bücher

Großartig und absolut lesenswert

Emma Goldmans Lebenserinnerungen

| Antje Schrupp

Emma Goldman. Gelebtes Leben. Autobiografie, aus dem Englischen übersetzt von Marlen Breitinger, Renate Orywa und Sabine Vetter, überarbeitet und mit einer Chronik versehen von Tina Petersen, Edition Nautilus, Hamburg, August 2010, 928 Seiten, 34,90 Euro, ISBN 978-3-89401-731-6

Nachdem eine deutsche Ausgabe von Emma Goldmans Autobiografie bereits 1978-1980 im Karin Kramer Verlag erschienen ist, hat Edition Nautilus die Lebenserinnerungen der amerikanischen Anarchistin jetzt in einer überarbeiteten Übersetzung neu herausgebracht: Auf fast tausend Seiten erzählt Goldman von ihren Erlebnissen, ihren Ideen, ihren Beziehungen und ihren Kämpfen.

Angefangen im Jahr 1889, als sie als 19-Jährige nach New York kommt, bis zum Jahr 1928, als sie sich kurz vor ihrem 60. Geburtstag in ein Landhaus in Saint Tropez zurückzieht, um zu schreiben.

Es gibt kaum ein anderes Buch, das so offen und detailliert Einblick in die damalige anarchistische Bewegung, in ihre internen Konflikte und ihren Alltag gibt. Emma Goldman war eine zentrale Figur, bei ihr liefen viele Fäden zusammen, sie war gewissermaßen das öffentliche Gesicht des Anarchismus in jener Zeit.

Unermüdlich machte sie „Propaganda“ für die Idee einer herrschaftsfreien Gesellschaft, hielt hunderte von Vorträgen im Jahr, gab die Zeitung „Mother Earth“ heraus, reiste kreuz und quer durch die USA und immer wieder auch nach Europa, um für ihre Ideen zu werben und Beziehungen zu knüpfen zwischen den lokalen Gruppen.

Interessant sind ihre Erinnerungen auch, weil Goldman ein Bindeglied darstellt zwischen den „alten“ Vertreterinnen und Vertretern des Anarchismus im 19. Jahrhundert – Johann Most, Peter Kropotkin, Louise Michel, Errico Malatesta traf sie persönlich – und seiner Fortentwicklung im 20. Jahrhundert. Gleichzeitig verbindet sie in ihrer Person die europäischen Wurzeln, denen sie durch ihre russisch-jüdische Herkunft verbunden war, und die US-amerikanische Kultur, in der sie aufgewachsen ist und sich politisch sozialisiert hat.

Goldmans besondere Stärke liegt darin, dass bei ihr die Trennung zwischen Theorie und Praxis ihren Sinn verliert.

Natürlich verfasste sie auch „theoretische“ Werke, aber in „Gelebtes Leben“ schildert sie, wie politische Ideen entstehen, wie sie sich im Austausch mit anderen weiter entwickeln und dann wieder Auswirkungen auf das konkrete Leben und Handeln haben. Und diesen Prozess dokumentiert Goldman nicht nur, sie analysiert und durchdenkt ihn auch.

Klarsichtiger als viele andere erkennt sie, dass das Entscheidende für politische Einflussnahme in der Vermittlungsarbeit liegt. Also darin, die Grundannahmen anarchistischer Weltanschauung nicht nur zu postulieren oder theoretisch auszuarbeiten, sondern sie auf die konkrete Lebensrealität der Menschen zu übertragen und in dieser Welt plausibel zu machen. Wie schwierig das ist und welche Fallstricke es dabei zu meistern gilt, ist ein wesentlicher Fokus, unter dem Goldman ihren Aktivismus Revue passieren lässt.

In der Rezeption ihres Wirkens teilt Emma Goldman das Schicksal vieler einflussreicher politischer Denkerinnen: Sie wird vorwiegend als Teil eines heterosexuellen Paares wahrgenommen. Was im Bezug auf Hannah Arendt Martin Heidegger und für Simone de Beauvoir Jean-Paul Sartre ist, das ist bei ihr Alexander Berkman.

Die Memoiren selbst rücken dieses Bild etwas zurecht, denn es wird deutlich, dass Goldman und Berkman eigentlich gar nicht so viel Zeit miteinander verbrachten.

