Christof N. (24) und Frederik V. (32) wurden nachts auf dem Parkplatz eines Discounters von zwei Polizisten angehalten, mit abgelaufenen Lebensmitteln. Monate später kamen Strafbefehle über 10 und 20 Tagesgeldsätze wegen Diebstahls ins Haus: Beiden wird vorgeworfen, Lebensmittel aus dem Container des Discounters entwendet zu haben. Obwohl der Discounter selbst auf einen Strafantrag verzichtet hatte, sah die Chemnitzer Staatsanwaltschaft in diesem Fall ein "besonderes öffentliches Interesse". Christof und Frederik legten Einspruch ein und machten aus dem Prozess ein Politikum. Als am 13. Oktober 2010 erstmals über den Fall verhandelt wurde, war der Gerichtssaal voll mit SympathisantInnen, einige mussten vor der Tür warten Auch einige Döbelner BürgerInnen waren gekommen. Die Aktivisten hatten am Vormittag in der Innenstadt mit Straßentheater und Aktionen auf den Prozess aufmerksam gemacht. Am 28. Oktober wurde der Prozess weitergeführt.
Graswurzelrevolution (GWR): Manche denken bei „Containern“ gleich an ein ekliges Wühlen im Müll mit gammeligen Gemüse und benutzten Hygieneartikeln. Was genau ist „Containern“?
Christof: Lebensmittel oder Gebrauchsgegenstände zu nehmen, die niemand haben will, die für den Müll bestimmt oder schon darin gelandet sind. Diese Waren sind teilweise abgepackt und noch eingeschweißt. Ihr Mindesthaltbarkeitsdatum ist gerade erst abgelaufen oder noch nicht einmal überschritten. Nur weil z.B. neue Produkte in die Regale sollen oder die Verpackungen nicht mehr perfekt aussehen, wird inzwischen ein Drittel bis die Hälfte aller Lebensmittel weggeschmissen.
Frederik: Oft landen an sich gute Lebensmittel auf dem Müll, um Marktpreise stabil zu halten. Das ist pervers. Es wird lieber eine künstliche Knappheit erzeugt, als Waren verbilligt abzugeben oder zu verschenken. Wer containert, regt schon einmal nicht mehr die Nachfrage nach der Produktion von neuen Produkten an. Per se ist Containern also nicht politisch, unterbricht jedoch den kapitalistischen Konsumkreislauf. Dessen Auswirkungen, wie z.B. Armut und Hunger, werden zumindest auf diese Art und Weise nicht noch weiter unterstützt.
GWR: Die Richterin hat euch das Angebot gemacht, das Verfahren einzustellen, wenn ihr 10 bzw. Christof 20 Sozialarbeitsstunden ableistet.
Fr.: Ich nehme das Angebot unter Protest an, ohne Schuldeingeständnis.
Chr.: Ob ich weitere Tage oder Wochen in diesem lächerlichen Prozess investieren will, muss ich jetzt entscheiden.
GWR: Juristisch gesehen befindet sich Containern in einer Grauzone, aufgrund des nicht vorhandenen Warenwertes und aufgrund der Frage, ob der Supermarkt offiziell seinen Besitzanspruch aufgegeben hat, indem er die Lebensmittel in den Container wirft.
Chr: Uns wird vorgeworfen, Müll von Marktkauf gestohlen zu haben. Der hat aber keine Anzeige erstattet, also offensichtlich kein Interesse an einer Strafverfolgung. Diebstahl geringwertiger Sachen wird nach § 248 des Strafgesetzbuches (StGB) nur verfolgt, wenn Anzeige erstattet wird oder ein besonderes öffentliches Interesse vorliegt…
Fr: Wir haben erst nach sechs Stunden Verhandlung erfahren, dass in dem Vorwurf des Einbruchdiebstahls – wir sollen über einen Zaun, also eine sogenannte Umfriedung, geklettert sein – das „besondere öffentliche Interesse“ begründet lag. Wir haben uns selbst verteidigt, dabei wurden uns die Akteneinsicht sowie weitere prozessuale Rechte weitgehend verwehrt. So läuft kein fairer Prozess ab!
GWR: Ist euer Prozess ein Präzedenzfall? Gab es bisher schon einen vergleichbaren Prozess?
Fr: 2004 stand in Köln schon einmal eine Musikerin wegen „gemeinschaftlichen Diebstahls in einem besonders schweren Fall“ vor Gericht. Sie hatte mit ihrem Kumpel ein paar alte Brote und zwei abgelaufene Joghurts erbeutet. „Besonders schwer“ war der Fall, weil sie über einen Zaun geklettert war, was uns ja auch vorgeworfen wird. Allerdings hatte sie das Pech, dass die Filialleiterin des betroffenen Rewe-Marktes Anzeige erstattet hatte. Das Verfahren wurde eingestellt, aber die Frau musste 60 Stunden Sozialarbeit leisten.
Chr: Neu an unserem Fall ist eine Anzeige wegen Containerns, obwohl sich kein Mensch geschädigt fühlte, alle mir bekannten anderen derartigen Verfahren wurden bereits in den Ermittlungen eingestellt.
