel von Sexualpartnern. Meine Großmutter wurde auch im 19. Jahrhundert geboren. Sie hatte einige uneheliche Kinder geboren. Es war eine Zeit, in der für die Frauen Freiräume möglich waren. Je fortschrittlicher diese Frauen waren, desto mehr haben sie selbstbestimmt ihre Sexualität ausgelebt.

GWR: Und wie hat Emma Goldman die freie Liebe gelebt?

Marlen Breitinger: Mir kommt eine Passage in den Sinn, in der Emma Goldman sich einen jüngeren Liebhaber genommen hat. Plötzlich ist dann die Situation gekommen, bei der die freie Liebe Grenzen hatte. Goldman war dem jungen Mann dann plötzlich doch zu alt. Emma Goldman wurden immer wieder Grenzen bei der freien Liebe aufgezeigt.

Das Beispiel zuvor zeigt, dass der Altersunterschied plötzlich doch wichtig wurde. Doch sie nahm es humorvoll. Sie verlor ihren Humor nie.

Goldman hat in jeder Lebenslage Menschen gesucht, mit denen sie von Herz zu Herz leben konnte. Das ging bei ihr immer so. Am Ende ihres Lebens war sie noch mit einem blinden Mann zusammen, den sie innig liebte. Ihre Liebe war geprägt vom Grundsatz, dass sie kein Kind kriegen wollte.

Goldman gestaltete ihr Beziehungsleben, wie sie wollte. Sie war mit den Männern so lange zusammen, wie es für sie stimmte und so lange wie sie für sie da waren. Emma Goldman wollte nie für immer und ewig mit jemandem zusammen sein.

GWR: Was ist dir bei der Arbeit an der Autobiographie am Leben der Emma Goldman besonders aufgefallen?

Marlen Breitinger: Es gibt Ereignisse, die Emma Goldman in ihrer Autobiographie nicht erwähnt hatte. Es gibt Stellen, die nicht realitätsgetreu wiedergegeben wurden. Emma hatte mal zum Beispiel ein lesbisches Techtelmechtel.

GWR: Das hat sie verheimlicht? Ich mag mich daran erinnern, dass sie in Wien zur Zeit ihrer Krankenschwesterausbildung in einer Vorlesung in der Uni saß. Da wurde auch Homosexualität thematisiert.

Emma Goldman hatte sich dabei über das Publikum gewundert. Die Männer sahen aus wie Frauen und die Frauen wie Männer.

Marlen Breitinger: Ja, das Publikum in der Vorlesung war aus der Queer-Szene. Emma Goldman hatte auch mal eine Frauenbeziehung gehabt. Nur muss es ihr wohl etwas zu heiß geworden sein, diese Sexualbeziehung in der Autobiographie zu erwähnen.

GWR: Weshalb hat Emma Goldman diese Partnerschaft verschwiegen? Sie war ja sonst immer so offenherzig.

Marlen Breitinger: Ich nehme an, dass Goldman mit dem Weglassen bestimmter Dinge betroffene Leute schützen wollte. Denn als sie ihre Autobiographie veröffentlicht hatte, haben die meisten darin Erwähnten noch gelebt. Emma hat mit dieser Autobiographie viel Privates veröffentlicht. Das Erscheinen des Buches muss skandalös gewesen sein.

Es ist ein Problem, dass das Leben um Emma Goldman noch nicht ausgeforscht ist.

Es gibt jede Menge von Bibliographien. Im Amsterdamer Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IISG) liegen die Nachlässe von Goldman und Berkman. In den 1930er Jahren wurden die Dokumente dem Institut gegeben. Im Nachlass sind viele Briefe und anderes Textmaterial enthalten, die noch nicht aufgearbeitet sind.

Goldman war internationalistisch und hatte in vielen verschiedenen Sprachen geschrieben.

Es muss schwierig sein für einen Wissenschaftler, unter diesen Umständen eine Gesamtbiographie zu verfassen. Viel Material ist zudem verloren oder nicht mehr erhältlich.

Ich stoße bei meiner Forschung immer wieder auf neues Material von Emma Goldman. Da müssten mal ein paar Frauen ihre Doktorarbeiten darüber schreiben.

GWR: Warum denn nicht Männer?

Marlen Breitinger: Meinst du, die machen das (lacht)?