Berkman ist einer der ersten, den Emma Goldman als junge Frau in New York kennenlernt, da ist er 17, ein „Junge“, wie sie schreibt. Sie verlieben sich ineinander, doch nicht ohne Konflikte, da Berkman für Goldmans Geschmack zu moralistisch ist, zum Beispiel Menschen gegenüber, die sich nicht vollkommen kompromisslos „der Sache“ verschreiben. Seinen Mordanschlag auf den Industriellen Henry C. Frick unterstützt Goldman jedoch vorbehaltlos – da ist er 20 und sie 22.

Berkman muss für 14 Jahre ins Gefängnis. Unterdessen entwickelt sich Goldman zu einer gefragten Rednerin und politischen Agitatorin. Zigtausende im ganzen Land wollen ihre Vorträge hören, sie wird berühmt und einflussreich. Es ist nicht leicht für die beiden, ihre Beziehung nach Berkmans Freilassung wieder aufzunehmen. Und das Klügste, was sie tun können, ist wohl, es gar nicht erst zu versuchen: Sie erhalten ihre Verbundenheit, indem sie sich nur hin und wieder sehen.

Es gibt viele andere Männer in Goldmans Leben, und sie berichtet ausführlich davon. Diese enge Verwobenheit von Privatleben und politischem Engagement ist schon häufig als Goldmans Eigenart bemerkt und kommentiert worden. Sie leidet darunter, dass es nicht viele Männer gibt, die ihre Ideale teilen und gleichzeitig an einer Liebesbeziehung interessiert sind: Die einen sehen sie als asexuelle Kämpferin, die andere nur als Geliebte oder potenzielle Mutter ihrer Kinder.

Aber es geht nicht nur um revolutionäre Aufrichtigkeit im persönlichen Umgang und in Intimbeziehungen – auch wenn sich da so manch anderer Revolutionär ein Beispiel nehmen könnte.

Die Liebe, und das ist bisher weniger in den Fokus gekommen, ist für Goldman auch so eine Art Lebenselixier. Ben Reitman zum Beispiel, ihr junger und faszinierender, wenn auch aus revolutionärer Sicht wenig standfester Liebhaber: In den Jahren, in denen die beiden ein Paar sind, hält Goldman besonders viele Vorträge, wird von der Polizei verfolgt und von den Medien angefeindet.

Sie stellt fest, dass ihre Verliebtheit ihr Kraft und Energie gibt, um die Strapazen und wiederholten monatelangen Gefängnisaufenthalte durchzustehen. Also bleibt sie mit Reitman zusammen, trotz seiner offenkundigen Fehler und seiner Unzuverlässigkeit.

Was Emma Goldman hingegen mit Alexander Berkman verbindet, ist das gegenseitige Vertrauen, auch in konfusen Zeiten einen klaren Kopf zu behalten.

Mit das Spannendste an diesen Memoiren ist, dass sie Einblick geben in die politischen Kontroversen innerhalb der anarchistischen Bewegung. Johann Most zum Beispiel verurteilt politische Attentate. Peter Kropotkin rechtfertigt den Ersten Weltkrieg.

Unzählige männliche Genossen halten Goldmans Einsatz für Geburtenkontrolle und sexuelle Freiheit für kontraproduktiv. Immer wieder ist sie also damit konfrontiert, dass enge Weggefährten und Weggefährtinnen, mit denen sie sich ideologisch verbunden glaubte, in konkreten Tagesfragen zu diametral anderen Einschätzungen der Situation kommen. Nur Berkman steht verlässlich auf ihrer Seite, und nur ihm vertraut sie vorbehaltlos.

Das bewährt sich auch in der wohl größten Krise, nämlich an der Einschätzung der bolschewistischen Revolution in Russland.

Ende 1919 wird Goldman zusammen mit Berkman und 250 anderen aufgrund von „Anti-Anarchismus-Gesetzen“ aus den USA ausgewiesen und nach Russland abgeschoben.

Trotz anfänglicher Begeisterung für die Revolution brauchen Goldman und Berkman nur ein gutes Jahr, um zu verstehen, dass die Sowjetunion eine politische Katastrophe ist – eine Einsicht, die in der europäischen Linken damals von kaum jemandem geteilt wird. Auch von der Sozialdemokratie nicht. Goldmans Vorträge über ihre Erlebnisse in Sowjetrussland wollen im Europa der 1920er Jahre nur wenige Menschen hören.