GWR: Ihr argumentiert, dass nicht die Verwendung abgelaufener Lebensmittel eine Straftat darstelle, sondern „der damit assoziierte weltweite Hunger das eigentliche Verbrechen“ sei und dass das „besondere öffentliche Interesse“ nur darin bestehen könne, die Lebensmittelvernichtung sofort zu stoppen.
Chr: Es ist pervers, was für ein enormer Aufwand betrieben wird, um Lebensmittel zu produzieren, die nachher im Müll landen. CO2-Emissionen, gewaltiger Flächenverbrauch und vieles mehr. Dass ich dadurch umsonst an gute Lebensmittel komme, ist die andere Seite – so kann ich meine Alltagshandlungen mit politischen Inhalten verknüpfen.
Fr: Die reichen Länder entziehen durch ihr profitgieriges Verhalten den Menschen in den armen Ländern die Möglichkeit, sich selbst zu versorgen. EU-Agrarsubventionen führen dazu, dass die z.B. in Afrika angebauten Lebensmittel dort teurer sind als das, was aus den EU-Ländern importiert wird. Und als Lösung für die Armuts- und Hungerproblematik wird z.B. die Agrogentechnik präsentiert, die niemandem nützt, außer den Konzernen selbst. Wir brauchen keine neuen Technologien.
Mit nur einem Drittel der Menge an Lebensmitteln, die in Europa und den USA weggeworfen werden, könnte man den Welthunger besiegen.
GWR: Ihr habt in der Innenstadt von Döbeln Mars-TV gespielt. Die Marsbewohner wundern sich, was die Erdlinge hier so treiben…
Fr: Der entsprechend verkleidete Reporter vom Mars hat Passantinnen und Passanten, die Zeit und Lust hatten, sich einzulassen, gefragt: „Wir haben die Information, dass ein Drittel bis die Hälfte aller Lebensmittel weggeschmissen werden, bevor sie auf den Tisch landen. Können Sie uns erklären, warum? Bei uns auf dem Mars werden Lebensmittel gegessen und nicht in den Müll geschmissen.“
Chr: Und dann ging’s weiter: „Heute sollen hier am Amtsgericht Menschen verurteilt werden, weil sie noch genießbare Lebensmittel wieder aus dem Müll herausgeholt haben sollen und an deren Strafverfolgung wohl ein besonderes öffentliches Interesse besteht.
Was sagen Sie dazu?“
GWR: Wie war die Reaktion der Passantinnen und Passanten?
Chr: Fast alle waren empört, als sie erfuhren, wie viele Lebensmittel und damit Ressourcen täglich verschwendet werden. Ein paar ältere Döbelner kamen dann auch zum Prozess und sind teilweise bis zum Schluss geblieben. Der Gerichtssaal war voll, einige der Freunde und Sympathisanten mussten vor der Tür warten.
Fr: Mittlerweile hat auch ein Landtagsabgeordneter, Falk Neubert von den Linken, eine Kleine Anfrage an den sächsischen Landtag gestellt, in der u.a. gefragt wird, aus welchen Gründen die Staatsanwaltschaft in unserem Fall ein besonderes öffentliches Interesse formuliert, warum wir keine umfassende Einsicht in die Prozessakten erhalten haben und welcher Schaden durch die Entnahme der Lebensmittel aus dem Müllcontainer entstanden sei.
GWR: Was macht ihr beruflich? Wie sieht eure Lebensphilosophie im weitesten Sinne aus?
Chr.: Das wenige Geld, das ich brauche, verdiene ich mit Jonglier- und Artistikauftritten oder Workshops. Durch die daraus entstehende Freiheit habe ich genug Zeit, mich politisch zu engagieren.
Fr: Ich komme aus einem bürgerlichen Leben, habe Molekularbiologie studiert. Nach drei Jahren Arbeit in der Pharmaindustrie mache ich jetzt das, was ich für sinnvoll empfinde. Ich möchte einfach selbstbestimmter leben. Gelegenheitsjobs wie z.B. Kinderbetreuung helfen mir dabei genauso wie meine Rockband, wo ich Gitarre spiele und in die ich viel Zeit investiere. Das alles ist Teil meiner Neuorientierung.
GWR: Empfindet ihr euer Leben gegen den Strom als anstrengend?
Chr.: Immer mehr Menschen merken, dass vieles grundsätzlich schief läuft. Sie suchen sich ihre Lücken, gehen nicht mehr zu Wahlen etc., auch wenn sie es nicht politisch begründen. Dass diese Leute mehr werden, wie in Stuttgart aufstehen und sich wehren, ist meine große Hoffnung.
Fr.: Die Sorge, dass unsere Gesellschaft immer autoritärer wird, ist natürlich da, was relativ schnell auch existenzielle Fragen mit sich bringt.
Das macht das Leben sicher nicht einfacher im Vergleich zu einem angepassteren Leben.
Andererseits ist der Gewinn an Freiheit dafür umso größer, wenn ich nicht gezwungen bin, mich jeden Tag acht Stunden in ein Büro einsperren zu lassen oder sonstige Dinge zu tun, die ich für sinnlos oder schädlich halte.