Eine sehr erfreuliche Erkenntnis beim Lesen des Buches ist, dass ungeheuer viele Frauen darin vorkommen. Durch die bisherige männerzentrierte Geschichtsschreibung ist ja vielfach der Eindruck entstanden, politische Bewegungen seien in früheren Zeiten, von einigen „außergewöhnlichen“ Frauen vielleicht abgesehen, maßgeblich von Männern betrieben worden.

Goldmans Erinnerungen belehren da eines Besseren. Sie hat von fast ebenso vielen Frauen wie Männern zu berichten, die in den verschiedenen Städten, Gruppen, Organisationen aktiv waren, und mit denen sie sich austauschte und zusammenarbeitete. Hier ist noch ein großer Schatz zu heben, sowohl für die historische Frauenforschung als auch für die Geschichte des Anarchismus. Hilfreich dafür ist, dass es in der Neuausgabe jetzt ein Namensregister gibt.

Ebenfalls schön sind die zahlreichen Fotografien in der Buchmitte. Davon abgesehen ist die Neuausgabe in editorischer Hinsicht aber eine Enttäuschung. Das Vorwort von Ilija Trojanow, der über alles Mögliche schreibt, aber nicht über Emma Goldman (die er als Denkerin für „wenig originell“ hält), ist banal bis ärgerlich. Warum hat man nicht zum Beispiel die Mit-Übersetzerin Marlen Breitinger um eine Einführung gebeten, die doch Goldmans Nachlass erforscht hat? (Siehe Interview in dieser GWR, Seite 16)

So aber gibt es keinerlei Hilfe beim Zugang zu Goldmans Lebenserinnerungen. Der Text wurde, von einer Zeittafel abgesehen, einfach abgedruckt, wie er ist. Dabei bleiben so viele Fragen offen: Wie ist Goldmans Leben nach Abfassung der Memoiren weitergegangen? Immerhin hat sie ja noch über zehn Jahre gelebt und unter anderem an so interessanten Ereignissen wie dem spanischen Bürgerkrieg teilgenommen.

Oder: Wie sind diese Memoiren historisch einzuordnen?

Sie sind ja sehr subjektiv, und da drängt sich unweigerlich die Frage auf, was davon tatsächlich belegt ist, wo sie sich vielleicht irrte, was sie wegließ oder welche anderen Ansichten auf das Beschriebene es gibt.

Es gibt auch keine inhaltliche Einführung in die damalige Zeit oder in anarchistisches Denken.

Goldman selbst bemühte sich zwar darum, verständlich zu schreiben und Hintergründe zu erklären. Aber seither sind ja achtzig Jahre vergangen. Anarchistisches Minimalgrundlagenwissen – zum Beispiel warum sie gegen den Achtstundentag sind (eine Meinung, die Goldman dann überdenkt) – kann auch bei politisch Interessierten heute nicht mehr vorausgesetzt werden.

Eine Neuauflage hätte die Chance geboten, ein bisschen Kontext zu Goldmans Memoiren beizusteuern und sie in eine Beziehung zur anarchistischen Ideengeschichte insgesamt zu setzen.

Doch daran hatte der Verlag offenbar kein Interesse. Stattdessen stellt er Goldman plattitüdenhaft als „starke und unabhängige Frau, die sich vom Korsett aller Konventionen befreite“, vor – stereotyper geht es kaum. Interessant wäre doch gewesen, was Emma Goldman, diese eine, individuelle Frau, dachte und tat. Setzt man sich wirklich mit ihren Ideen auseinander?

Denkt man darüber nach, was sie für den Anarchismus inhaltlich bedeuten? Oder sieht man in Emma Goldman nur eine Art Pin-Up-Girl, mit dem sich das eigene Bücherregal schmückt?

Auch das Format ist unglücklich: 926 Seiten in einem Band, das ergibt anderthalb unhandliche Kilogramm, in denen man nicht gemütlich schmökern kann und die auch in kein Reisegepäck passen.

Eigentlich kann man das Buch nur am Schreibtisch sitzend studieren, was seinem Charakter überhaupt nicht angemessen ist. Ich habe für die Vorbereitung dieser Rezension deshalb zeitweise auf die alte dreibändige Karin-Kramer-Edition zurückgegriffen.

Das alles ist sehr schade. Denn Emma Goldmans Lebenserinnerungen sind großartig und absolut lesenswert, gerade weil sie in ihrer Radikalität nicht nur einfache Zustimmung hervorrufen, sondern ebenso kritische Fragen provozieren. Und zum Selberdenken anregen.

Die Lektüre ist sehr zu empfehlen.